Ist es mutig oder töricht, Adolf Hitler in einem Tagebuch als »Oberidioten« zu bezeichnen? Hermann Stresau hat das getan, am 31.01.1944, dem Jahrestag der so genannten »Machtergreifung«. Als ich diese Passage las, war ich froh, dass niemand die Aufzeichnungen vorzeitig in die Finger bekommen hat, das hätte fatale Folgen für Stresau gehabt. Uns Nachgeborenen wäre ein kleiner Schatz entgangen, denn nicht anderes sich die Tagebücher Als lebe man nur unter Vorbehalt.
Der Autor Hermann Stresau eignet sich nicht als Heldenfigur des Widerstands, wie etwa Sophie Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Er ist konservativ, wenn die Rede auf die Rolle der Frau (»Weiber«) kommt, muss der moderne Leser tapfer sein; seine Haltung zur Weimarer Republik ist bestenfalls kühl, mit der Parteiendemokratie kann er so wenig anfangen wie mit linken Schriftstellern und dem Vertrag von Versailles.
Und doch hat er 1933 den Kotau gegenüber dem Regime verweigert, erhebliche wirtschaftliche Einbußen inkauf genommen, um sich eine innere Distanz zu wahren gegenüber dem Nazi-Regime. Das ist die Voraussetzung für seinen scharfen, analytischen und oft hellsichtigen Blick auf die Dinge, die schon seine Tagebücher 1933 – 1939 Von den Nazis trennt mich eine Welt auszeichnen. Den Kriegsausbruch 1939 hat er wenigstens befürchtet und doch ist er wie ein Hammerschlag auf ihn niedergegangen.
Morgens müssen wir uns eine Zentnerlast vom Herzen schieben, um aufstehen zu können. Wir erheben uns sonst immer frisch und munter um 6 Uhr, selten später, aber jetzt ist’s das Gegenteil: ein furchtbares Gefühl nach dem Erwachen, ein unbeschreibliches Grauen, ein Alpdruck, man möchte die Welt verfluchen. 05.09.1939
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Das bleibt der Grundtenor während der kommenden fünfeinhalb Jahre, bis das so genannte »Dritte Reich« im Mai 1945 in Schutt und Asche gesunken war und Millionen elendig verreckt, vertrieben oder versehrt waren. Selbst während der Phase, in der die Wehrmacht Sieg an Sieg reihte und auch Stresau mit einer militärischen Eroberung Englands oder der Niederwerfung der UdSSR rechnete, hat er sich von der Siegespropaganda nie anstecken lassen.
Das gehört zu den – ja – Ungeheuerlichkeiten der Tagebucheinträgen. Stresau hat von Anfang an gewusst, dass die USA (»Amerika«) den Ausschlag geben würde und ihm war klar, dass die Entscheidung nicht auf dem Schlachtfeld, sondern danach fallen würde. Frieden gibt es durch Verhandlungen – wohlgemerkt nach der militärischen Entscheidung – und er hat der Reichsführung um Adolf Hitler schlicht und ergreifend die Fähigkeit dazu abgesprochen.
Stresau hat sich von den militärischen Erfolgen beeindrucken, aber nicht blenden lassen; seine Erwartungen an die Wehrmacht waren zu hoch, aber selbst die höchsten Regierungsstellen in England (und den USA) haben es den deutschen Truppen zugetraut, die UdSSR niederzuwerfen und auch deshalb massive Unterstützung geliefert, ohne die die Rote Armee in noch größere Schwierigkeiten geraten wäre. Stresau befand sich also in guter Gesellschaft.
Es ist absolut faszinierend zu lesen, dass jemand derart unabhängig und zutreffende Einschätzungen treffen kann, wenn ihm nur das Propaganda-Geklingel der gleichgeschalteten Presse zur Verfügung steht. Der Schlüssel liegt im Nachdenken über das Geschriebene und Verschwiegene. Wenn berichtet wurde, dass sechzig feindliche Flieger abgeschossen wurden, hat Stresau daraus geschlossen, dass die Zahl der angreifenden Flugzeuge entsprechend hoch sein musste und auf dieser Basis auf die immense, ja übermächtige Leistungsfähigkeit der gegnerischen Wirtschaft rückgeschlossen. Hieß es im Wehrmachtsbericht »planmäßig«, übersetzte er das mit Verlangsamung, Stockung oder Stillstand der Vormarsches.
