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Cormac McCarthy: Die Straße

Die zweite Lektüre dieses großen Romans war genauso intensiv wie die erste, aus der mir unauslöschliche Bilder in Erinnerung geblieben sind. Cover Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

So viele Jahre trage ich nun schon Szenen, Eindrücke und Stimmungen aus diesem Roman mit mir herum, die sich bei der ersten, überwältigenden Lektüre eingebrannt haben. Einige davon werde ich nicht wieder vergessen, bis alles in Vergessenheit gerät. Vor allem wird die erstaunliche Erfahrung bleiben, wie sehr mich als Leser die Atmosphäre eines Romans einhüllen und im Wortsinne wie auch übertragen mitnehmen kann.

Die Straße von Cormac McCarthy ist eine Dystopie. Aus diesem Genre habe ich wenige Romane gelesen und auch einige Filme geschaut. Das Buch ragt heraus, es ist ein literarischer Leuchtturm, der mit seinem schwarzen Licht weit in die Bücherlandschaft leuchtet, auch über das Genre hinaus. Die konsequente Reduktion des Erzählens auf das karge Notwendige sorgt dafür, dass beim Leser ein Strom an Bildern, Empfindungen und ein nicht endender Schauder erzeugt werden. Das Grauen ist stets präsent, die Gefahr wie ein nicht abreißender, ferner Donner am Horizont, bis sie plötzlich ganz nahe ist.

Auf der Straße, auf der ein schwerkranker Vater und sein Sohn ziehen, ist nichts albern, nichts unglaubhaft, nichts vorgeschützt, nichts heldenhaft, aber alles in einer kaum erträglichen Weise unerbittlich. Die kleinen Wortwechsel zwischen beiden verstärken die überwältigende Dunkelheit, die sie umgibt, die bittere Kälte, das erstickend Aschige am Boden und in der Luft, eine lebensfeindliche Umwelt, als wären sie auf einem fremden, unwirtlichen Planeten gestrandet.

Doch sind sie auf der Erde, die sich in ein Totenreich verwandelt hat, durch das Menschen wie lebende Tote schlurfen, um einander zu töten und aufzufressen. Der Hunger ist ein steter Begleiter der beiden Wanderer und aller anderen, die übriggeblieben sind. Hunger, nicht Hungrig-Sein, der schmerzt, ermüdet und irgendwann tötet, der die Menschen in einer Weise ausmergelt, wie man es von Horror-Bildern aus »Todeslagern« kennt.

Das Vater-Sohn-Duo ist auf dem Weg nach Süden. Ein weiterer Winter sei an Ort und Stelle nicht zu überleben. Das Meer ist ihr Ziel, ein recht unbestimmtes, wie auch unklar bleibt, was sie dort suchen. Eine bessere Welt? Irgendwann im Verlauf der Handlung ist einmal von »Communities« die Rede, ein ziviles Wort aus einer zertrümmerten, vergangenen Welt. Vielleicht ist es so eine Community, eine schützende Zivilgesellschaft, nach der sie suchen?

Eine Armee in Turnschuhen, mit schwerem Schritt. […] Keine hundert Meter zogen sie vorbei, sodass der Boden bebte.

Cormac McCarthy: Die Straße

Auf ihrem Weg begegnen sie Gruppen, die eine lebensbedrohliche Gefahr darstellen. Vom Marodeur-Duo, das zum Glück schlechter bewaffnet ist und sich einschüchtern lässt, bis hin zu einer kleinen Armee: Viererreihen, jeder Mann mit rotem Halstuch und bewaffnet, mit Kriegsbeute beladene Karren, von Sklaven gezogen, Frauen, einige schwanger, Lustknaben, miteinander an Hundehalsbändern verbunden. Einer der vielen Alpträume in diesem Roman.

Wie Dantes Inferno hat die Hölle Bereiche mit unterschiedlichen Schrecken. Der für mich fürchterlichste Ort liegt in einem »ehemals hochherrschaftlichem Haus«, in dem »einmal Sklaven gegangen [waren], in den Händen silberne Tabletts mit Speisen und Getränken.« Vom Aschewind verweht. Die beiden Wanderer müssen solche Orte durchsuchen, das unbestreitbar damit verbundene Risiko eingehen, stets in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden.

