Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Attentat

Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt

Ein sehr abwechslungsreicher und unterhaltender Roman aus den Niederlanden, der sich dem Thema Massentourismus gekonnt widmet. Cover Elsinor Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Man stelle sich den Bürger von Amsterdam als Frosch in einem Topf vor, in dem Wasser langsam erhitzt wird. Die Hitze steht für den Massentourismus. Einige Zeit merkt der Bürgerfrosch gar nicht, wie sich sein Leben verändert. Die Corona-Pandemie aber unterbricht den Prozess, sie nimmt den Frosch für einige Zeit aus dem Topf. Nach der Corona-Auszeit bzw. der Rückkehr in das sich weiter erhitzende Wasser folgt aber die brutale Erkenntnis, wie es um die Existenz des Froschbürgers inmitten der massentouristischen Lebenswelt tatsächlich bestellt ist.

An diesem Bild, das der niederländische Autor Ries Rowaan in seinem Roman Amsterdam, verlorene Stadt, verwendet, haben mir mehrere Dinge gefallen. Das sich immer stärker erhitzende Wasser, das dem Frosch sein Lebensgrundlage entzieht; die Eigenheit des Menschen, Entwicklungen zu ignorieren und sich so anzupassen, dass der Ursprung der Veränderung vergessen wird; schließlich Corona als Katalysator, Brandbeschleuniger für Erkenntnis und Radikalisierung.

Diese neue Welt machte Jan wütend und traurig zugleich, doch eigentlich vor allem wütend, rasend, furchsteufelswild.

Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt

Wer sich mit sozialkritischen Themen im Rahmen eines Erzählwerkes auseinandersetzt, läuft immer Gefahr, sich vom Thema so überwältigen zu lassen, dass es zu einer essayistischen Streitschrift wird. Der kubanische Autor Leonardo Padura hat das einmal so formuliert, dass Literatur, die sich auf das Feld der Politik begebe, drohe, von dieser verschlungen zu werden. Massentourismus ist so ein Thema, Ries Rowaan begegnet diesem mit schwarzem Humor, einer Prise Thriller, viel Sarkasmus und Spott sowie einem ausgefallenen Erzählansatz: Der Erzähler weilt nämlich bereits im Jenseits.

Eine Explosion hat Leo aus dem Leben gerissen, die Beschreibung der Umstände ist großartig; zunächst begreift er gar nicht, was passiert ist. Er schildert die Verwüstungen im Gefolge einer Detonation und bleibt auch bei der Beschreibung der eigenen Verletzungen kühl und sachlich. Dabei handelt es sich um einen dramatischen Moment.

Aufgenommen in Venedig, im Mai 2022. Die Stadt war überraschend leer, Asien noch im Lockdown, in Europa war Corona aber vorüber, eine Situation, wie sie Roowaan auch in seinem Roman für Amsterdam beschreibt.

Wie sich zeigt, war die Detonation Teil eines Terroranschlags: Zwei Bomben und zwei Selbstmordattentäter haben viele Menschen aus dem Leben gerissen. Es handelt sich um einen der größten Anschläge in Europa. Der dabei zu Tode gekommene Leo stellt kritische Fragen, etwa hinsichtlich der Neigung staatlicher Stellen, Täter als psychisch labile Einzelakteure zu verharmlosen.

Die Erzählung soll eine Richtigstellung sein, denn das Attentat berührt auch Leos Umfeld: Sein bester Freund Jan ist nach der Tat verhaftet worden. Er ist der Bürgerfrosch im Topf, der an den Zuständen in Amsterdam fürchterlich leidet und – wie das Zitat weiter oben zeigt – radikale Schlüsse zieht. Er hätte also ein Tatmotiv, trotzdem wird er zu Unrecht verdächtigt, wie Leo findet.

Die Schädeldecke war weggerissen, und ein Teil dessen, was sie hatte schützen sollen, lag auf der Straße. Offenbar braucht der Mensch also kein Gehirn, um denken zu können.

Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt

Die Situation an sich ist mehr als grotesk. Touristen, die Amsterdam wie ein echter Amsterdamer erleben wollen und zum Fahrrad greifen, auch wenn sie gar nicht fahren können. Der »Fahrradtourist« ist mit seinem bizarren Verhalten eher ein Fahrradclown, ein gefährdeter Gefährder, wenn schon der Versuch, auf den Drahtesel zu steigen, misslingt.

