Zufällig habe ich im Buchladen das gerade erschienene Buch von Robert Habeck, Den Bach rauf, entdeckt und gekauft, um es noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl im Februar lesen und besprechen zu können. An meiner Wahlentscheidung wird es nichts mehr ändern, doch lasse ich mir gern die Welt erklären.
Der Zweite Weltkrieg beschäftigt mich seit meiner Jugend. Ich habe viele Bücher, Romane und Sachbücher, über die Kriegszeit gelesen. In meinem Regal warten allerdings noch zwölf Bände aus der Reihe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Es ist immer schwierig, für derart ausführliche Bücher die Zeit zu finden – also fange ich mit dem vorletzten (!) Teil an. Ich lese diesen auch nicht von vorn, sondern beginne mit dem Großangriff der Roten Armee im Osten am 12. Januar 1945. Warum? Weil ich gerade den brillanten RomanAlles umsonstvon Walter Kempowski gelesen habe, der genau zu dieser Zeit spielt.
Mit Leo Perutz geht es in die Endphase der Österreich-Ungarischen Monarchie. Ein Rachefeldzug wird in diesem Roman mit dem recht merkwürdigen Titel Wohin rollst du, Äpfelchen … erzählt. Klingt ausgesprochen interessant. Die beiden Bücher von Perutz, die ich bereits gelesen habe, waren großartig. Eine Kurzbesprechung von Der Meister des jüngsten Tageshabe ich auf diesem Blog veröffentlicht.
Auf die beiden Herren geht die Autorin in ihrem Buch auch ein, sie verbindet mehr als nur ein Handschlag. Cover Siedler Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Schon auf den ersten Seiten dieses Buches ist der Leser ein Stück klüger und orientierter. Anne Applebaum betont gleich zu Anfang von Achse der Autokraten, dass sich hartnäckig eine karikaturhafte Vorstellung vom Alleinherrscher an der Spitze eines autokratischen Staates hält. Putin, Ji, Lukaschenko, Erdogan, Trump – die Liste der gegenwärtigen Autokraten ist lang. Doch ein Autokrat allein macht keine Autokratie.
Autokratien sind Netzwerke mit kleptokratischem Geschäftsmodell, die sich auf einen vielschichtigen Apparat stützen: Armee, paramilitärische Verbände, Polizei und andere Sicherheitsorgane wie Geheimdienste, unterstützt von High-Tech- und IT-Experten, die sich um Propaganda und Desinformation kümmern. Die Netzwerke sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern mit Netzwerken anderer Länder verbunden. Das können auch Netzwerke in Demokratien sein, es müssen nicht einmal antidemokratische Parteien wie AfD oder BSW, Teile von Union und SPD gehören eben auch dazu.
Man unterstützt sich mit Ausrüstung, Ausbildung, Informationen; man nennt Ziele und hilft bei der Durchführung von Kampagnen; Medien und Trollfarmen werden dafür eingesetzt. Oder man sorgt für einen positiven Leumund, leistet Hilfestellung bei der Umgehung oder Aufweichung von Sanktionen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Autokraten und ihre demokratischen Satrapen sind oft superreiche Unternehmer. Es dürfte kein Zufall sein, dass superreich gewordene Entrepreneure nicht selten autokratische Affinitäten hegen.
Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Ideologie spielt anders als im 20. Jahrhundert für die Kooperation keine Rolle. Geld stinkt nicht, weder in der Geschäftswelt noch in der Welt der Autokraten. Machterhalt ist das primäre politische Ziel, die Untergrabung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung wäre andernfalls vielleicht auch gar nicht nötig. So aber gilt der freie Westen den Autokraten als Quelle für unerwünschte Inspiration für Widerstand gegen die alleinige, unkontrollierte Herrschaft.
Applebaum schildert auf schnörkellose und direkte Weite unsere Gegenwart, es geschieht seit Jahren und es geschieht jetzt. Einige Beispiele, Belarus und Venezuela, deren jüngste Geschichte skizziert werden, sind aus den Medien vertraut, die Akteure sind es ebenfalls. Doch geht die Autorin noch einen Schritt weiter und sagt mit einer Klarheit, die in oft verdruckst formulierenden Medien fehlt: Ohne die gegenseitige Unterstützung der Autokratien würde der Widerstand der eigenen Bevölkerung wohl ausreichen, um die alleinigen Herrscher zu stürzen.
Das ist ein Muster, was auch für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine greift. Allein wäre Russland vielleicht schon in die Knie gegangen. So löchrig die Sanktionen auch sein mögen, so zögerlich und unzureichend die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine auch ist, ohne die Hilfe anderer Autokratien, wäre Russlands Position sehr viel schwächer. Der Westen hilft der Ukraine also nicht nur gegen Russland, sondern gegen eine Achse der Autokraten.
Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Bedeutend ist die Erkenntnis, dass Autokratien nur mit Hilfe des Westens an die Macht gelangen und diese konsolidieren können. Es sind westliche Technologien und vor allem das lückenhafte Regelwerk, die den Antidemokraten helfen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch Geldwäsche, wäre die Macht von Autokraten wesentlich beschränkter, als sie es heute ist. Viele lassen sich einspannen, viele – nicht alle! – bezahlen, um Autokraten zu helfen.