Mal wird der Wunsch erfüllt, mal nicht; mal ist es ganz und gar ungefährlich, mal lauert ein Abgrund. Es gibt keine Regel, kein Kalkül, bestenfalls Instinkt oder die Hoffnung, Glück zu haben. Der Junge will nicht in das Haus, er fleht seinen Vater an, weiterzugehen. Der sagte, sie würden verhungern. Fünf Tage ohne Essen, der Hungertod ist nicht mehr allzu fern. Sie haben nur die Wahl, Sterben oder Nachsehen.

Es gibt Warnsignale. Eine Schnur ist über die Terrasse gespannt. Beide sind in höchster Alarmbereitschaft; vorsichtig dringen sie in das Haus ein. Es findet sich eine Glocke, die mit der Schnur verbunden ist. Und eine Luke im Boden. Mit einem Schloss gesichert. Dafür gebe es einen Grund, sagt der Mann. Er hofft auf etwas Wertvolles und macht sich auf die Suche nach einem Brecheisen; weitere Zeit in dieser hochgefährlichen Situation verstreicht. Schließlich öffnet er mit einiger Mühe die Luke.

Alles, was er sah, war Entsetzen.

Cormac McCarthy: Die Straße

Eine hochdramatische Situation, die das weitere Lesen stark beeinflusst. Grauen und Gefährdung folgen dem Duo (und dem Leser) wie zwei tiefschwarze Schatten. Die Notwendigkeit, trotz dieses beinahe tödlichen Erlebnisses Häuser zu durchsuchen und Ansiedlungen zu durchstreifen, bleibt. Ebenso müssen die beiden auf der Straße weiterziehen, Bewegung ist zwar gefährlich, das Verbleiben an einem Ort aber noch gefährlicher. Sie haben keine Wahl, sie müssen.

McCarthys Welt ist total, vergleichbar mit dem Erleben im totalen Krieg. Der Handlungsspielraum ist massiv eingeschränkt, auch in anderer Hinsicht. Der Junge kann nicht davor behütet werden, Dinge zu sehen, die ein Kind besser nicht sehen sollte. Die Toten am Straßenrand, in den Autos, den Häusern; das »Entsetzen« hinter der Luke; die Überreste des Kannibalismus; die umherziehenden Banden und die Bedrohung, die von ihnen ausgeht.

Der Vater muss töten, damit sie nicht getötet werden. Er muss töten, weil er nicht helfen kann, ohne selbst zu sterben. Der Junge sieht zwangsweise zu, es hilft nicht, die Augen zu verschließen, es gibt kein Entkommen vor dem Schrecken. Unweigerlich verstört das Erlebte, sein Vater versucht, mit seinem Sohn im Gespräch zu bleiben, so knapp und karg die Sätze auch sind. Immer wieder sagt er, dass der Junge mit ihm reden müsse, nur durch Reden blieben sie zusammen, nur so überlebten sie. Und nur so kann der Erwachsene versuchen, dem Kind den Leidensdruck zu mildern.

›Waren das die Bösen?‹
›Ja, das waren die Bösen.‹
›Gibt ganz schön viele von den Bösen.‹
›Ja. Aber jetzt sind sie weg.‹

Cormac McCarthy: Die Straße

Immer wieder vergewissert sich der Junge bei seinem Vater, dass sie die »die Guten« seien, die anderen »die Bösen«. Das funktioniert bei den eindeutig bedrohlichen Begegnungen, doch was ist mit jenen, die Hilfe brauchen, harmlos sind und von ihnen im Stich gelassen werden müssen, weil sie selbst sonst sterben würden? Der einfache Dualismus von Gut und Böse hilft dann nicht weiter, McCarthy treibt das in Die Straße auf die Spitze. Niemand kann irgendjemandem helfen.

Letztlich mündet das Inferno in eine abgründige Hoffnungslosigkeit. Der Mann beneidet die Toten. Warum also weitergehen? Was erwarten sie sich vom Meer? Der namenlose Vater überhöht ihre Mission gegenüber seinem Sohn, um ihrer Existenz, ihrer Wanderung einen Sinn zu geben. Sie müssten das »Feuer bewahren«, heißt es mehrfach, am Leben bleiben als Ziel an sich. Sie haben also eine Aufgabe zu erfüllen, eine ideelle Krücke, um sich weiterzuschleppen. 

