Das Genre lese ich selten, aber gern: eine historische Dystopie, in der das so genannte »Dritte Reich« den Zweiten Weltkrieg nicht verloren hat. Diese Formulierung ist mit Bedacht gewählt, denn Hitler wollte zwar Krieg, aber nicht unbedingt einen Sieg im Sinne eines neuen Friedens. In seinen Wahnvorstellungen sollte der Deutsche im Osten an einer stetig fechtenden Front sich stählen (sehr verkürzt dargestellt).
Der Roman von C.J. Sansom, der hierzulande unter dem Titel Feindesland vermarktet wird (im Original ein treffenderes Dominion), greift das Motiv ebenso auf wie etwa der brillante Thriller Vaterland von Robert Harris. Die Ostfront ist statt eines Stahlbads zu einer schwärenden Wunde des Reiches geworden, das zwar ganz Europa besiegt, mit England einen Frieden geschlossen und sein rassistisches Vernichtungsprogramm fast ganz durchgeführt hat, aber unter dem Dauerkrieg ächzt.
Mit dem Reich darbt auch ganz Europa, beste Voraussetzungen für das Aufkeimen von Widerstand, zumindest in der Welt, die C.J. Sansom erdacht hat. Auch in England gärt es, Botschafter Erwin Rommel wird anlässlich eines Gedenktages attackiert. Das ist der Ausgangspunkt für eine im Kern spannende und abenteuerliche Geschichte, die bevölkert ist mit vielen sehr interessanten Figuren.
Diese tummeln sich in einem England, das seine eigenen rechten Vorstellungen ebenso verwirklicht hat und in der Ideenwelt eines eigenständigen, mit Nazi-Deutschland verbündeten Großbritannien lebt: Das Empire gibt es Anfang der 1950er Jahre noch, diese Konstruktion ist ein verdeckter Kommentar zu den wirtschaftlichen Ideen eines auf den eigenen Herrschaftsbereich (Dominion!) beschränkten Landes auch in der Brexit-Gegenwart.
Diese Perspektive ist gut gewählt und bietet einen Ausblick auf eine düstere Welt, in der sich die USA dem Isolationismus verpflichtet, Japan in China in einem endlosen Krieg verbissen hat und England seine Kolonien brutal ausbeutet. Auch die durchaus vielschichtigen politischen und diplomatischen Manöver, die Teil des aktiven, d.h. auf das Geschehen einwirkenden Kulissen zählen, sind ein klarer Pluspunkt, sie verleihen dem Roman einen großen Mehrwert. Vor allem aber wird die unfassbare Monstrosität sicht- und fühlbar, die sich hinter bürokratischen Wortschleiern á la „Generalplan Ost“ verbirgt.
Weniger gelungen sind viele Kurzschlüsse in der Thriller-Handlung, allzu oft begreifen Figuren aller Seiten plötzlich etwas auf sehr kurzem Wege, wenn es gerade in den Handlungsverlauf passt; das mindert die Glaubwürdigkeit beträchtlich. Der Dynamik hätten eine konsequente Straffung gutgetan, viele Dialoge sind zu lang, redundant oder einfach unnötig. Manchmal flirren die Konturen der Figuren, wenn sie plötzlich aus der Rolle fallen oder in unangemessene Rührseligkeit ausbrechen – schade, denn die Persönlichkeiten sind grundsätzlich ansprechend.
Leider werden die Schattenseiten des Romans im Verlauf immer dichter, bis es zum Showdown kommt, schleppt sich die Handlung einige Zeit dahin wie ein Fußkranker, ehe der Leser ein groteskes Spektakel und ein fürchterlich naives Ende in Form eines Epilogs präsentiert bekommt. Das ist sehr schade, denn anfangs ist Feindesland ein großer Lesespaß, denn die Welt, die starr und dunkel zu sein scheint, gerät ganz erheblich ins Wanken.
Adolf Hitler ist schwerkrank, seine Umgebung scharrt mit den Füßen, den Machtkampf um die Nachfolge notfalls in einem selbstvernichtenden Bürgerkrieg auszufechten, eng verbunden mit der umstrittenen Frage, wie die Politik fortgeführt werden soll. Und über allem baumelt ein Alptraum namens Atombombe und eröffent eine vorzügliche Aussicht auf eine globale Selbstvernichtung.
C. J. Sansom: Feindesland
Aus dem Englischen von Christine Naegele
Heyne Verlag 2020
Taschenbuch 768 Seiten
ISBN: 978-3-453-43942-9
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