Diejenigen, die immerhin wissen, wie man fährt, sind nicht besser. Weidlich nutzt der Autor die Gelegenheit, die nationalen Eigenheiten mit genüsslichem Spott auszubreiten. Italiener mäanderten lautstark redend über die Radwege und neigten zu jähen Richtungsänderungen, Deutsche hielten sich an die Regeln, führen jedoch zu schnell, während die Amerikaner gemächlich vor sich hin strampelten und die Franzosen im Pulk unterwegs seien. Das mit dem Smartphone selbstgedrehte Video der Tour hat einen dramatisch höheren Stellenwert als Verkehrssicherheit.

Der Autor nutzt das für eine boshafte Abrechnung, geht jedoch darüber hinaus. Mit Leo Hogeler, einem passionierten Klavierlehrer und Verführer, hat Rowaan eine interessante Figur geschaffen, dessen Handlungsweise immer wieder überrascht. Seine Freundschaft zu Jan Janssen, den er als »Familienvater« bezeichnet, bildet das Fundament für die Erzählung vom Wandel, der aus Amsterdam eine lebensunwerte Stadt werden lässt. Janssen, verheiratet, Haus, Kinder, droht inmitten der touristischen Springflut unterzugehen.

Hier berührt Rowaan ein Motiv, das ich bereits in einem anderen, ganz vorzüglichen Roman (Grand Hotel Europa) kennengelernt habe: der nach vorgeblich authentischen Erfahrungen suchende Reisende, der sich vom gewöhnlichen Touristen abzuheben versucht. Dabei übersieht dieser, wie absurd sein Vorhaben ist. Man ist immer Eindringling – wie der Autor anhand der spezifischen Fahrrand-Sozialisierungen ganz wunderbar gezeigt hat.

Sie wollen der örtlichen Bevölkerung so nahe wie möglich auf den Pelz rücken – der damit allerdings in keiner Weise gedient ist.

Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt

Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Massentourismus durch Amsterdam – verlorene Stadt, die Erzählung ist jedoch auch eng verwoben mit dem originellen Lebenswandel des Erzählers und seines Freundes. Leo und Jan gehen auf grundverschiedenen Pfaden durchs Leben, hier sexueller Hedonismus in einem musikalischen Kokon ohne Ambition, dort pflichtfixierte Rechtschaffenheit in einem kleinbürgerlichen Leben, jedoch getrieben von einem authentischen Interesse an Tätigkeit und Beziehung.

Nach seinem allzu frühen Tod blickt Leo aus dem Jenseits auf sein Leben zurück. Eigentlich ist der Verstorbene für eine derartige Rückschau zu jung, was seinen Worten eine weitere besondere Note verleiht. Wehmütig-profane Dinge stehen neben klugen Beobachtungen.

Die 2020er Jahre werden manchmal unbedacht als neue Roaring Twenties verklärt, dabei gibt es beträchtliche Unterschiede zu den 1920er Jahren: Damals hatten nur sehr wenige Menschen genug Geld für Reisen in fremde Städte, hundert Jahre später sind Millionen dazu in der Lage und nutzen diese Freiheit vor allem zum Partymachen. Die Ausnahmen sind zu einer Flutwelle geworden, einer biblischen Plage gleich.

Der rechtschaffene Jan zieht daraus die Konsequenz, selbst keine City-Touren mehr zu unternehmen. Ein scharfer Kontrast zur Bigotterie mancher Amsterdamer, die über die Touristen in ihrer Heimatstadt herziehen, um im Ausland selbst »die Sau rauszulassen«. Und der Leser, der beifällig nickt, wird er für sein eigenes Leben eine Konsquenz ziehen? Wohl kaum.

Jans Bemühungen gehen sogar über den Selbstverzicht hinaus. Er glaubt, eine einfache Lösung für das Problem gefunden zu haben:

Worin bestand die Lösung? Ganz einfach: Amsterdam musste wieder gefährlicher werden.

Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt

Einfache Lösungen sind meist keine, im Gegenteil: Sie führen oft mitten in die Hölle. Schon auf den ersten eineinhalb Seiten erfährt der Leser von der monströsen Gewalttat, dem Anschlag inmitten der Stadt, durch den Leo aus dem Leben gerissen wird. Amsterdam ist also tatsächlich »gefährlicher« geworden. Was es mit dem Attentat auf sich hat und wie Jan darin verwickelt ist, wird hier jetzt nicht verraten, nur soviel: Auch in diesem Punkt steckt eine Warnung.