Das Meer ist eine namenlose Enttäuschung. Es ist nicht blau, sondern grau-schwarz wie die ganze restliche Welt. Statt in einem der verlassenen Häuser am Wegrand versuchen sie ihr Glück auf einem Boot, um etwas zu finden, das ihnen weiterhilft. Doch wohin soll die Beute weiterhelfen? Ihr Ziel ist erreicht, es entpuppt sich als eine Sackgasse. Der Mann spürt, dass ihn seine Krankheit töten wird, sein Sohn muss allein zurückbleiben. Das Ende naht.

Die Uhren blieben um 1 Uhr 17 stehen. Eine lange Lichtklinge, gefolgt von einer Reihe leiser Erschütterungen.

Cormac McCarthy: Die Straße

Über den Anfang des Unheils, die Katastrophe, verliert McCarthy in seinem Roman bemerkenswert wenige Worte. Doch die sind wie schwere Hammerschläge. Noch eine Stelle, die mir im Gedächtnis verhaftet bleibt. Der Mann geht ins Bad und lässt die Wanne voll Wasser laufen. Seine Frau fragt ihn, warum er ein Bad nehme. Die Antwort: »Ich nehme kein Bad.« Mehr braucht es nicht.

Die Katastrophe braucht Zeit, bis die vollständie Verheerung angerichtet ist. Der Junge kommt nach dieser Nacht zur Welt, als die Städte bereits brennen. Er gehört in die Neue Zeit und wächst in ihr heran. Irgendwann stehen Entscheidungen an. Die Frau wählt den Freitod, sie ist sehr rational, realistisch und formuliert bar jeder Illusion, was ihnen blüht. Der Mann macht sich mit seinem Sohn auf den Weg, der am Meer endet.

Das Ende dieses brillanten Romans wird in der vorangegangenen Handlung in jeder Hinsicht vorweggenommen. Aus das ist große Emotion, die in Die Straße oft unausgesprochen bleibt, aber zwischen den Wörtern, Zeilen und in den Räumen zwischen den Absätzen zu finden ist.

2024 ist eine großartige Umsetzung des Roman in einer Graphic Novel erschienen: Manu Larcene, Die Strasse.

Cormac McCarthy: Die Straße
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt 2008
Taschenbuch 256 Seiten
ISBN: 978-3-499-24600-5

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Das Sachbuch stellt einen vollständigen Bruch mit vielen historiographischen Konventionen dar, das den Leser vor eine ebenso herausfordernde wie erkenntnisreiche Lektüre stellt. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Eine Welt wird neu besichtigt: Eintausend Jahre zwischen 526 und 1535 nach Christus nimmt Bernhard Jussen mit seinem historischen Sachbuch Das Geschenk des Orest in den Blick. Der Zeitrahmen stimmt – eher zufällig – fast mit dem überein, was gemeinhin als »Mittelalter« bezeichnet wird, wenn auch die Zäsuren ein wenig verschoben sind; dabei macht sich Jussen auf, den Epochen-Begriff und -Gedanken abzulösen.

Von »Mittelalter« ist in diesem Buch dann die Rede, wenn es darum geht, seine Sinnhaftigkeit infrage zu stellen; das gilt auch für »Antike« oder »Neuzeit«, aber auch für »Byzanz« oder »Staufer«, »Salier« oder »Karolinger«. Allesamt für historisch Interessierte gewohnte und vertraute Begriffe, die Jussen meidet, denn sie setzen seiner Einschätzung nach einen Deutungsrahmen, der das Verstehen be- und verhindert.

Ein schönes Beispiel ist das Wort »Byzanz«, das im Bereich der Historiographie vor allem der Abgrenzung dient(e) und sogar als Kampfbegriff Verwendung fand, um den lateinischen Westen vom griechischen Osten zu trennen. Interessant sind Jussens Hinweise auf das Nischenschicksal des Oströmischen Reichs in der Byzantinistik, die kurioserweise von der Geschichtswissenschaft getrennt ist.