Es sind nicht nur die autoritären Parteien, deren ideologische Zuschreibung als rechts oder links in diesem Punkt mehr verschleiert als erhellt; es sind nicht nur die Zuträger in anderen Parteien, die Einflussnehmer oder -agenten; es sind nicht nur die Interessenvertreter in Verbänden und Lobbyisten, die im Dienste der Putins, Mullahs und Xis stehen, sondern auch Anwälte, Banker, Gewerkschafter und Technologie-Oligarchen, die (fast) legal ihrer Tätigkeit nachgehen.
Hier sieht Applebaum auch einen Ansatzpunkt für die Wende im Kampf gegen die heraufziehende autokratische Dunkelheit: Regulierung. Die Autorin macht sich und ihren Lesern keine Illusionen. Das ist eine brutale Bergaufschlacht, deren Ausgang völlig ungewiss ist. In den USA weht der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Doch nicht nur dort ist der Widerstand gegen gesetzliche Regulierungen groß. Ein Beispiel wäre die Verwendung von Bargeld in Deutschland beim Immobilienkauf, eine offene Tür für Geldwäsche, deren Einschränkung von mächtigen und ruchlosen Zeitgenossen bekämpft wird.
Die moderne Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Gedanken und Praktiken ist keine direkte Fortsetzung dessen, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Zu den ganz besonders spannenden und ernüchternden Abschnitten gehört jener, der sich mit den Veränderungen autokratischer Herrschaft und Herrschaftssicherung befasst. Applebaum erklärt anhand mehrerer Beispiele, wie und was die Autokraten gelernt haben. Zumindest die Vorgänge in Hong-Kong dürften politisch Interessierte verfolgt haben. Die Aktivisten dort haben laut Applebaum sehr vieles richtig gemacht, vergangene Kampagnen studiert und an die lokale Lage angepasst. Sie haben auch gelernt – und sind krachend gescheitert.
Wenn man liest, wie es den Chinesen gelungen ist, die studentische Bewegung in Hong-Kong niederzuwerfen, wird es ungemütlich. Da ist zum einen der Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Glaube, die demokratische Regierungsform werden sich quasi von allein durchsetzen. Das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) hat sich als verhängnisvolle Illusion entpuppt, an der sich bis in die Gegenwart politische Parteien wie Teile der SPD klammern. Das Konzept »Handel durch Annäherung« oder später »Handel durch Wandel« ist mausetot, geistert aber als Wiedergänger durch die Berliner Korridore der Macht.
Das Beispiel Hong-Kong zeigt auch, wie sehr die Anhänger demokratischer Prinzipien die Lernfähigkeit der Autokraten und die Verlockung des Autoritären an sich unterschätzt haben. Die Autokraten sind überlegen. Sie nutzen die Möglichkeiten geschickter und ruchloser als westliche Demokraten. Ihre mediale Durchdringung Afrikas, des Mittleren Ostens, Südamerikas zum Zwecke von Propaganda, Desinformation und Destabilisierung ist mächtiger als der naive Glaube, mit seriösen Nachrichten allein werde man bestehen.
In unseren alten Modellen ist kein Platz für die Einsicht, dass mansche Menschen Desinformationen wollen. Sie finden Gefallen an Verschwörungstheorien und haben wenig Interesse an zuverlässigen Nachrichten.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Faktenchecks bringen nicht mehr viel, wenn eine Lüge in der Welt ist – was auch große, überregionale Medien, Tagezeitung und Öffentliche-Rechtliche-Medien nicht wahrhaben wollen. Sie lassen sich sogar ausnutzen, werden Plattformen, über die Propaganda in die Breite getragen und mit einem seriösen Anstrich versehen wird. Präventive Gegenkampagnen wären nötig, eine strategisch gezielte Medien-Öffentlichkeit (nicht gespiegelte Propaganda), die von den Menschen auch bezahlt und zur Kenntnis genommen werden kann, wären nötig.
Dem wirkungsvollsten Mittel, der Schmutzkampagne, wird man selbst damit nicht so einfach Herr. Es ist in Deutschland zu beobachten, wie selbst formal demokratische Politiker die Schmutzkampagne zur Bekämpfung des politischen Gegners benutzen, von den offen autoritären und antidemokratischen Parteien und Gruppierungen gar nicht zu reden. Eine Regulierung des wuchernden Lügen- und Desinformationsgeschwürs wird man allein deswegen nur sehr schwer durchsetzen können.
Applebaum weiß das auch. Daher klingt ihre Schrift auch sehr kämpferisch. Ähnliches kann man bei Über Freiheit von Timothy Snyder lesen. Beide beziehen sich übrigens auf Vláclav Havel und seinen Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben. Da die Gegner seit Havels Zeit gelernt haben, müssen die Freunde von Freiheit, Wahrheit und Demokratie auch lernen und neue Strategien entwickeln. Eine Bergaufschlacht, die nicht endet und deren Ausgang völlig ungewiss ist.
[Rezensionsexemplar]
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer Siedler Verlag 2024 Hardcover 208 Seiten ISBN: 978-3-8275-0176-9
Gefängnisse in den USA sind Teil der Unfreiheit, so Timothy Snyder in seinem ebenso bereichernden wie herausfordernden Buch, das dem Leser reichlich Anlass zum Nachdenken bietet. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.