Lesen allein macht nicht klug, Nachdenken macht klug. Das zeigt sich auch an einer anderen Bemerkung, anlässlich der Feststellung Stresaus, die Zeitungsberichte und Haltung der Zeitgenossen wären unangemessen oberflächlich und unbekümmert. Der Tagebuchschreiber zeigt sich bestürzt darüber, wie Zivilisten begeistert über versenkte Schiffe nach Bombentreffern reden.
Aber wenn man sich da so in Norwegen vorstellt: ein Truppentransporter auf hoher See von schwersten Bombenkalibern getroffen, in Brand geraten, und man denkt an die Scenen, die sich dabei abspielen, und sieht dazu die vergnügten Gesichter auf der Straße – dann merkt man, in welcher Unwirklichkeit der Durchschnittsmensch lebt […], ohne zu spüren, daß dies alles des Teufels ist und vielleicht in einem allgemeinen Grauen enden wird. 30.04.1940
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Der alltäglichen Propaganda begegnet Stresau mit beißendem Spott, insbesondere den wissenschaftlich haarsträubenden, von den Nationalsozialisten zusammenphantasierten Germanenkult nimmt er genüsslich aufs Korn. Er würde gern wissen, warum alle kurze Haare trügen, denn als »alte Germanen müßten wir freien deutschen Männer nicht nur den Hut abnehmen, sondern auch die entsprechenden Locken ums arische Antlitz flattern lassen.«
Doch gibt es noch eine andere Ebene, die Stresaus Tagebücher wertvoll machen. Am 18. Februar 1943 hielt Joseph Goebbels im Sportpalast zu Berlin jene berühmte Rede, in der er die Frage in den Saal rief: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Der Saal echote stürmische Begeisterung, man kann es sich auf Youtube heute noch ansehen – die Propaganda (!), die bis heute unser Bild prägt.
Stresau charakterisiert ähnliche Reden als »fiebrig« und konstatiert nüchtern: »Im Volk doch starke Beunruhigung zu bemerken.« Dieser kühle Kontrapunkt ist gar nicht zu überschätzen. Éric Vuillard hat in seiner mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Schrift Die Tagesordnung nachdrücklich darauf verwiesen, wie sehr die Gegenwart von Propaganda-Bildern aus der NS-Zeit geprägt ist – ein giftiger Nachhall der Vergangenheit. Stresaus klärende Worte bilden eine Art Gegengift dazu.
Ich wünsche nicht, daß wir den Krieg verlieren. Ich wünsche eher, daß wir ihn gewinnen, uns jedenfalls behaupten, und uns unsere verrückt gewordenen Führerbande entledigen. 29.5.43
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Natürlich ist Stresau auch Kind seiner Zeit. Dem Rassenwahn der »Nasolisten« steht er ablehnend gegenüber, die »Rasse« ist für ihn aber eine gewöhnliche Denkkategorie. Man stehe mit Artverwandten (England und Amerika) im Krieg, während die Verbündeten (Italiener, Japaner) einem so fremd wären. Wenn sich Stresau über Juden abfällig äußert, dann nicht wegen der »Rasse«, sondern weil ihm an einer Einzelperson etwas Konkretes missfällt, etwa Stefan Zweigs Essay über Hölderlin.
Der nächste große Schock ist der Überfall auf die Sowjetunion, in mehrfacher Hinsicht. Der »Alpdruck« der sich anbahnenden Niederlage, weil Deutschland »alles über den Kopf wachsen« werde, weicht bis Kriegsende nicht, allen zwischenzeitlichen Erfolgen zum Trotz. Wie betäubt sei man, angesichts des ins Endlose sich dehnenden, den ganzen Erdball umspannenden Krieges, der nicht – wie von Hitler behauptet – 1941 enden werde, sondern »nach 10 Jahren vielleicht.«
Von den Kriegsverbrechen, dem Genozid, dem sich anbahnenden Holocaust und dem drakonischen Gebahren in den besetzen Gebieten weiß Stresau recht früh. Interessant sind seine Quellen. Ein Arzt berichtet ihm von einem Offizier, der wegen »Kopfschmerzen« behandelt werden will. Es stellt sich heraus: Dieser Offizier hat mehr als 800 Zivilisten, Frauen und Kinder erschossen – das halte er nicht mehr aus. Stresau weiß obendrein um den Hunger der ausgeplünderten Gebiete (auch im Westen), um die »renitente« Bevölkerung und die »Widerspenstigkeit der Besiegten« überall.
Die ›Freiheit‹, die wir bringen, wäre ihnen alles andere als erwünscht.« 6.7.41
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Spektakulär sind die Schlussfolgerungen, die Stresau daraus zieht, die wichtigste: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Anders als jene Zeitgenossen, die sich von den militärischen Erfolgen in dieser Zeit haben blenden lassen, wusste der Tagebuchschreiber ganz genau, dass selbst bei einem umfassenden Sieg der Wehrmacht der Krieg noch lange nicht siegreich beendet werden könnte – ein Frieden erschien ihm völlig unmöglich.