Die Kaiser am Bosporus bleiben römische Kaiser, ihre Münzen römisch und ihr Imperium auch, bis ins 15. Jahrhundert.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Tatsächlich fristet »Byzanz« in Studium und erst Recht in der Schule ein Dasein unter Alberichs Tarnumhang – Ostrom ist unsichtbar. Das ist insofern hilfreich, weil man nicht in Erklärungsnot gerät, wenn man das Römische Reich 475 n. Chr. untergehen lassen will, obwohl es im Osten noch fast eintausend weitere Jahre existierte, bis zur Eroberung Konstantinopels.

Wird der Deutungsrahmen durch den Gebrauch von Begriffen wie »Antike«, »Mittelalter« und »Neuzeit« gesetzt, passt »Ostrom« nicht, denn bei Verwendung des Begriffes hätte sich die »Antike« in Teilen bis fast zum Ende des »Mittelalters« fortgesetzt. Diese Epochen-Begriffe sind mehr als bloße Worte, die zur Orientierung dienen – sie bestimmen die Orientierung und damit das, was angesehen wird und wie das geschieht.

Das Wort »Deutungsrahmen« bildet das ab: Was außerhalb des Rahmens liegt, weil es nicht passt, kann nicht wahrgenommen werden, ohne den Ansatz der Betrachtung schon infrage zu stellen. »Ostrom« wird auch aus diesem Grund zu »Byzanz« umdefiniert und in ein eigenes, kaum wahrnehmbares Fach abgeschoben oder auf andere Weise aus dem Rahmen gedrängt, damit dieser bestehen bleiben kann.

Die konkrete Forschung ist abhängig vom Rahmen.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Es geht aber noch weit über diese Kategorien und Begriffe hinaus. Jussen beklagt, dass Erkenntnisse von weitreichender Bedeutung (noch) nicht ihren Weg in die einschlägigen historischen Handbücher gefunden haben. Die Verwandtschaftsforschung im Rahmen der Kulturanthropologie hat zum Beispiel herausgearbeitet, dass es bis zum 15. Jahrhundert im lateinischen Europa keine Verwandtschaftsgeschlechter gegeben hat.

Das aber wurde dem »Mittelalter« unterstellt, in der Epoche, was die Allgemeinheit oder zumindest die halbwegs Gebildeten mitbekommen, sind es eben »Staufer« oder andere »Geschlechter«, die bestimmend für ganze Zeitabschnitte gewesen sein sollen. Ehen unter Verwandten sind aber erst seit dem 16. Jahrhundert als soziales Phänomen relevant; erst das 19. Jahrhundert gilt manchen als verwandtschaftsorientierte Gesellschaft.

Folglich:

Wenn überhaupt, dann zeigt erst das 19. Jahrhundert, also die europäische »Moderne«, was als typisch »Mittelalter« gilt.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Das Zitat macht deutlich, wie tiefgreifend anders der Blick ist, den Jussen auf jene Zeit zwischen 526 und 1535 n. Chr. wirft. In dem steht der Zusammenhang von Verwandtschaft und Sakralsystem im Mittelpunkt der Analyse. Das wirft ganz einfach klingende Fragen auf, etwa: Was ist eigentlich »Verwandtschaft« jenseits biologischer Abstammung?

Die Antworten, die vor 526 n.Chr. und danach gegeben wurden, unterscheiden sich beträchtlich voneinander; auch das im lateinischen Bereich etablierte System ist anders geartet als das in ähnlichen großen Kulturen zur gleichen Zeit, aber auch zu anderen kirchlichen Gemeinschaften. Jussen attestiert auf allen Ebenen fundamentale Unterschiede. Allein vor diesem Hintergrund gerät ein Begriff wie »Mittelalter« ins Wanken.

Jussen unternimmt einen Perspektivwechsel und verzichtet auf den klassischen Rahmen aus Epochen. Um zu zeigen, was er als Transformation der römischen Welt bzw. deren revolutionäre Umgestaltung von innen heraus bezeichnet, nutzt er auch andere Medien als die gewohnten Quellen, Schriften und Überlieferungen: Medien, Bilder, Darstellungen von Gräbern – andere Mittel als in der Historiographie üblicherweise im Mittelpunkt stehen.

