Ein Meer von Gesindel
An diesem Morgen schien jeder Bürger Londons in einer
dringenden Angelegenheit auf dem Weg zum Hafen zu sein.
Hunderte drängten sich in den engen Gassen, machten Un-
geduld und Ärger mit Verwünschungen und Flüchen Luft,
während sie sich Schritt für Schritt voranschoben.
In dem nicht abreißenden Menschenstrom steckte
ihre Kutsche nun endgültig fest. Das Schicksal teilten alle
Pferdewagen, Karren und Fuhrwerke, gleichgültig, ob sie
Passagiere oder Fracht transportierten, ob ihre Kutscher
schicksalsergeben vor sich hin stierten oder schimpfend die
Peitsche über den Köpfen der Menge pfeifen und knallen
ließen. In dem ohrenbetäubenden Gelärm ging das ohne-
hin unter.
Joshua spähte an den geschlossenen Vorhängen vorbei
nach draußen. Eine Vielzahl von grauen Gesichtern zog
vorüber, sie lagen noch unter dem Schleier der Morgen-
dämmerung. Die Sonne hatte den Horizont zwar über-
schritten, doch Licht und Wärme würden erst in einigen
Stunden diese frühlingskühle Gasse erreichen.
»Dann gehen wir eben zu Fuß weiter!«
Joshua fuhr zusammen. Gerade hatte ihn wieder einmal
jemand im Vorübergehen mit offener Feindseligkeit ange-
starrt und etwas gerufen, was glücklicherweise vom Lärm
verschluckt wurde. Selbst die deftigen Schimpftiraden
ihres Kutschers drangen nur bruchstückhaft zu ihnen in die
Kabine, wo dumpfes Schweigen herrschte, seit sie auf-
gebrochen waren.
Die immer ungeduldiger auf die Bank trommelnden
Finger von Joshuas Onkel William und dessen mühsam be-
herrschte Miene sprachen Bände. So lange sie wenigstens
noch ab und zu einige Meter vorangeruckelt waren, hatten
sich seine Gesichtszüge kurzzeitig wieder entspannt; nun
aber riss Williams Geduldsfaden.
Er ließ den goldenen Knauf seines Spazierstocks in die
Höhe fahren und stieß ihn mehrfach mit Wucht gegen
das Dach. Augenblicklich öffnete sich eine kleine Klappe,
durch die ein Augenpaar zu ihnen hineinspähte.
»Wir steigen hier aus. Bringt unser Gepäck zum Schiff«,
blaffte William.
»Aye!«
Joshuas Onkel hob die buschigen Brauen und verdrehte
die Augen. Der Kutscher war sein halbes Leben zur See
gefahren und ließ sich von ihm weder durch gutes Zureden
noch Drohungen davon abbringen, jede Anweisung mit
einem »Aye« zu quittieren.
»Fehlt nur noch, dass er mich Kapitän nennt.«
»Das wäre doch ganz passend. Dieses Gefährt schwankt
schließlich wie ein Schiff in einem Meer von Gesindel«,
mischte sich nun Mrs. Norway ein. Die Stimme von Joshuas
Gouvernante war von schneidender Schärfe, ihre Lippen
umspielte ein fadenscheiniges Lächeln, in ihren Augen
blitzte Missbilligung.
Williams Gesicht verdüsterte sich augenblicklich, Joshua
ahnte, dass ihm eine bissige Antwort auf der Zunge lag.
Vielleicht bereute sein Onkel in diesem Moment, die Witwe
eines Freundes und Regimentskameraden wie ein Familien-
mitglied in seinen Haushalt aufgenommen zu haben. Dank-
barkeit oder gar Unterwürfigkeit zeigte Mrs. Norway nicht,
insbesondere, wenn es um ihren Schützling ging. Glücklicher-
weise beließ William es bei einem unwilligen Brummen.
Joshua schaute wieder hinaus, wo das Heer namenloser
Gesichter an ihrer Kutsche vorüberzog. Er sollte nun mitten
hinein in diese Menge treten, die feindselig wirkte und
tückisch wie die See. Er spürte, wie sich sein Magen zusammen-
zog, und verwünschte die vielen Menschen, die
sich hier drängten. Ohne sie hätte ihre Kutsche längst den
Kai erreicht.
Er fürchtete seit einiger Zeit, ihr Schiff könnte ohne sie
ablegen. Was wäre das für ein peinlicher Moment, wenn sie
mit ihren Dienern samt Gepäck am Kai stünden und der
davongleitenden Sturmvogel hinterherstarrten. Allein der
Gedanke an die vielen hämischen Blicke ließ seine Haut
jucken.
Und doch wünschte sich ein Teil von ihm nichts sehn-
licher, als dass sie das Schiff verpassten und er bleiben
könnte. Offen konnte er das nicht zugeben, schon gar nicht
gegenüber Mrs. Norway.
William musterte seinen Neffen.