Die Maschinen (d.h. Algorithmen) sperren uns in festere Schubladen: ethnische Herkunft, Geschlecht, Einkommen, Wohnort; sie definieren uns durch unsere wahrscheinlichsten Zustände, durch das, was wir online oder unter Überwachung tun, nicht durch das, was wir auf Berggipfeln oder unter Wasser oder bei lauter Musik oder in unseren Träumen tun.
Timothy Snyder: Über Freiheit
Es gibt Bücher, an denen führt kein Weg vorbei. Timothy Snyders Über Freiheit gehört für mich dazu. Seit der amerikanische Historiker sein Buch Bloodlands veröffentlicht hat, lasse ich mir gern vom ihm die Welt und seine Sicht darauf erklären. Bloodlands hat meine Perspektive auf Gegenwart und Geschichte derart nachhaltig und tiefgreifend verändert, wie es bei Büchern selten der Fall ist (Ganz normale Männer von Christopher Browning wäre ein anderes Beispiel), dass ich immer sehr gespannt bin, wenn etwas Neues von ihm veröffentlicht wird.
Über Freiheit wäre ein Buch, das man FDP-Anhängern ganz dringend zur Lektüre empfehlen würde. Deren immer und überall postuliertes »Freiheit« ist hohl wie eine leere Dose, reduziert auf Fingerhutgröße und wird dem Begriff nicht gerecht. Die formelhafte Aushöhlung des Wortes wird in Über Freiheit schön aufgezeigt. Wie umfassend und durchaus vielschichtig »Freiheit« ist, zeigt sich schon auf den ersten Seiten des Buches. Auch wird deutlich, dass Synder es sich und seinen Lesern nicht leicht machen will.
Grundsätzlich ist man gut beraten, bei allem Gedankengut, das aus den USA über den Atlantik herüberschwappt, der Verlockung zu widerstehen, das eins zu ein auf Deutschland und Europa zu übertragen. Ein herrliches Beispiel ist die These, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße. Selbst in den USA darf das bezweifelt werden, in Europa ist es schlichtweg falsch und zwar auf allen Bedeutungsebenen. Man braucht dazu nicht einmal den berüchtigten »Generalplan Ost« zu exhumieren, es reicht ein Blick auf das, was über die Ukraine und ihre Bewohner gesagt wird. Aus Russland, aber auch aus dem Westen, kommt eine Menge Rassismus, offenem und verdecktem.
Freiheit kann nicht gegeben werden. Sie ist kein Erbe. […] In dem Moment, in dem wir glauben, das Freiheit gegeben ist, ist sie weg.
Timothy Snyder: Über Freiheit
Diese Vorsicht ist auch für Über Freiheit von Timothy Snyder angebracht. Wenn dort beispielsweise etwas über das wirtschaftliche und soziale System gesagt wird, meint es vor allem das der USA, nicht aber das der Europäischen Union und erst recht nicht das einzelner europäischer Staaten mit ihren vielfältigen Eigenheiten. Selbstverständlich gibt es globale Einflüsse, die besonders von den USA beeinflusst werden. Trotzdem gibt es dramatische Unterschiede und die sollte man immer im Hinterkopf haben.
Man sollte sich also einerseits davor hüten, die Kritik unreflektiert zu übertragen, andererseits auch keine Kritik am Buch selbst üben, weil das der eigenen Sicht des spezifisch deutschen respektive europäischen Systems widerspricht. Sonst landet man zwangsläufig bei Plattitüden auf der Ebene von »Kapitalismuskritik« oder »Globalisierungskritik«. Man sollte das ernst nehmen, denn nicht umsonst sagt Snyder sagt selbst über sein Vorhaben:
Ich wurde gefragt, wie ein besseres Amerika aussehen könnte. Dies hier ist meine Antwort.
Timothy Snyder: Über Freiheit
Snyder beginnt sein Buch aber mit einer europäischen Perspektive. Das Vorwort von Über Freiheit ist im Zug von Kyjiw nach Westen geschrieben worden. Das ist in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig, denn in der Ukraine entscheidet sich tatsächlich das Schicksal der gesamten Welt für die kommenden Jahre, eventuell Jahrzehnte. Hält die Ukraine dem russländischen Angriffskrieg stand, hält vor allem der Westen dem seit Jahren von Russland geführten hybriden Krieg gegen sein demokratisches und offenes System stand, dann wird vielleicht Schlimmeres abgewendet werden können. Ein Angriff Chinas auf Taiwan etwa, dessen Folgen derart dramatisch sein würden, dass die Turbulenzen aus dem Krieg Russlands recht bescheiden erscheinen mögen.
In der Ukraine wurden von der russländischen Armee im Jahr 2022 Gebiete besetzt und im gleichen Jahr von ukrainischen Streitkräften »befreit«. Snyder erzählt von Marija, einer 85 Jahre alten Dame, die in einer Notunterkunft bei Psad-Pokrovske lebt, nachdem die Invasoren vertrieben wurden. Der Ort wurde befreit, sie wurde befreit – doch ist sie auch frei? Synder verneint. Er hält den Begriff »Befreiung« für irreführend, »Deokkupation«, wie ihn die Ukrainer gebrauchen, erscheint ihm passender. Denn so erst könnte man die Frage stellen, was eigentlich nötig ist, um »frei« zu sein. Konkret: Was fehlt Marija zur »Freiheit«?
Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.
Timothy Snyder: Über Freiheit
Snyders Mission ist, dem allzu oft gebrauchten, missbrauchten Wort »Freiheit« wieder Leben einzuhauchen, der bloßen Hülle ein Wesen zu geben. Er will den Begriff definieren. Seine amerikanischen (!) Landsleute gebrauchten den Begriff oft als Abwesenheit von etwas, von Besatzung, Unterdrückung, einer Regierung. Das nennt er »negative Freiheit«, der eine »positive Freiheit« gegenüberstellt. Das Begriffspaar wirkt zunächst schematisch und auch konturlos, die Beispiele aber, wie zum Beispiel Ukrainer Freiheit definieren, beinhalten allesamt etwas Positives.
In der Ukraine betrachten laut Snyder die Menschen Städte und Orte erst dann als befreit, wenn der Bahnverkehr wieder funktioniert. (Im Gegensatz sind die Ansiedlungen, die von russländischen Soldaten »befreit« wurden, zerstört.) Die Struktur ist also wiederhergestellt, doch muss sie erst gefüllt werden, um von Freiheit zu sprechen. Die Möglichkeit zur Mobilität ist ein zentraler Punkt für Freiheit, doch muss der Mensch sie auch selbst nutzen, um Freiheit zu erlangen. Sie ist weder einfach so da noch dauert sie an oder kann vererbt werden. Umgekehrt kann eine Voraussetzung für Freiheit bzw. Unfreiheit sehr wohl vererbt werden, Vermögen bzw. vererbte Armut.
Auf insgesamt sechs Feldern versucht sich Snyder dem Phänomen Freiheit anzunähern: Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität, Solidarität und Regierung. Die Auswahl überrascht vielleicht, damit hätte das Buch den Punkt der »Unberechenbarkeit« schon mal erfüllt. Doch das ist nur die Form, die grobe Struktur, die Snyder mit durchaus verblüffendem Inhalt füllt. Der Autor mutet seinen Lesern einiges zu, etwa die nicht ganz einfache Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib«, bei der er auf die deutsche Philosophin Edith Stein und die französische Philosophin Simone Weil zurückgreift. Er wendet sich Politik-Bereichen zu, die von Macho-Politikern gern als »Gedöns« abgetan wurden und werden.
Eine Gesellschaft, der die Freiheit am Herzen liegt, würde diese Menschen [Care-Tätigkeiten wie Erzieherinnen, Lehrer, Pflegerinnen] mit Respekt behandeln und sie ordentlich bezahlen.
Timothy Snyder: Über Freiheit
Für Snyder ist essentiell, dass Freiheit aus dem Menschen heraus erwächst und in die Welt hineinwirkt. Das Individuum ist dabei nie allein, isoliert, keine »Ich-AG«, sondern gerade in den ersten Lebensjahren auf andere zwingend angewiesen. Erst in der Verbindung zu anderen wird die Voraussetzung geschaffen, Freiheit und damit Autonomie entstehen zu lassen. Isolierte Kinder, wie sie die Realität tatsächlich kennt, können sich nicht entwickeln und auch nicht frei sein.
Snyders Ansatz ist auf den Menschen zugeschnitten und sehr persönlich ausgestaltet, zunächst spielen »große Politik« oder gar »Geopolitik« gar keine Rolle. Das politische System kommt dabei aber nicht zu kurz, wie der Rückgriff auf Václav Havel zeigt. Das Kapitel heißt »Unberechenbarkeit« und beschäftigt sich mit der Tyrannei durch Berechenbarkeit. Statt der bis 1968 bekannten brutalen Unterdrückung mit militärischen Mitteln setzten die Regime unter dem roten Banner des Kommunismus in der Zeit danach auf Bildschirme.
Wichtig ist dabei, dass diese Form der Unfreiheit nichts mehr mit der Ideologie von Marx, Engels, Lenin oder anderen kommunistischen Denkern zu tun hatte, sondern mit Breshnews Ziel, das seit 1945 bestehende Imperium zu erhalten. Die Bildschirme dienten demzufolge nicht dazu, sozialistische Ideen zu verbreiten, sondern die Konformitäts-Formeln zu streuen und den Zuschauern einzureden, es gäbe nur diese eine und sonst keine Form der politisch-sozialen Ordnung.
In den Führungszirkeln der Sowjetunion nach 1968 glaubte niemand mehr an Sozialismus, in den Rängen der Partei und ihrer Formationen sicher auch viele nicht. Lippenbekenntnisse statt Überzeugung dürften vielleicht auch für die Mehrheit der Menschen das Wesen ihres politischen Lebens gewesen sein. Allerdings hat Zustimmung und Nachbeten einen Haken, nämlich dass diese auf eine Form reduzierte, entleerte Normalität auf den Menschen rückkoppelt.
Sie [die Normalisierung] ist die Gewohnheit, das zu sagen (und dann zu denken), was notwendig erscheint, während man implizit (und dann explizit) übereinstimmt, dass nichts wirklich wichtig ist.