Der Deutungsrahmen bestimmt das Interesse und trennt das vorhandene Material in »wichtig« und »unwichtig«.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Jussen bedient sich an »historischem Material aus dem Feld ästhetischer Kommunikation« und nimmt eine Umkehrung der üblichen Gewichtung vor. Bilder werden bislang bestenfalls als Zusatz bzw. Bestätigung von dem verwendet, was aus Urkunden und anderen Schriftquellen geschöpft wurde; dabei wurde oft nicht darauf geachtet, wie verbreitet das entsprechende Medium überhaupt gewesen ist; das aber ist ein Kriterium für dessen Aussagekraft.

Diese Bilder usw. waren kein eigenständiges Medium, was Jussen in seinem Buch Das Geschenk des Orest konsequent ändert. Das heißt nicht, dass Texte gar keine Rolle spielen, im Gegenteil. Das Grabmal der »Turteltaube«, einer vermutlich reichen Römerin, ist nämlich in bemerkenswerter Weise beschriftet: »Du warst auch wirklich eine Turteltaube.«

Das Lob des Sohnes auf seine verstorbene Mutter dürfte einigermaßen seltsam wirken, wenn man den massiven Bedeutungswandel des Wortes »Turteltaube« nicht kennt. Gewöhnlich verbindet man mit dem Verb »turteln« einen Flirt, doch bis zum Zeitalter Shakespeares war »Turteltaube« ein großes moralisches Lob, denn dahinter verbarg sich engagiertes Bemühen, soziales Ansehen zu sammeln für bessere Aussichten auf einen »guten Platz im Jenseits«.

Der Zusammenhang von Text und Bild des Grabmals […] lenkt den Blick auf eine buchstäblich revolutionäre Transformation des Gesellschaftssystems.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Auf die einzelnen Details des Grabes und deren Bedeutung kann hier unmöglich eingegangen werden, wichtig ist aber, dass Jussen darin ein Beispiel dafür sieht, dass der Umsturz nicht etwa von außen, von den vielbeschworenen »Barbaren«, »Germanen« oder »Völkern«, erzwungen wurde, sondern von innen, von den Römerinnen und Römern selbst. Das ist gemessen am Deutungsrahmen »Völkerwanderung« ein spektakulärer Ansatz.

Der Buchtitel Das Geschenk des Orest lenkt den Blick auf jenen, der für die alte, untergehende Welt steht, für einen der letzten Konsulen des westlichen Reichsteils, der seinen Amtsantritt 530 traditionell mit einem Geschenk an die römische Welt kundtat. Ein Diptychon aus Elfenbein als Teil der bekannten und gewohnten Inszenierung, die allerdings damit im westlichen Reichsteil an ein Ende gekommen war.

Auf eine Bewertung des Ansatzes, den Jussen verfolgt, verzichte ich bewusst, da ich Das Geschenk des Orest als eine Neubetrachtung eines Zeitraumes gelesen habe, der bislang unter dem Label »Mittelalter« geführt wurde. Selbst wenn man Jussens weitreichende Neubewertung – aus welchen Gründen auch immer – nicht teilen möchte, bleibt fraglos der Modernisierungsdruck auf die Geschichtswissenschaft festzustellen.

»Die Suche nach Darstellungsweisen des lateinischen Europa, die nicht auf das alte Epochendenken angewiesen sind und dieses auch nicht unbemerkt mit sich herumschleppen.«

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Ein kritisches Wort erlaube ich mir aber. Man kann das, was über das Römische Reich seit Mitte des dritten Jahrhunderts verstärkt und später unaufhaltsam hereinbrach, vielleicht einer inneren Revolution gegenüberstellen, für die politische, wirtschaftliche und militärische Stabilität des Reiches sind diese Angriffe von erschütternder, vielleicht eben auch vernichtender Bedeutung gewesen – man denke nur an die Infrastruktur, das Finanzwesen etc.

Hinter Begriffen wie »Migrationsbewegungen« sollte man diese Raub-, Plünder- und Kriegszüge nicht verbergen, für die Opfer dieser Züge ist es auch gleichgültig, ob man von Barbaren, Stämmen, Völkern oder – nachvollziehbar – Identifikationsgemeinschaften spricht. Krieg bleibt Krieg, das ist gerade in unserer Zeit wichtig, damit nicht hinter Wortschleiern die brutale Gewalt verschwindet.