[Rezensionsexemplar]

Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt
Aus dem Niederländischen von Gerd Busse
Elsinor Verlag 2024
Klappenbroschur, 176 Seiten
ISBN 978-3-942788-83-0

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Die Hellsichtigkeit des Tagebuchschreibers Stresau ist frappierend, besonders, weil er seine Rückschlüsse auf der Basis von propagandatriefenden Presseberichten gezogen hat. Seine Äußerungen stellen einen Kontrapunkt zu dem dar, was an propagandistischem Getöse bis heute das Bild der Zeit prägt – etwa zur berühmt-berüchtigten Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels im Februar 1943. Cover Klett-Cotta, Bild mit Canva erstellt.

Ist es mutig oder töricht, Adolf Hitler in einem Tagebuch als »Oberidioten« zu bezeichnen? Hermann Stresau hat das getan, am 31.01.1944, dem Jahrestag der so genannten »Machtergreifung«. Als ich diese Passage las, war ich froh, dass niemand die Aufzeichnungen vorzeitig in die Finger bekommen hat, das hätte fatale Folgen für Stresau gehabt. Uns Nachgeborenen wäre ein kleiner Schatz entgangen, denn nicht anderes sich die Tagebücher Als lebe man nur unter Vorbehalt.

Der Autor Hermann Stresau eignet sich nicht als Heldenfigur des Widerstands, wie etwa Sophie Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Er ist konservativ, wenn die Rede auf die Rolle der Frau (»Weiber«) kommt, muss der moderne Leser tapfer sein; seine Haltung zur Weimarer Republik ist bestenfalls kühl, mit der Parteiendemokratie kann er so wenig anfangen wie mit linken Schriftstellern und dem Vertrag von Versailles.

Und doch hat er 1933 den Kotau gegenüber dem Regime verweigert, erhebliche wirtschaftliche Einbußen inkauf genommen, um sich eine innere Distanz zu wahren gegenüber dem Nazi-Regime. Das ist die Voraussetzung für seinen scharfen, analytischen und oft hellsichtigen Blick auf die Dinge, die schon seine Tagebücher 1933 – 1939 Von den Nazis trennt mich eine Welt auszeichnen. Den Kriegsausbruch 1939 hat er wenigstens befürchtet und doch ist er wie ein Hammerschlag auf ihn niedergegangen.

Morgens müssen wir uns eine Zentnerlast vom Herzen schieben, um aufstehen zu können. Wir erheben uns sonst immer frisch und munter um 6 Uhr, selten später, aber jetzt ist’s das Gegenteil: ein furchtbares Gefühl nach dem Erwachen, ein unbeschreibliches Grauen, ein Alpdruck, man möchte die Welt verfluchen. 05.09.1939

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Das bleibt der Grundtenor während der kommenden fünfeinhalb Jahre, bis das so genannte »Dritte Reich« im Mai 1945 in Schutt und Asche gesunken war und Millionen elendig verreckt, vertrieben oder versehrt waren. Selbst während der Phase, in der die Wehrmacht Sieg an Sieg reihte und auch Stresau mit einer militärischen Eroberung Englands oder der Niederwerfung der UdSSR rechnete, hat er sich von der Siegespropaganda nie anstecken lassen.

Das gehört zu den – ja – Ungeheuerlichkeiten der Tagebucheinträgen. Stresau hat von Anfang an gewusst, dass die USA (»Amerika«) den Ausschlag geben würde und ihm war klar, dass die Entscheidung nicht auf dem Schlachtfeld, sondern danach fallen würde. Frieden gibt es durch Verhandlungen – wohlgemerkt nach der militärischen Entscheidung – und er hat der Reichsführung um Adolf Hitler schlicht und ergreifend die Fähigkeit dazu abgesprochen.

Stresau hat sich von den militärischen Erfolgen beeindrucken, aber nicht blenden lassen; seine Erwartungen an die Wehrmacht waren zu hoch, aber selbst die höchsten Regierungsstellen in England (und den USA) haben es den deutschen Truppen zugetraut, die UdSSR niederzuwerfen und auch deshalb massive Unterstützung geliefert, ohne die die Rote Armee in noch größere Schwierigkeiten geraten wäre. Stresau befand sich also in guter Gesellschaft.

