
Frieden gibt es am Ende des Romans von Jakob Hein nicht, Freude und Eierkuchen hingegen schon. Grischa Tannbergs verwegene Idee löst trotz der weißen Friedenstaube auf dem Cover eben nicht einmal beinahe das von vielen ersehnte weltweite, dauerhafte Schweigen der Waffen aus. »Kunstvolles Warten« ist angesagt, ebenjene Disziplin, die der Leser bereits früh im Roman kennenlernt.
Die Handlung setzt mit dem Dienstantritt Grischas in der Staatlichen Planungskommission der DDR ein. Das ist jener Verwaltungsapparat, der für den Fünfjahresplan und damit die Ausrichtung der Planwirtschaft im real scheiternden Sozialismus zuständig war. Angeblich soll schon Georg Lichtenberg gewusst haben, dass Voraussagen schwierig seien, insbesondere wenn sie die Zukunft beträfen. Eine ganze Volkswirtschaft fünf Jahre im Voraus zu planen scheint schlichtweg größenwahnsinnig.
Auf Grischa wartet ein Arbeitsplatz, bei dem die große Herausforderung in jenem »kunstvollen Warten« besteht. Er ist für die »kleineren Bruderländer« der DDR zuständig, genauer gesagt für die DR Afghanistan. Drei Jahre zuvor waren sowjetische Truppen in das zentralasiatische Land einmarschiert, um das dortige kommunistische Regime unter Babrak Karmal vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Diese Abgründe werden im Buch nicht weiter erörtert. Für die Abteilung in der PlaKo, die sich um die freundschaftliche Zusammenarbeit mit diesem Bruderland kümmern soll, ist wichtiger, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afghanistan eine Einbahnstraße sind: Dort wird alles gebraucht, Fahrzeuge, Maschinen, Konsumgüter, Dünger, im Gegenzug hat das Land »nichts« zu bieten. Wie die DDR-Mark ist der Afghani nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt ist.
Das Zeug ist das reinste Devisengold, pro Gramm, das davon verloren geht, rollt hier ein Kopf.
Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste
Aus dem »nichts« wird bei näherem Hinsehen ein »fast nichts«, denn Afghanistan hat immerhin »Schlafmohn und Cannabis« für den unersättlichen und zahlungskräftigen Weltmarkt zu bieten. Problematische Substanzen, ungeeignet für jede offizielle wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Afghanistan und DDR. Das sozialistische Werktätigenparadies hat laut eigenem Bekunden keinerlei Probleme mit Drogentoten (wie auch nicht mit Nazis), der Handel mit verfemten Mittelchen verbietet sich also.
Oder vielleicht doch nicht? Der Boden ist bestellt für eine groteske, aberwitzige und furchtbar komische Unternehmung, in deren Mittelpunkt ebenjenes Cannabis steht. Die Friedenstaube auf dem Cover trägt die Pflanze nicht umsonst sehr dekorativ im Schnabel. Wie immer überlebt der Plan nicht die erste Gefechts- respektive Realitätsberührung, am Ende steht kein Frieden, aber ein veritabler, rauschhafter Milliardenkredit aus dem Westen für die dem Bankrott entgegentaumelnde DDR.
Zeitgenossen hätten den Einschlag eines Kometen oder von Thors mythischem Hammer Mjöllnir kaum mit weniger Erstaunen aufgenommen, wie die Nachricht von der Offerte eines derart hohen Kredites für den ideologischen Feind jenseits des Eisernen Vorhangs – ausgerechnet durch den erklärten Kommunistenfresser Franz Joseph Strauß, für den die so genannte Entspannungspolitik der Sozialdemokraten ein blutrotes Tuch war.
»Was? Der Strauß?«, fragte Grischa.
Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste
Die Frage nach dem Motiv für diese merkwürdige Tat ist eine Leerstelle, ein gefundenes Fressen für Autor Jakob Hein und seine Leser. Er lässt Grischa ans Werk gehen. Zum Entsetzen seines Vorgesetzten ist der eifrige Jung-Aktivist nicht mit »kunstvollem Warten« zufrieden, sondern recherchiert, überdenkt und entwickelt eine tatsächlich verwegene Idee, um den Handel mit Afghanistan in Schwung zu bringen.
Medizinalhanf heißt das Mittel, das kaum weniger als ein Wunder vollbringen soll: den Bauern im Bruderland Afghanistan ein geregeltes Einkommen bieten und der DDR dringend benötigte Devisen beschaffen. Im Gegensatz zu Heroin oder Kokain rangiert Cannabis in den Amtsstuben des Sozialismus auf dem Niveau von Alltagsdrogen á la Alkohol und Tabak. Man kann es also an der Grenze an Westler verticken. Das Drama nimmt seinen Verlauf, ein Wind des Wandels weht durch einen Grenzübergang und droht zu einem veritablen Sturm zu werden, der in Bayern auf einem verschwiegenen Bauernhof glücklich abgewendet wird.
Ist Jakob Heins Roman ein Märchen, geschichtsklitternd obendrein? Nein. Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste erzählt unter dem Deckmäntelchen grotesker Heiterkeit eine Geschichte von Subversion, er lässt seine Helden auf ihre Weise aus überkommenen, verkrusteten und gerontokratischen Zuständen ausbrechen. Vielleicht ist der Roman in diesem Sinne auch ein Handzettel für die nähere Zukunft?
Ganz großartig ist der Ansatz, den subversiven Impuls aus gutem Willen und staatskonformen Handeln mitten aus dem Herzstück des Staates DDR heraus entstehen zu lassen. Der aufgeplusterte Sozialismus entpuppt sich als völlig ruchlos nach dem Rettungsanker westlicher Devisen grabschender Moloch, der alle Werte längst verraten hat. Enttarnt wird er ausgerechnet durch einen, der an die Ideale geglaubt hat – oder hätte glauben können – und mit naivem Gutwillen die lächelnde Maske vom monströsen Antlitz reißt.
[Rezensionsexemplar]
Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste
Galiani, Berlin 2025
Gebunden, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86971-316-8
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