Doch selbst die militärischen Aussichten beurteilt er nüchtern. Angesichts der größten Kesselschlacht an der Ostfront mit gewaltigen Verlusten für den Gegner macht er eine einfache Rechnung auf: Die Rote Armee habe vier Millionen Mann verloren, blieben noch sechszehn Millionen, die Industrie wäre hinter dem Ural, und die Versenkung alliierter Handelsschiffe im Nordmeer bedeute eine auf massive materielle Unterstützung für die UdSSR. Mit einem Wort: militärisch sei noch lange nichts gewonnen.
Es ist angesichts der Traumtänzerei in den hohen Stäben von Militär und Verwaltung, der braunen Partei und ihren Organisationen, der Presse und Wirtschaft geradezu bestürzend, wie ein Einzelner auf der Basis kümmerlicher, propagandatriefender Informationen durch kluges Nachdenken realitätsnahe Schlussfolgerungen zieht. Vor allem ist ihm klar, dass ein »Sieg« keineswegs glanzvoll ausfallen würde, im Gegenteil.
Grete und ich waren heute zwei Juden begegnet, mit ›Sternchen‹, und hatten uns schämen müssen. Darauf die Frage: wozu das alles, Kriege, Staaten usw., dieser ganze furchtbare Unsinn, wenn das zu nichts führt als solchen Lumpereien. 19.10.41
Was diesem Krieg zur Zeit eine besondere Note gibt, sind die systematischen Judendeportationen mit dem ausgesprochenen Zweck der Vernichtung der Unglücklichen. 18.11.41
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Nach der Niederlage bei Stalingrad verändert sich alles. Die Stimmung in der Bevölkerung sinkt drastisch, die Versorgungslage wird schlechter, die Vernichtung der deutschen Städte durch den Bombenkrieg schreitet immer schneller voran, während die gesamte Bevölkerung begleitet von fanatischen Worten in den Dienst des längst verlorenen Krieges gepresst wird.
Stresau muss zwangsweise in einer Fabrik arbeiten. Seine Beobachtungen und Betrachtungen sind erhellend, denn auch hier klaffen Propaganda und Wirklichkeit weit auseinander. Die Produktion leidet unter vielerlei Dingen, Chaos, Materialmangel, unqualifizierten Arbeitern, dem Auftreten des Sicherheitspersonals, das die ausländischen Arbeiter drangsaliert, und den ständigen Alarmen, die jede Nachtruhe über Monate und Jahre unmöglich machen.
Man müsse gar keine Sabotage üben, konzediert der Tagebuchautor, das erledige sich ganz von allein. Doch ist Stresau keineswegs zum Spott zumute, er ist innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, das Desaster möge sich noch abwenden lassen und der Einsicht, dass Deutschland und Europa immer weiter in den Abgrund rutschen. Für eine Zukunft nach dem Kriegsende sieht er schwarz, rechnet mit Jahrzehnten bitterer Lebensverhältnisse.
Ein besonderer Wert der Tagebücher liegt darin, dass sie zeigen, wie sehr sich der Krieg in den Alltag hineindrängt, während sich die Menschen bemühen, ihn zu verdrängen. Die Fluchten sind vielfältig, Literatur, Musik, Gespräche, abendliche Runden mit kulturellen Gesprächen, Affären, Alkohol bieten immer wieder eine Möglichkeit, dem alltäglichen Grauen zu entfliehen, ohne ihm zu entkommen.
Manche Schilderung aus den letzten Kriegsmonaten ist haarsträubend, etwa von Göttingen aus den Rauchturm der im März 1945 zerstörten Stadt Hildesheim zu beobachten: eine »riesige Rauchwolke, wie von einem Vulkan«. Nach der Befreiung Tage später folgen peu á peu die Nachrichten von den NS-Gräueltaten, noch nicht von der Massenvernichtung im Osten, sondern aus dem KZ Sachsenhausen. Diese sind so schauerlich, dass selbst ein kluger, aufmerksamer Beobachter wie Hermann Stresau notiert: »Kaum glaublich, aber es muß wahr sein.«
[Rezensionsexemplar]
Die Tagebücher 1933 – 1939 habe ich auch besprochen:
Von den Nazis trennt mich eine Welt
Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Klett-Cotta 2021
Gebunden 594 Seiten
ISBN 978-3-608-98472-9
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