Es ist absolut faszinierend zu lesen, dass jemand derart unabhängig und zutreffende Einschätzungen treffen kann, wenn ihm nur das Propaganda-Geklingel der gleichgeschalteten Presse zur Verfügung steht. Der Schlüssel liegt im Nachdenken über das Geschriebene und Verschwiegene. Wenn berichtet wurde, dass sechzig feindliche Flieger abgeschossen wurden, hat Stresau daraus geschlossen, dass die Zahl der angreifenden Flugzeuge entsprechend hoch sein musste und auf dieser Basis auf die immense, ja übermächtige Leistungsfähigkeit der gegnerischen Wirtschaft rückgeschlossen. Hieß es im Wehrmachtsbericht »planmäßig«, übersetzte er das mit Verlangsamung, Stockung oder Stillstand der Vormarsches.

Lesen allein macht nicht klug, Nachdenken macht klug. Das zeigt sich auch an einer anderen Bemerkung, anlässlich der Feststellung Stresaus, die Zeitungsberichte und Haltung der Zeitgenossen wären unangemessen oberflächlich und unbekümmert. Der Tagebuchschreiber zeigt sich bestürzt darüber, wie Zivilisten begeistert über versenkte Schiffe nach Bombentreffern reden.

Aber wenn man sich da so in Norwegen vorstellt: ein Truppentransporter auf hoher See von schwersten Bombenkalibern getroffen, in Brand geraten, und man denkt an die Scenen, die sich dabei abspielen, und sieht dazu die vergnügten Gesichter auf der Straße – dann merkt man, in welcher Unwirklichkeit der Durchschnittsmensch lebt […], ohne zu spüren, daß dies alles des Teufels ist und vielleicht in einem allgemeinen Grauen enden wird. 30.04.1940

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Der alltäglichen Propaganda begegnet Stresau mit beißendem Spott, insbesondere den wissenschaftlich haarsträubenden, von den Nationalsozialisten zusammenphantasierten Germanenkult nimmt er genüsslich aufs Korn. Er würde gern wissen, warum alle kurze Haare trügen, denn als »alte Germanen müßten wir freien deutschen Männer nicht nur den Hut abnehmen, sondern auch die entsprechenden Locken ums arische Antlitz flattern lassen.«

Doch gibt es noch eine andere Ebene, die Stresaus Tagebücher wertvoll machen. Am 18. Februar 1943 hielt Joseph Goebbels im Sportpalast zu Berlin jene berühmte Rede, in der er die Frage in den Saal rief: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Der Saal echote stürmische Begeisterung, man kann es sich auf Youtube heute noch ansehen – die Propaganda (!), die bis heute unser Bild prägt.

Stresau charakterisiert ähnliche Reden als »fiebrig« und konstatiert nüchtern: »Im Volk doch starke Beunruhigung zu bemerken.« Dieser kühle Kontrapunkt ist gar nicht zu überschätzen. Éric Vuillard hat in seiner mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Schrift Die Tagesordnung nachdrücklich darauf verwiesen, wie sehr die Gegenwart von Propaganda-Bildern aus der NS-Zeit geprägt ist – ein giftiger Nachhall der Vergangenheit. Stresaus klärende Worte bilden eine Art Gegengift dazu.

Ich wünsche nicht, daß wir den Krieg verlieren. Ich wünsche eher, daß wir ihn gewinnen, uns jedenfalls behaupten, und uns unsere verrückt gewordenen Führerbande entledigen. 29.5.43

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Natürlich ist Stresau auch Kind seiner Zeit. Dem Rassenwahn der »Nasolisten« steht er ablehnend gegenüber, die »Rasse« ist für ihn aber eine gewöhnliche Denkkategorie. Man stehe mit Artverwandten (England und Amerika) im Krieg, während die Verbündeten (Italiener, Japaner) einem so fremd wären. Wenn sich Stresau über Juden abfällig äußert, dann nicht wegen der »Rasse«, sondern weil ihm an einer Einzelperson etwas Konkretes missfällt, etwa Stefan Zweigs Essay über Hölderlin.