»Du musst dir keine Sorgen machen, Joshua, dass wir die
Abfahrt der Sturmvogel verpassen. Wir haben noch Zeit.«
Er lächelte ein wenig bemüht. »Wir können uns auf dem
Weg zum Kai ein wenig die Beine vertreten und etwas frische
Luft schnappen.«
Joshuas Versuch zu lächeln, kam über ein hilfloses Zucken
seiner Mundwinkel nicht hinaus. Da draußen würde man
ihnen gegen die Beine treten und auf die Füße.
Mrs. Norways Gesicht verfinsterte sich. Sie hatte ihr rotblondes
Haar in einem strengen Dutt gebändigt, auf dem ein
zartes Hütchen thronte, das nun bedenklich in Wanken geriet.
»Ich halte es nicht für ratsam, dass sich der Junge unter
dieses Volk mischt«, schnappte sie und funkelte William an.
Auf dessen Gesicht breitete sich beängstigend schnell ein
tiefer Rotton aus.
»Alles ist besser als hier herumzusitzen«, entgegnete er
heftig. »Wir haben noch genügend Zeit, wenn wir uns jetzt
auf den Weg machen. Wenn wir hier einfach abwarten, ver-
passen wir am Ende wirklich noch das Schiff.«
»Was nicht so tragisch wäre«, konterte Mrs. Norway.
Bitte nicht, dachte Joshua matt, er hatte genug von den
nicht enden wollenden Streits. Ihnen zu entkommen, war
einer der wenigen Gründe, sich auf die bevorstehende Reise
zu freuen.
Mrs. Norway hatte sich mit aller Macht gegen Williams
Absicht gestemmt, mit seinem Neffen nach Boston überzu-
siedeln. Wochenlang herrschte in Williams Londoner Haus
eine Art feindseliger Waffenstillstand, der gelegentlich von
kurzen, aber heftigen Wortgefechten unterbrochen wurde.
Am Ende setzte sich Williams Entschlossenheit durch, in
einer letzten pathetischen Geste verweigerte Mrs. Norway
schließlich eine gemeinsame Überfahrt.
Diese Ankündigung war für Joshua wie ein Schlag ins
Gesicht gewesen. Seine Gouvernante wich ihm selten von
der Seite und nun ließ sie ihn ohne ihre hütende Hand auf
die Reise in eine neue Welt ziehen.
William konnte seine Zufriedenheit nicht verbergen, es
schien, als wollte er Mrs. Norway während der Überfahrt
gar nicht dabeihaben. Sie war zutiefst gekränkt gewesen,
als sie begriff, dass sie ihm unwillentlich in die Karten ge-
spielt hatte.
Angesichts ihrer demütigenden Niederlage hatte sie sich
während der restlichen gemeinsamen Tage in London hinter
einer Mauer abweisenden Schweigens verborgen. Aus dieser
Festung unternahm sie nun einen letzten verzweifelten Aus-
fall.
»Wir haben das Thema erschöpfend besprochen, Mrs.
Norway.«
William erhob sich und warf die Tür schwungvoll auf, die
einem neben der Kutsche stehenden Mann in den Rücken
schlug. Der Getroffene stieß einen Schrei aus und fuhr herum.
»Hey! Was soll das?«
William stieg ungerührt aus. Er setzte in aller Ruhe
seinen Dreispitz auf und betrachtete den Fremden herab-
lassend, als handele es sich um einen aufdringlichen Bitt-
steller.
»Was soll das?«, wiederholte dieser und funkelte seinen
Kontrahenten herausfordernd an.
Um sie herum kam der vorwärtsdrängende Menschen-
strom zum Stehen, ein Publikum sammelte sich und musterte
beide mit erwartungsvollen Mienen.
Mrs. Norway gab einen unartikulierten Laut von sich,
den Joshua als schnippisches »Ich habe es ja gleich gesagt!«
auslegte.
William ließ sich nicht beirren und richtete die Spitze
seines Stocks auf sein Gegenüber.
»Pass das nächste Mal besser auf, wo du herumlungerst!«
Der Mann starrte William angriffslustig an, auf seiner
Stirn schwoll eine imposante Ader. Bevor er handgreiflich
werden konnte, traten der Kutscher und zwei Diener, die
hinten auf dem Wagen mitgefahren waren, neben William.
Angesichts der Übermacht verzichtete der Mann auf eine
Attacke und trat mit verbissener Miene den Rückzug an.
»Ich hole Verstärkung und dann machen wir dich fertig,
du Lackaffe!«, rief er aus sicherer Entfernung, ehe ihn die
Menge verschluckte.
»Na, dann hoffen wir, dass er und seine Freunde gute
Schwimmer sind«, meinte William trocken und wandte
sich seinem Neffen zu, der noch immer in der Kutsche saß
und wie gebannt die Auseinandersetzung verfolgt hatte.
»Komm, mein Junge, wir machen uns jetzt auf den Weg.«
Joshua erhob sich zögerlich und stieg aus. Mrs. Norway
verzichtete auf mahnende Ratschläge, ihre gewöhnlich
kühlen Augen schimmerten und ihre Mundwinkel zuckten.
Nach einer angemessenen Zeit, die unterstreichen würde,
wie sehr sie die Übersiedelung nach Amerika missbilligte,
würde sie ihnen nach Boston folgen.