Wenn man also feststellt, dass der östliche Teil des Römischen Reiches bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts bestand und erst dann untergegangen ist, bedeutet das eben auch, dass der westliche schon lange vorher unterging. So wichtig und berechtigt Jussens Feststellung bezüglich einer Transformation im Inneren auch sind, bleiben äußere Faktoren á la Krieg, Plünderung, Angriffe, gewaltsame Landnahme bestehen.

Das aber ändert nichts an den Qualitäten des Sachbuchs, das einen tiefgreifenden Bruch mit historiographischen Konventionen darstellt, im Grunde genommen also dem Fach zu Leibe rückt wie die »Turteltaube« dem männlichen Ahnenverband im frühen sechsten Jahrhundert. Neue Deutungsrahmen sind immer spannend, insbesondere wenn sie so klug argumentieren und sich auf originelle Quellen stützen. Das Geschenk des Orest ist für den Leser ein großer Gewinn.

[Rezensionsexemplar]

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526 – 1535
C.H. Beck 2023
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-406-78200-8

Angela Steidele: Aufklärung

Ein Historischer Roman aus der Sicht einer Tochter Johann Sebastian Bachs, stimmungsvoll, atmosphärisch und in besten Sinne aufklärerisch. Cover Insel-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ein literarisches Gegenspiel, eine Gegenbiographie, die aufklärt darüber, wie es nach Ansicht des erzählenden Ichs tatsächlich gewesen ist. Das weicht erheblich von dem ab, was aus Männerfedern auf Papier geflossen ist und die Überlieferung geprägt hat. Doch geht die Autorin noch – mindestens – einen Schritt weiter und lässt ihre Erzählstimme keineswegs unangefochten berichten – sie wird immer wieder infrage gestellt, unterbrochen, korrigiert, während sie schreibt. Kleine Sätze der Rechtfertigung sind hier und da in Klammern eingeflochten.

Im besten Sinne der Aufklärung bleibt es also am Ende beim Leser, wem und was er Glauben schenken will. Aufklärung ist ein großer Lesespaß! Man muss sich ein wenig einlesen, in den Stil, den die Autorin Angela Steidele sanft koloriert hat und etwas zeithistorisch klingen lässt, was den Lesefluss befördert sowie lustig und einfach schön ist, ohne diese träge, staubige Schwere alter Grammatik.

Die Geschichte ist in der Ich-Form präsentiert, die Erzählerin ist Dorothea Bach, eine Tochter von Johann Sebastian Bach, von der nahezu nichts überliefert ist. Ein gefundenes Fressen für eine Autorin von einem Historischen Roman, denn diese Leerstellen wollen gefüllt werden – mit Fiktion. Steidele widmet sich dieser Aufgabe mit Hingabe, Leichtigkeit, Humor, bisweilen bissigem Sarkasmus und lässt eine ganz wundervolle Welt vor den Augen der Leser entstehen.

Sie ist voller Musik, Herzenswärme, Literatur, gelehrten Gesprächen, Spott, Neid, Eifersucht, Streit – aber auch berührt von den Unbilden der Zeit. Der Macht des Todes, der Krankheit, der Armut, die Verheerungen der Kriege Friedrichs II. und die Zudringlichkeiten einer unaufgeklärten Welt. Dabei gelingt es Steidele, den leichten Tonfall beizubehalten, hier wird nicht stiefeltrampelig einer Wahrheit Bahn gebrochen, der Leser wird geradezu aufgefordert, selbst zu denken.

Ganz besonders atmosphärisch sind die kleinen Anmerkungen unten auf der Seite, die auf die Werke Johann Sebastian Bachs verweisen, von denen in der Erzählung die Rede ist. Man kann sie problemlos anhören und mit dem vergleichen, was die Erzählstimme und andere Zeitgenossen zu sagen haben. Aber auch Literatur ist aufgeführt, Dramen, Theaterstücke, Romane, Sachbücher aller Art, in die ohne große Schwierigkeiten ein Blick geworfen werden kann, denn diese zeitgenössische Literatur steht im Internet zumeist zur Verfügung.

Apropos Internet. Anlässlich einer Lesung beim Göttinger Literaturherbst hat Angela Steidele neben vielen anderen sehr aufschlussreichen Bemerkungen auch gesagt, sie habe heimlich etwas über die Gegenwart erzählen wollen. Das wollen – gute – Historische Romane ja oft. Und so darf man sich fragen, ob Lautentius Gugl nur zufällig diesen Namen trägt oder die Zwitscherblättchen, die – weil gedruckt – anonym über andere Zeitgenossen herziehen, vielleicht auf eine moderne Kommunikationserscheinung anspielen.