Timothy Snyder: Über Freiheit
Das ist frappierend. Wenn nichts wichtig ist, dann ist alles egal und implizit durch fehlende Werte auch erlaubt. Das ist der Kern der Putin-Propaganda, die im Grunde genommen keine echte Propaganda mehr ist, sondern eine Weiterentwicklung. »Alles ist Scheiße« steht am Ende einer immer widersprüchlicher, einander letztlich ausschließender Flut von Informations-Müll, der »Lügenkaskaden« (Anne Applebaum). Ohne jeden moralischen Maßstab lässt sich alles rechtfertigen, der Zwang zur Rechtfertigung entfällt.
Über die Bildschirme heute flimmern nicht nur die TV-Programme wie zur Zeit von Václav Havel, auf den Nutzer stürzt eine unüberschaubare, überwältigende Flut an Informationen ein. Zu allem Gesagten kommt noch die rein quantitative Überforderung hinzu, mit der Folge, dass viele Zeitgenossen nicht mehr mit, sondern im Internet »leben« oder wie Snyder sagt: »im Bildschirm«.
Hinter dem, was wir sehen, stehen Algorithmen, die berechnen und berechenbar machen, was der Nutzer sieht; damit wird der Mensch berechenbar und verliert seine Freiheit, wenn man der Analyse von Snyder folgt. Die so genannten Sozialen Medien buhlen um Aufmerksamkeit, um Zeit und bedienen sich dabei jener Tricks, durch die einer Sucht verstärkt werden. Wie alle anderen Süchte ist das eine kurzzeitig bequeme Form, den Herausforderungen des wirklichen Lebens auszuweichen, eine dicke, dichte Schutzschicht zwischen sich und die Welt zu packen, wie es eine von OxyContin abhängige Künstlerin in Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe formulierte.
Berichten zufolge soll Mark Zuckerberg die frühen Nutzer von Facebook als »dumb fucks« bezeichnet haben, weil diese voller Vertrauen zu seiner Plattform gewesen seien. Das kann man als sprachliche Entgleisung eines überheblichen CEO sehen, man kann aber darin auch den Keim einer Entmenschlichung derjenigen sehen, die an die Versprechungen einer schönen, neuen Welt geglaubt haben. Das geschah ausgerechnet durch jenen, der das „Soziale“ Medium erschaffen hat und damit Geld scheffelt. Entwürdigungen dieser Art standen oft am Anfang von Entrechtung und Gewalt, der brutalen Form von Unfreiheit in Lagerwelten.
Freie Menschen sind berechenbar für sich selbst, aber unberechenbar für Machthaber und Maschinen.
Timothy Snyder: Über Freiheit
Spätestens an diesem Punkt muss man als Leser doch innehalten und sich selbst, sein alltägliches Verhalten reflektieren. Den eigenen Umgang mit den Sozialen Medien, das Verhältnis von Bildschirmleben zu »Real Life«, bis hin zur Manipulierbarkeit. Bücher wie Über Freiheit sind in diesem Sinne unbequem gefährlich, denn sie können zu beunruhigenden Fragestellungen an sich selbst führen. Für mich ist das eines der ganz großen Komplimente, die man einem Werk machen kann, und die Basis für eine dringliche Leseempfehlung.
[Rezensionsexemplar]
Timothy Snyder: Über Freiheit Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn C.H.Beck 2024 Gebunden, 410 Seiten ISBN: 978-3-406-82140-0
Mit der Wahl im Jahr 2023 endete die Geisterfahrt Polens unter der PiS. Deren Risiken und Nebenwirkungen reichen weit über den Wahltermin hinaus. Die Rückkehr zur Demokratie ist nämlich alles andere als einfach. Cover edition.fotoTAPETA, Bild mit Canva erstellt.
»Das ist nicht Polen.«
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
Polen wird hierzulande gern ein wenig unterschätzt, keineswegs nur von den zahlreichen offenen und verdeckten Russland-Freunden, die in verhängnisvoller Tradition allzu leichtfertig über die Staaten Osteuropas hinwegschauen. Dabei ist Polen wirtschaftlich viel bedeutender als etwa Russland, zuletzt übertraf das deutsche Exportvolumen in unser Nachbarland das Richtung China. Grund genug also, einen genaueren Blick auf unseren östlichen Nachbarn zu werfen.
Acht Jahre bestimmte die PiS unter dem autoritären Regime von Jaroslaw Kaczyński die Geschicke der polnischen Politik. Geprägt war die Zeit von Berichten von lautem Reparationsgetrommel Richtung Deutschland und der Neigung, wie Ungarns Victor Orban eine antidemokratische, antipluralistische und antieuropäische Politik zu betreiben. Gelegentlich wurde in größeren Zeitungen von den Entwicklungen berichtet, doch zeigt das Buch von Klaus Bachmann wieder einmal, dass Medienberichte oft nur an der Oberfläche kratzen.
Schon der Titel Die Geisterfahrer gibt die Marschrichtung vor. Autor Bachmann hat erklärtermaßen ein subjektives Buch über die PiS-Jahre verfasst, denn die Schilderungen basieren auf eigener Anschauung. Die sieht die PiS-Partei und ihre ausführenden Macht-Menschen als im Kern bemerkenswert unfähig an. Der Grund ihres Scheiterns lag letztlich auch darin, dass zwischen pompöser, aggressiver Rhetorik und Repression und den sich immer weiter davon entfernenden Realitäten eine allzu große Lücke klaffte.