Der nächste große Schock ist der Überfall auf die Sowjetunion, in mehrfacher Hinsicht. Der »Alpdruck« der sich anbahnenden Niederlage, weil Deutschland »alles über den Kopf wachsen« werde, weicht bis Kriegsende nicht, allen zwischenzeitlichen Erfolgen zum Trotz. Wie betäubt sei man, angesichts des ins Endlose sich dehnenden, den ganzen Erdball umspannenden Krieges, der nicht – wie von Hitler behauptet – 1941 enden werde, sondern »nach 10 Jahren vielleicht.«

Von den Kriegsverbrechen, dem Genozid, dem sich anbahnenden Holocaust und dem drakonischen Gebahren in den besetzen Gebieten weiß Stresau recht früh. Interessant sind seine Quellen. Ein Arzt berichtet ihm von einem Offizier, der wegen »Kopfschmerzen« behandelt werden will. Es stellt sich heraus: Dieser Offizier hat mehr als 800 Zivilisten, Frauen und Kinder erschossen – das halte er nicht mehr aus. Stresau weiß obendrein um den Hunger der ausgeplünderten Gebiete (auch im Westen), um die »renitente« Bevölkerung und die »Widerspenstigkeit der Besiegten« überall.

Die ›Freiheit‹, die wir bringen, wäre ihnen alles andere als erwünscht.« 6.7.41

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Spektakulär sind die Schlussfolgerungen, die Stresau daraus zieht, die wichtigste: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Anders als jene Zeitgenossen, die sich von den militärischen Erfolgen in dieser Zeit haben blenden lassen, wusste der Tagebuchschreiber ganz genau, dass selbst bei einem umfassenden Sieg der Wehrmacht der Krieg noch lange nicht siegreich beendet werden könnte – ein Frieden erschien ihm völlig unmöglich.

Doch selbst die militärischen Aussichten beurteilt er nüchtern. Angesichts der größten Kesselschlacht an der Ostfront mit gewaltigen Verlusten für den Gegner macht er eine einfache Rechnung auf: Die Rote Armee habe vier Millionen Mann verloren, blieben noch sechszehn Millionen, die Industrie wäre hinter dem Ural, und die Versenkung alliierter Handelsschiffe im Nordmeer bedeute eine auf massive materielle Unterstützung für die UdSSR. Mit einem Wort: militärisch sei noch lange nichts gewonnen.

Es ist angesichts der Traumtänzerei in den hohen Stäben von Militär und Verwaltung, der braunen Partei und ihren Organisationen, der Presse und Wirtschaft geradezu bestürzend, wie ein Einzelner auf der Basis kümmerlicher, propagandatriefender Informationen durch kluges Nachdenken realitätsnahe Schlussfolgerungen zieht. Vor allem ist ihm klar, dass ein »Sieg« keineswegs glanzvoll ausfallen würde, im Gegenteil.

Grete und ich waren heute zwei Juden begegnet, mit ›Sternchen‹, und hatten uns schämen müssen. Darauf die Frage: wozu das alles, Kriege, Staaten usw., dieser ganze furchtbare Unsinn, wenn das zu nichts führt als solchen Lumpereien. 19.10.41

Was diesem Krieg zur Zeit eine besondere Note gibt, sind die systematischen Judendeportationen mit dem ausgesprochenen Zweck der Vernichtung der Unglücklichen. 18.11.41

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Nach der Niederlage bei Stalingrad verändert sich alles. Die Stimmung in der Bevölkerung sinkt drastisch, die Versorgungslage wird schlechter, die Vernichtung der deutschen Städte durch den Bombenkrieg schreitet immer schneller voran, während die gesamte Bevölkerung begleitet von fanatischen Worten in den Dienst des längst verlorenen Krieges gepresst wird.

Stresau muss zwangsweise in einer Fabrik arbeiten. Seine Beobachtungen und Betrachtungen sind erhellend, denn auch hier klaffen Propaganda und Wirklichkeit weit auseinander. Die Produktion leidet unter vielerlei Dingen, Chaos, Materialmangel, unqualifizierten Arbeitern, dem Auftreten des Sicherheitspersonals, das die ausländischen Arbeiter drangsaliert, und den ständigen Alarmen, die jede Nachtruhe über Monate und Jahre unmöglich machen.

Man müsse gar keine Sabotage üben, konzediert der Tagebuchautor, das erledige sich ganz von allein. Doch ist Stresau keineswegs zum Spott zumute, er ist innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, das Desaster möge sich noch abwenden lassen und der Einsicht, dass Deutschland und Europa immer weiter in den Abgrund rutschen. Für eine Zukunft nach dem Kriegsende sieht er schwarz, rechnet mit Jahrzehnten bitterer Lebensverhältnisse.