Angela Steidele macht sich zudem ein großes Vergnügen daraus, große Männer von ihren Sockeln zu holen. Gotthold Ephraim Lessing etwa kommt nicht gerade gut weg, Friedrich II., der so genannte „Große“, verdiente sich ganz andere Beinamen. 

Rousseau? „Ein armes Irrlicht aus Genf, der sich mit allen verkracht“, lässt sie den Leser aus dem Munde Luise Gottscheds wissen, verbunden mit einem didaktischen Hinweis für die Gegenwart: „Weil sich jeder über ihn aufregt, erhält er so viel Resonanz. Da müssen wir seine absurden Ansichten nicht auch noch ventilieren.“  Don´t feed the troll, würde man heute sagen.

Das Ende ist ganz fabelhaft gelungen. Vier Zeilen eines Gedichtes machen noch einmal deutlich, worum es in dem Roman Aufklärung eigentlich geht: Jene ins richtige Licht rücken, die bislang im Schatten standen, dorthin das Licht leuchten lassen, wo Dunkelheit, (Ver-)Schweigen und Vergessen bis heute Vieles verborgen hat, was ans Licht gehört.

Mit großem Vergnügen verweise ich auf eine ebenso vorzügliche wie ausführliche Buchvorstellung von Marius Müller, der durch seinen sehr anregenden Text verantwortlich dafür ist, dass ich diesen wunderbaren Roman gelesen habe.

Angela Steidele: Aufklärung
Insel Verlag 2022
Gebunden 602 Seiten
ISBN: 978-3-458-64340-1

Robert Harris: Königsmörder

Ein atmosphärisch ungemein dichter, ausschweifender Roman, packend, dramatisch, aber fern aller romantisierenden Abenteuererzählung. Cover Heyne-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Nicht allzu oft haben Revolutionäre gekrönte Häupter rollen lassen. Karl I. (Charles I.) Stuart gehört zu jenen Ausnahmen. Zum Ende des englischen Bürgerkrieges wurde er getötet – man kann im Internet Bilder jenes Dokumentes betrachten, auf dem 59 Mitglieder des eigens eingerichteten High Courts das Todesurteil unterzeichnet haben. Der vierte trägt den Namen Edward Whalley, der vierzehnte heißt William Goffe: zwei der drei Hauptfiguren des Historischen Romans Königsmörder von Robert Harris.

Zu ihnen gesellt sich ein dritter Protagonist namens Richard Nayler, eine fiktive Figur, Gegenspieler und Nemesis von Whalley und Goffe, nachdem Oliver Cromwell gestorben und die Monarchie restauriert worden ist. Eine erbarmungslose Jagd auf die Königsmörder setzt ein, perfide wird ihnen Gnade versprochen, während ihnen ein grausamer Tod blüht. Die Zeit um 1660 ist von brutaler Erbarmungslosigkeit, was Hinrichtungen anbelangt.

Nayler gehört zu den eifrigen Jägern, er hat mit Whalley und Goffe ein besonderes Hühnchen zu rupfen, die Jagd auf sie trägt den Charakter eines privaten, fanatischen Rachefeldzuges. Die Handlung setzt ein, als die beiden Oberste in den Kolonien jenseits des Atlantiks eintreffen, während die meisten Verfolgten vor der Nachstellung durch die Getreuen der englischen Krone aufs europäische Festland geflohen sind, etwa in die Niederlande.

Harris hat eine ebenso spannende wie ausschweifende Geschichte verfasst, die zweierlei vermeidet. Einmal jede Form romantisierender Abenteuererzählung um die Flucht der beiden Oberste, ihr Elend wird fühlbar; zum zweiten die Verlockung, die Handlung zu einem auf purer Handlungsspannung fokussierten Thriller zu machen. Dazu hätte der Autor die historische Überlieferung ordentlich biegen müssen, außerdem ist der Roman – für meinen Geschmack –  packend.