PiS, die Partei, die stets geschworen hatte, die polnische Bevölkerung vor illegaler Einwanderung zu bewahren, hatte diese selbst organisiert, und, das war der unbewiesene Verdacht dahinter, daran sogar noch verdient.
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
Da wäre etwa die Migrationspolitik, ein Thema, das auch in Deutschland ein Dauerbrenner ist und weidlich von interessierten Kreisen genutzt wird, um Stimmung zu machen. Das hat auch die PiS getan, etwa um die gezielt als Waffe eingesetzten Flüchtlinge aus Belarus (und später Russland) abzuwehren. Nach außen setzte man auf Brutalität, in der Realität wurden die Flüchtlinge oft nach Westen durchgelassen.
Während offen gehetzt wurde, gelangte gleichzeitig »eine in die Hunderttausende gehende Zahl von Arbeitsmigranten aus aller Welt nach Polen«, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Die mittels hoher Schmiergelder an Visa gelangten Personen hatten Zutritt zum Schengenraum. Daraus lässt sich einiges ableiten, etwa eine große Skepsis, wenn Parteien in anderen europäischen Ländern mit hohem Arbeitskräftemangel massiv gegen Migration wettern.
Es ist schon bemerkenswert, wie sehr es der Regierung unter der Zuchtrute Kaczyńskis gelungen war, ihre Gegner zu mobilisieren. Das zeigte schon die gewaltige Wahlbeteiligung. Zwar hatte die PiS durch verschiedene Maßnahmen, etwa durch ein zur Wahl parallel anberaumtes Referendum, versucht, die eigenen Leute zu in die Wahllokale zu bekommen. Gleichzeitig wurde die Opposition behindert, doch hatten Korruption, Vetternwirtschaft, groteske Propaganda und nicht zuletzt der gravierende Missgriff in der Abtreibungsfrage die Gegner in Scharen zu den Wahlurnen getrieben.
Besonders wertvoll ist die Darstellung von dem, was nach der Wahl kam. Mit Präsident Duda saß die PiS noch mit an den Schalthebeln der Macht, auch wenn die Parlamentsmehrheit vergangen war. Das reichte für eine weitere groteske Komödie, eine Hängepartie, die den Antritt einer neuen Regierung unter Donald Tusk verzögerte. Doch das war nur ein Präludium zu dem, was Bachmann als grundlegendes Dilemma identifizierte.
Wie macht man ein Land wieder demokratisch, ohne gegen demokratische Prinzipien zu verstoßen?
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
Polen ist nach der Herrschaft der Geisterfahrer auch in diesem Punkt ein Vorreiter in Europa, denn dieses Dilemma habe es laut Bachmann „in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben“, könnte es „aber bald wieder geben“. Natürlich denkt man zuerst an Ungarn, aber auch hierzulande sind jenseits AfD und BSW Politiker in anderen Parteien weit auf das Territorium antidemokratischer Rhetorik eingeschwenkt, die auf verhängnisvolle Weise an jene „Lügenkaskaden“ erinnern, die Anne Applebaum als einen wesentlichen Faktor bei der Aushöhlung einer freiheitlichen Ordnung identifiziert hat.
Das Problem ist, dass eine neue, demokratische Regierung wie die von Donald Tusk in Polen nur dann etwas ändern kann, wenn sie auf die von der PiS etablierten autoritären Machtmechaniken zurückgreift. Damit besteht die Gefahr, ein wenig wie sie selbst zu werden. Selbst lupenreine Demokraten können dank der Umstände den Autokraten ähnlicher werden, als ihnen selbst lieb ist. Ganz davon abgesehen, dass Machtmenschen wie alle anderen nie jene Widerständigkeit gegenüber den Verlockungen haben, die nötig wäre, um sich nicht korrumpieren zu lassen.
Demnächst wird es wohl noch ein weiteres Land mit Alleinstellungsmerkmal geben: Polen als der Staat, dessen Eliten versuchen, ihn mit undemokratischen Mitteln zu demokratisieren.
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
So ist Die Geisterfahrer eben auch ein Buch, das dazu auffordert, Polen im Blick zu behalten. Sollte Bachmann recht haben, wäre das ein Menetekel für Russland, das sich in der Putin-Zeit zu einer repressive Diktatur verwandelt hat, dessen offen menschenverachtendes Regime sich noch viel weniger demokratisieren lässt. Dort gibt es nicht einmal eine Opposition, die ihren Namen verdient hätte, geschweige denn Eliten, denen westliche Werte etwas bedeuten.
Zugleich zeigt es aber auch, wie gefährlich das Geschwätz ist, das behauptet, Autoritäre würde man bloßstellen können, man solle sie sich an der Macht selbst entzaubern lassen. Es gibt genug Beispiele, die das Gegenteil belegen. Einer davon ist die PiS, die immer Sündenböcke für eigenes Scheitern fand, auf die bequem jede Verantwortung abgewälzt werden konnte. Das ist eine der Warnungen, die von den Geisterfahrern aus Polen ausgeht. Wer schon in der Opposition nach Sündenböcken sucht und die tatsächlichen Probleme verschweigt, wird das in der Regierung nicht anders handhaben.