Draußen sprach William mit dem Kutscher einige Worte,
dann gab er den anderen Bediensteten noch die Anwei-
sung, ein wenig auf Mrs. Norway zu warten, ehe sie ihnen
mit dem Gepäck folgten. Vielleicht würde sich Joshuas
Gouvernante doch noch durchringen, ihren Schützling am
Kai zu verabschieden. Wie es schien, rechnete William fest
damit, denn er verzichtete darauf, sich ordentlich von ihr
zu verabschieden.
Stattdessen legte er die Hand auf die Schulter seines Neffen
und zog ihn mit sich. Hastig wandte sich Joshua noch ein
letztes Mal um, Mrs. Norways dunkle Kleidung verschmolz
mit dem Halbdunkel der Kutsche, aus dem nur ihr Gesicht
blass schimmerte. Es wirkte starr wie eine Totenmaske.
Unvermittelt nahm Joshua die Menschenmasse gefangen.
Ständig rempelte ihn jemand an, schmächtig, wie er war,
strauchelte er fast jedes Mal. Zunächst bat er um Entschul-
digung, erntete aber nur gleichgültige, höhnische Blicke und
Tritte gegen die Beine.
»Lass dich nicht einschüchtern, mein Junge«, riet ihm
William mit munterer Stimme. Seine Wut war erstaunlich
schnell verflogen, mit gerecktem Kinn schritt er voran.
Leichter gesagt als getan, dachte Joshua, den zu allem
Überfluss noch die Furcht plagte, der Fremde, mit dem sich
William angelegt hatte, könnte seine Drohung wahr-
machen und in Begleitung einiger Schläger zurückkommen,
um sich an ihnen zu rächen.
Er straffte sich ein wenig, hob das Kinn und versuchte
die Brust herauszudrücken, um selbstbewusst zu wirken. Er
machte einen großen Schritt und trat prompt jemandem
auf den Fuß. Der fuhr herum, funkelte ihn böse an und beschimpfte
ihn, was weit weniger beeindruckend war als der
faulige Geruch, der seinem Mund entströmte.
Joshua fuhr zurück, drängte zur Seite, bloß weg von dem
Kerl. Prompt erhielt er den nächsten schmerzhafte Rempler
und verzichtete darauf, sich noch einmal aufzurichten. Seine
Umgebung hatte sich von seinem ersten Versuch herzlich
wenig beeindruckt gezeigt, also bemühte er sich, dicht hinter
seinem Onkel zu bleiben, ein kleines Schiff im Kielwasser
eines großen.
Doch wurde die Gasse, die zum Hafen führte, immer
enger, die Menschen bahnten sich rücksichtslos ihren Weg.
Der Gestank war ungeheuerlich! Ein stechender Geruch
von Schweiß und schmutziger Kleidung über Körpern, die
kaum sauberer waren, mischte sich mit Ausdünstungen von
Garküchen, Tierkadavern und Brackwasser.
In einem schmalen Durchgang sammelte sich der Brodem.
Joshua würgte und zog sein Schnupftuch hervor, das er
sich gegen die Nase presste. Kaum hatte er das getan,
spürte er einen Hieb in die rechte Seite und gleich darauf
einen weiteren in den Rücken.
»Feiner Pinkel!«
»Schnösel!«
»Hab mein Parfum vergessen.«
»Verzeiht, Euer Gnaden!«
Rasch ließ Joshua das Tuch wieder verschwinden und
schnappte mit offenem Mund nach Luft wie ein Fisch auf
dem Trockenen. Unbarmherzig wurde er vorangestoßen, er
fühlte sich, als würde er in einem reißenden Fluss treiben,
mühsam strampelnd, um nicht unterzugehen.
Auf der anderen Seite des Durchgangs mündete die
Gasse in einen weitläufigen Platz vor den Anlegern der
Schiffe. Dort herrschte ein noch größeres Durcheinander.
Scharen von Männern eilten zwischen Kutschen und Karren
scheinbar sinn- und ziellos hin und her. Fliegende Händler
boten lautstark ihre Waren feil, grell geschminkte Frauen
hoben ihre Röcke bis über die bestrumpften Knie und
Bettler streckten ihre Hände aus, um Almosen zu erbitten.
Ihre flehentlichen Worte versanken ungehört in den Wogen
aus Lärm.
Eine Gruppe Sklaven mit schweren Eisenketten um
Hals, Hand- und Fußgelenke stand zitternd inmitten des
wirbelnden Getöses, die Rücken nach außen gewandt, als
würden sie sich vor den Zudringlichkeiten der ihnen frem-
den Welt schützen wollen. Auf ihrer Haut konnte man die
Narben sehen, die Peitschen- und Stockhiebe hinterlassen
hatten.
Joshua schaute schnell zur Seite, er war plötzlich sehr
froh über das ungeheure Durcheinander um ihn herum.
»Komm, weiter«, sagte William.
Joshua warf einen letzten Blick zu den Sklaven und folgte
eilig seinem Onkel.
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