Ein besonderer Wert der Tagebücher liegt darin, dass sie zeigen, wie sehr sich der Krieg in den Alltag hineindrängt, während sich die Menschen bemühen, ihn zu verdrängen. Die Fluchten sind vielfältig, Literatur, Musik, Gespräche, abendliche Runden mit kulturellen Gesprächen, Affären, Alkohol bieten immer wieder eine Möglichkeit, dem alltäglichen Grauen zu entfliehen, ohne ihm zu entkommen.

Manche Schilderung aus den letzten Kriegsmonaten ist haarsträubend, etwa von Göttingen aus den Rauchturm der im März 1945 zerstörten Stadt Hildesheim zu beobachten: eine »riesige Rauchwolke, wie von einem Vulkan«. Nach der Befreiung Tage später folgen peu á peu die Nachrichten von den NS-Gräueltaten, noch nicht von der Massenvernichtung im Osten, sondern aus dem KZ Sachsenhausen. Diese sind so schauerlich, dass selbst ein kluger, aufmerksamer Beobachter wie Hermann Stresau notiert: »Kaum glaublich, aber es muß wahr sein.«

[Rezensionsexemplar]

Die Tagebücher 1933 – 1939 habe ich auch besprochen:
Von den Nazis trennt mich eine Welt

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Klett-Cotta 2021
Gebunden 594 Seiten
ISBN 978-3-608-98472-9

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Manchmal kann ein Einzelner den Gang der Weltgeschichte verändern, Johann Georg Elser ist nur ganz knapp daran gescheitert. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Wie kann man über einen Menschen schreiben, der so verschwiegen war, wie Johann Georg Elser? Der Attentäter, der Hitler hätte bereits 1939 töten und den Gang der Weltgeschichte auf dramatische Weise ändern können, hat faktisch nichts Schriftliches hinterlassen. Wolfgang Benz wählt in seinem Buch Allein gegen Hitler den Weg, die historische Person in ihre Zeit einzubetten, die Äußerungen über Elser einzuordnen und seine Handlungen für ihn sprechen zu lassen.

Auf den ersten Blick könnte man Elser für ein Musterbeispiel des »Einsamen Wolfes« halten, ein klischeehaftes Bild, das ein ganz besonders ausgeprägtes Gefährdungspotenzial andeutet. Angesichts des nur um Haaresbreite gescheiterten Attentats scheint das nicht falsch zu sein. Auf den zweiten Blick entspricht die historische Person diesem Klischee aber nicht, wie sein Sozialleben in Vereinen, seine Musikalität, und auch die Liaisons mit Frauen belegen.

Die Quellenlage zu Elser ist extrem dürftig – gemessen an der historischen Zeit, in der Historiker eher mit einem Zuviel an Material zu kämpfen haben, und damit auch im Vergleich zu anderen Widerständlern, wie den Geschwistern Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Diese haben im Gegensatz zu Elser die Abgründe des Hitler-Regimes sehr viel später erkannt, dafür mehr von ihren Beweggründen überliefert.

Was Georg Elser zum Widerstand getrieben hatte, sein Aufbäumen gegen den Verlust aller Freiheit und Selbstbestimmung des mündigen Menschen, gegen die nationalsozialistische Usurpation der Gesellschaft hatte den Höhepunkt im Lagerdasein.

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Das beleuchtet einen ganz wichtigen – und für manchen vielleicht auch unheimlichen – Wesenszug von Elser, der tatsächlich ganz allein daranging, Adolf Hitler zu töten, bevor dieser die Welt vollständig in den blutigen Abgrund eines Zivilisationsbruchs stürzen konnte. Natürlich waren auch die anderen Widerständler in gewisser Hinsicht isoliert, sie hatten aber einen Kreis um sich, der einen gewissen Austausch ermöglichte. Elser blieb das verwehrt.

Man sollte sich vor Augen führen, was das für Elser bedeutete, wenn er etwa von Zweifeln geplagt wurde oder mit Hindernissen zu kämpfen hatte. Er hat sich diesen Herausforderungen allein stellen müssen und sie bewältigt. Benz unterstreicht dankenswerterweise, dass Elsers Vorgehen im Gegensatz zu dem der Militärs einwandfrei funktionierte: technisch, vom Timing, aber auch hinsichtlich der Sprengwirkung. Nur ein Zusammenspiel von Zufällen ließ das Attentat scheitern.