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer Polen und acht Jahre PiS edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2024 Broschiert 116 Seiten ISBN: 978-3-949-262-39-5
Ein schlichtes Cover eines Buches, das sich einem dramatischen Thema widmet. Cover Penguin-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Das Sachbuch Die Verlockung des Autoritären von Anne Applebaum ist ein Augenöffner. Jahrzehnte habe ich eine überregionale Tageszeitung mit hohem eigenen Anspruch gelesen und durch die Lektüre historisch-politischer Bücher ergänzt, das Zeitgeschehen aufmerksam verfolgt und darüber hinaus mit Analysen vertieft. Trotzdem sind einige Entwicklungen an mir vorübergegangen.
Spätestens mit dem Brexit, der für mich völlig überraschend kam, und der Wahl Donald Trumps war klar, dass etwas nicht stimmte, etwas, das von den mir zugänglichen Informationen und Analysen nicht ausreichend durchleuchtet wurde. Es gab schon vorher Warnsignale: Die Erwartungen an das Wahlverhalten wichen von den tatsächlichen Ergebnissen auch in Deutschland immer weiter ab, offenkundig verhielten sich viele Wähler unvorhersehbar.
Warum war das so? Wie konnte eine Entscheidung von derart gewaltiger Tragweite (Brexit) verloren gehen? Wie konnte in den USA eine Gestalt á la Donald Trump gewählt werden? Woher kam der scheinbar plötzlich anschwellende Rechtpopulismus, woher Parteien wie Vox in Spanien? Eine Wirtschaftskrise á la 1929 stand als Erklärung nicht zur Verfügung, anders als etwa Reichskanzler Brüning hatten die Staaten auf die schwere Finanz- und Eurokrise angemessen reagiert, zudem waren die Sozialsysteme nicht dysfunktional.
Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden. Und wenn man überhaupt etwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht, dass alle unsere Gesellschaften dies früher oder später einmal tun werden.
Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären
Die Antworten, die mir präsentiert wurden, griffen zu kurz, sie berührten die Ursachen nur und waren fragmentiert. Ja, es wurde darauf hingewiesen, dass die Brexiteers auf unlautere Mittel zurückgegriffen hatten, vor und insbesondere nach der Wahl ein politische Klima geschürt, gelogen, aufgehetzt und auch Gesetze gebrochen. Aber wie weit das ging und welche konkreten Mittel verwendet wurden, ist mir erst durch Die Verlockung des Autoritären begreiflich geworden.
Ein Punkt ist sicherlich, dass ich erst 2020 mit der Nutzung der so genannten Sozialen Medien begonnen habe und seitdem aus eigener Erfahrung einige bekannte Mechanismen der Manipulation selbst kennengelernt habe und richtig begreifen konnte. Vielleicht ging das den Journalisten meiner überregionalen Zeitung ja auch so, vielleicht haben sie die Tragweite auch unterschätzt – Mutmaßungen, die bei der Lektüre von Die Verlockung des Autoritären unweigerlich aufkommen.
War das Phänomen überhaupt in vollem Ausmaß begreiflich? Viele Dinge schienen sich aus dem Nichts zu entwickeln, dabei haben sie einen langen Vorlauf gehabt und sich in einem Maße und Tempo (man könnte fast den »Blitzkrieg« als Begriff exhumieren) entwickelt, das vielleicht auch für kluge Beobachter wirklich unverständlich war.
Die Vernetzung von moderner Technologie, politischem Interesse sowie jener Gefühlslage in manchen gesellschaftlichen Kreisen, ausgeschlossen und zurückgesetzt zu sein, mit dem ruchlosen Gegenangriff autoritärer Regime á la Russland und China auf kommunikativem, technologischem Feld war zumindest für mich in dem Ausmaß überraschend.
Ein gravierender Fehler war sicherlich, 1989 an einen Sieg und einen Automatismus zu glauben, der die Welt demokratischer machen würde, quasi von allein. Es gab auf dem langen Weg in die Finsternis, die nun herandräut, einige Momente des Lichts, etwa das Friedensabkommen um Nordirland, mit dem ein Schlusspunkt, ein vorläufiger Schlusspunkt unter einen Alptraum gesetzt wurde. Dem optimistischen Glauben an ein fortschreitendes Ausgreifen dessen, was ich als »Freien Westen« begreife, habe ich allzu gern nachgegeben.
Anne Applebaum liefert eine Menge Hinweise, die Antworten und weitergehende Fragen liefern. Ist dem Homo Sapiens überhaupt zu trauen? Die klugen Schöpfer der amerikanischen Verfassung, attestierten dem Menschen üble Grundneigungen, aus denen heraus immer wieder die Gefahr entspringen könnte, dass freie Gesellschaften den Weg zur Tyrannei beschreiten. Nach 1990 gab es auch Ansätze, doch haben sie sich als zu schwach erwiesen, um Putin, Orban, Kaczyński, Trump, Bolsonaro, Maduro und viele mehr zu verhindern.
Bei dieser Veränderung ging es nicht darum, den Staatsapparat zu optimieren, sondern ihn auf Parteilinie zu bringen und die Gerichte gefügig zu machen.
Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären
Warum das so ist und wie sich die Entwicklung vollzogen hat, werde ich hier nicht im Detail aufführen. Dazu lese man dieses vorzügliche Buch einer in Amerika geborenen, seit 1988 in Polen lebenden, polyglotten und scharf analysierenden Autorin. Deutschland kommt in dem Buch nicht vor, es konzentriert sich auf Polen, Ungarn, England und die USA, mit einigen Abstechern nach Spanien (sehr spannend!), Italien und Frankreich.