Aber nicht nur das. Die flüchtigen Whalley und Goffe stehen in der Neuen Welt vor der Herausforderung, zu überleben. Sie können sich auf ein Netzwerk aus Puritanern stützen, die ihnen helfen; allerdings wirkt die Flucht bisweilen seltsam arglos, so geben sich die Fliehenden keinerlei Mühe, ihre wahre Identität zu verschleiern, sondern treten unter ihren richtigen Namen auch noch in der Öffentlichkeit auf.

Für Jäger Nayler ein gefundenes Fressen, das er nicht verschmäht, als er selbst nach einer recht ausgedehnten Irrsuche in England schließlich selbst nach Amerika übersetzt; zu den großen Vorzügen des Romans gehört, dass die Stolpersteine von Flucht und Jagd von Harris mit der gleichen Detailliebe geschildert werden. Doch kommen sich in einer unerhörten Szene Jäger und Gejagte sehr nahe, eine atemberaubende Szene, in der man selbst die Luft anhält.

Wirklich großartig ist der Roman durch die Atmosphäre, die einem alten, üppigen, von Figuren, Landschaften, Dorf- und Stadtszenen wimmelnden Gemälde ähnelt. Man wähnt sich in London, man wähnt sich in den der Unendlichkeit des amerikanischen Kontinents, auf hoher See und mitten drin, wenn die großen Heimsuchungen der Zeit über die Menschen hereinbrechen. Chapeau!

Robert Harris: Königsmörder
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Heyne-Verlag 2022
Hardcover mit Schutzumschlag, 544 Seiten
ISBN: 978-3-453-27371-9

James Baldwin: Von dieser Welt

Der Roman eines »wiederentdeckten« Autors hat mich in die befremdliche Welt ostentativen Glaubens geführt. Er thematisiert abe rauch den endlosen Rassismus in den USA. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Mit diesem Roman aus der Feder des jüngst wieder »entdeckten« Autors James Baldwin reist der Leser in das Harlem der 1930er Jahre. Die Hauptfigur, ein kluger, unsicherer Heranwachsender namens John, lebt im Schatten seines sich überaus fromm gebenden, gewalttätigen und die Familie beherrschenden Vaters, mit dem er sich in einem dauerhaften Konflikt befindet.

Baldwins Sprache und Fabulierkunst sind beeindruckend, auch in der deutschen Übersetzung. Bemerkenswert und oft beklemmend sind die Passagen über die Kirche und die ostentativ zu Schau getragene Frömmigkeit, die wie ein zu eng geschnürtes Korsett im Leben der Gläubigen wirkt. Ein menschliches Schwein bleibt auch dann ein Schwein, auch wenn es inbrünstig den Herrn anruft.

Nach einer Bluttat versammeln sich die Familienmitglieder zum Gottesdienst. Baldwin widmet einigen von ihnen einen langen, persönlichen Abschnitt, den er mit »Gebet« überschreibt, Gedanken voller Erinnerungen und Assoziationen. Ihr Weg, den sie zu diesem Moment zurückgelegt haben, wird erzählt. Jeder hat seine Geschichte, die erklärt, woraus die haarsträubenden (Miss-)Handlungen der Mitmenschen, oft begangen im Namen des »Herrn«, herrühren. 

Natürlich spielt auch die Hautfarbe eine Rolle, Rassismus, wie er bis in die Gegenwart nicht wesentlich besser geworden ist, schlägt den Schwarzen entgegen, was wiederum in psychischer und physischer Gewalt gegenüber den eigenen Leuten münden kann. Ein wenig hat mich Von dieser Welt das an Die Farbe Lila erinnert, jene saufenden, hurenden Tunichtgute, die den Druck der weißen Gesellschaft an ihre Frauen und Kinder weitergaben.

Ein lesenswerter Roman, der zum Glück nichts verschweigt, eben auch nicht, wenn die Schwarzen einander als »Nigger« bezeichnen, verhöhnend, verspottend oder einfach nur achtlos hingeworfen. Manche Abschnitte, in denen Baldwin wortmächtig die religiöse Verzückung seiner Protagonisten nachzeichnet, empfand ich schwer erträglich, denn mein beherrschender Gedanke war, dass auf diese Weise fanatische Gotteskrieger geboren werden.

James Baldwin: Von dieser Welt
aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
dtv 2018
Taschenbuch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-43413-3

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