Natürlich tritt dem Leser kein Superheld entgegen, sondern eine vielschichtige und widersprüchliche Person. Benz beleuchtet die Grenzen Elsers, etwa sein für den Eigenschutz verheerendes Verhalten direkt vor und nach dem Attentat. Da seine Bombe über einen Zeitzünder wirkte, hätte er vorher fliehen oder sich verbergen, untertauchen können. Stattdessen ist Elser noch kurz zuvor in den Bürgerbräukeller zurückgekehrt, um sich zu vergewissern, dass die Apparatur auch funktionierte.

Das hat sie. Elsers Fluchtversuch endete hingegen in den Fängen der Behörden. Was dann geschah, ist einerseits erwartbar gewesen, andererseits in gewisser Hinsicht kurios und für die Herrschaft Hitlers bezeichnend; ja, ich würde sogar soweit gehen, dass sich darin bereits Spuren für den Untergang des gesamten NS-Systems und des von ihm durchdrungenen Reiches erkennen lassen. Elsers Tat ist entlarvend für die (Selbst-)Lügen des Hitlerismus gewesen.

Sein Attentat hat auch deswegen funktioniert, weil die Sicherheitsvorkehrungen infolge ideologischer Verblendung und Inkompetenz unzureichend gewesen sind. Im Nachgang wurden diese zwar verschärft, gleichzeitig aber die sachlich korrekten Ermittlungen zugunsten des NS-Weltbildes einem grotesken Phantom angepasst; ein Handlungsmuster, das bereits beim Reichstagsbrand 1933 eine Rolle spielte und für Deutschland bis 1945 prägend blieb.

Er sah früher als andere, besser gebildete und sonst besser situierte die Folge nationalsozialistischer Gewaltpolitik voraus, und er zog Konsequenzen aus dem, was er mit scharfem Verstand beobachtete und unbestechlich analysierte.

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Bedrückend, irritierend und lehrreich ist das Kapitel über die Zeit nach 1945. Die irrwitzigen Berichte über Johann Georg Elser, vorgebracht von Mithäftlingen wie Martin Niemöller oder dem englischen Agenten Best, die ihn gleichwohl niemals sprachen und bestenfalls zufällig sahen, sind atemberaubend. Das gilt auch für die schwurbelnden, raunenden Legenden, die seitens ehemaliger SS-Leute verbreitet wurden, aber auch für die abweisende Reaktion seines Umfeldes, auf Versuche, Elser als Person historiographisch oder journalistisch nachzuspüren.

Nach Elsers Tat sind Millionen Menschen gestorben, die bei einem Erfolg und Hitlers Tod vielleicht nicht hätten sterben müssen. Der Attentäter ist im Gegensatz zu Stauffenberg nach dem Krieg verkannt, verleumdet oder ignoriert worden. Möglicherweise ist seine mündige Tat manchem Nachgeborenen unangehörig gewesen, sicherlich hat die Propaganda der Nazis nachgewirkt. Es ist kein Zufall, dass Elsers Verhaftungsfoto die am meisten verbreitete Darstellung des Attentäters war, auf dem er einem aufgegriffenen Landstreicher glich.

Johann Georg Elser eignete sich nicht zum Helden, sein Aufbegehren passte nicht zum Nachkriegsdeutschland; erst spät ist er zur Lichtgestalt aufgestiegen. Dazu habe verschiedene Bücher und Filme beigetragen, etwa die Verfilmung durch und mit Klaus Maria Brandauer, der sich eine Reihe von Freiheiten gestattet hat, im Kern aber die Tat Elsers endlich in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und einen angemessenen Platz zugewiesen hat, wie Wolfgang Benz in seinem Buch aufzeigt.

»Zu Recht sehen die Nachgeborenen Georg Elser […] als besonders authentischen Widerstandskämpfer«, heißt es da am Ende, wenn die Person Elsers aus dem Schatten der Vergangenheit geholt wurde, soweit das angesichts der Grundlagen möglich ist. Daher wünscht man diesem Buch viele interessierte, kluge und nachdenkliche Leser.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler
Leben und Tat des Johann Georg Elser
C.H. Beck 2023
Gebunden 224 Seiten
ISBN: 978-3406800610

© 2024 Alexander Preuße

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