Für deutsche Leser ist das durchaus ein Glücksfall, sofern man nicht alles in Form von weichgekochtem politischen Haferbrei verköstigen möchte. So kann man selbst überlegen, welche der genannten Faktoren, Entwicklungen, Entscheidungen und Zufälle zu dem Aufstieg der autoritären Rechten und Linken kommen konnte. Tatsächlich lässt sich einiges ablesen, übertragen und den Leser schaudern.
2010 waren weder die Tories noch die US-Republikaner so radikal dem Brexit- und MAGA-Abgrund verfallen, wie in der Gegenwart. Die CDU/CSU und die FDP waren es bis 2021 auch nicht; seitdem gibt es in diesen Parteien Entwicklungen, die Sorgen bereiten. Eines jedenfalls hat den anderen Parteien nicht geholfen, nämlich dass die Mehrheit das so nicht wollte, zum Beispiel einen harten Brexit. Eine Lehre aus Die Verlockung des Autoritären ist, dass es für eine Katastrophe keine Mehrheit, sondern nur eine zu allem entschlossene Minderheit braucht.
Sehr spannend sind die Erklärungsansätze, derer sich Applebaum bedient. Grundsätzlich verortet sich Autoritarismus unabhängig von politischen Schubladen á la »rechts« und »links«; es handelt sich um Menschen, die »grundsätzlich antipluralistisch« denken, die keine »Komplexität aushalten«. Linke Ideologen des Totalitarismus finden sich nach Applebaum vor allem an Unis, Rechte hingegen in Regierungen. Das mag man mit Blick auf Cuba, Venezuela, Lulas Brasilien, Parteien wie Die Linke und BSW nicht recht unterstützen, zumal die Autorin selbst auf haarsträubende Ansichten linker Totalitärer in der Labour Party verweist.
Das Konzept der »clercs«, intellektueller Ideenspender in totalitären Ideologien, ist hoch spannend, Applebaum beleuchtet das Treiben derartiger Gestalten in der Gegenwart. Ein zentraler Punkt ist auch Lenin und sein 1917 entstandener Mechanismus des Machterhalts, der Links und Rechts verbindet, denn es handelt sich nicht um eine Ideologie, sondern um eine Organisationsform.
Neu im 21. Jahrhundert ist der Wechsel von der großen (Bolschewiki / Nazis) zur mittelgroßen Lüge: Obama wäre nicht in den USA geboren, George Soros wäre ein Verschwörer, der den Austausch der autochthonen Bevölkerung durch eine muslimische betreibe usw. Auf dieser Basis können Menschen ein Bekenntnis abgeben und in den totalitären Kreis eintreten oder werden ausgegrenzt. Einleuchtend ist auch das Konzept des »restaurativen Nostalgikers«, jenes Phänotyps in England, der als Minderheit das ganze Land in das Brexit-Desaster führte.
Ursachen waren auch keine mystischen ›Geister aus der Vergangenheit‹, sondern die konkreten Taten von Menschen, denen die bestehende Demokratie missfiel.
Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären
Schließlich widmet sich Applebaum auch den Werkzeugen und Mechaniken in einer Weise, die ebenso erhellend wie erschreckend ist. Lügenkaskaden etwa, die ohne Konsequenzen bleiben; oder jene groteske Ablösung von Wirklichkeit und Ideologie, wenn ausgerechnet Putins Russland als »gottgefälliges Land« besungen wird, wenn also die Realität keine Rolle mehr spielt. Wer wüsste nicht aus dem Stand einige Beispiele dafür zu nennen?
Um zum Anfang dieses Textes zurückzukehren: Welche Rolle nimmt die etablierte Presse in diesem Spiel ein, was ist mit dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk? Werden sie ihrer Aufgabe als Korrektiv gerecht oder lassen sie sich dank selbstgefälliger Eigensicht instrumentalisieren und am Nasenring durch die Manege ziehen? Zweifel sind erlaubt. Das Konzept der »Neutralität« und »Ausgewogenheit« der ÖRR wird überwiegend rechnerisch befriedigt und gibt antidemokratischen oder sachlich abwegigen Propagandisten eine Plattform.
Eine Grenze ist auch dann überschritten, wenn eine große, überregionale Tageszeitung im Vorfeld einer Bundestagswahl »Werbung« abdruckt, die nichts als politische Hetze darstellt. Dann ist die Zeitung allen Beteuerungen zum Trotz zum Teil jenes antidemokratischen Treibens geworden, an dessen Ende die Dämmerung der Demokratie und der Schritt in den Totalitarismus stehen kann.
[Rezensionsexemplar]
Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer Pantheon Verlag 2022 Klappenbroschur 208 Seiten ISBN: 978-3-570-55459-3
Die Romane Klaus Manns kenne ich alle, dazu noch die beiden autobiographischen Schriften. Der Schriftsteller lebte in einer dramatischen Zeit. Grund genug, sich mit der Biographie auseinanderzusetzen. Meine aktuelle Lektüre.
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Bücher begleiten mich schon mein ganzes Leben, auf dem Leseweg habe ich sehr viele großartige Romane und Sachbücher lesen dürfen, von denen ich gern erzählen möchte. Das ist ein Grund, warum ich blogge.