»Seelenverkäufer« ist so ein schönes Wort. Es meint ein nicht vollständig seetaugliches Schiff, das im übertragenen Sinne die »Seelen« der Mannschaft »verkauft«. Die Yorikke gehört zu dieser Kategorie. Als »der Eimer« vor den Augen des Erzählers erscheint, findet dieser weit stärkere Formulierungen, um den heruntergewirtschafteten Zustand des Dampfers zu beschreiben. Ein »Seelenverkäufer« ersten Ranges. Oder, wie es der Augenzeuge dann selbst formuliert:
Da war ein Geheimnis verborgen. Sie war doch nicht etwa gar ein -?
B. Traven: Das Totenschiff
Aber vielleicht doch. Vielleicht war sie doch ein Totenschiff. Da! Da ist es endlich heraus. Ein Totenschiff. Verflucht noch mal, o Sperlingsschwänze und Fischflossen! Jawohl, sie ist ein Totenschiff.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Roman Das Totenschiff von B. Traven bereits recht weit gediehen, ganz ohne Schiff. Das erste Drittel der Handlung spielt an Land, erzählt wird eine hanebüchene Irrfahrt durch Westeuropa, voll kurioser Wendungen. Nachdem der Seemann Gales die Tuscaloosa durch missliche Umstände verpasst hat und seine Papiere mit dem Schiff auf und davon sind, steht er vor einer unüberwindlichen Hürde: Wie beweisen, dass er Amerikaner ist?
Es folgt ein irrwitziges Spiel. Gales wird von den belgischen Behörden gezwungen, die Grenze zum Nachbarland illegal zu überschreiten. Ihm drohen drastische Strafen, sollte er noch einmal zurückkehren. In den Niederlanden wird er aufgegriffen, auch hier greifen die offiziellen Stellen zum gleichen Mittel wie in Belgien. Absehbar, dass die Hauptfigur gar keine andere Wahl hat, als trotz Strafandrohung eines der ihm verbotenen Länder erneut aufzusuchen.
Das Hin&Her spitzt sich immer mehr zu und erreicht in einem amerikanischen Konsulat seinen vorläufigen Höhepunkt. Während eine reiche Amerikanerin allzu leicht ihren verlorengegangenen Pass ersetzt bekommt, muss sich Gales anhören, dass er ohne seine Papiere im Grunde gar nicht existiere. Der Beamte erklärt ihm entgegenkommend, er persönlich wolle ja dem Identitätslosen gern Glauben schenken, doch damit könne er die Vergabe eines Passes gegenüber seinen Vorgesetzen nicht verantworten.
Denn was ich glaube, will die Regierung daheim nicht wissen. Sie will nur wissen, was ich bestimmt weiß. Und was ich bestimmt weiß, muss ich beweisen können. Ihre Staatsbürgerschaft und Ihre Geburt kann ich nicht beweisen.
B. Traven: Das Totenschiff
Traven nutzt die Irrfahrt seines Helden, um gesellschaftliche Kritik zu üben – in einem schnoddrigen Ton, gewürzt mit Spott, Sarkasmus und boshaftem Witz. Oft lässt der Autor die Situation an sich sprechen, die Dialoge und Handlungsweisen der Figuren, die Zufallsbegegnungen. Manchmal rückt Gales das Gesagte durch bissige Kommentare ins rechte Licht; in das Licht der frühen 1920er Jahre, das gedämpft wird durch den Schatten des Ersten Weltkrieges.
Gales ist Amerikaner und verheimlicht das zumeist. Er gibt sich oft als Deutscher aus, eine auf den ersten Blick seltsame Maßnahme, könnte man doch annehmen, die Verlierer des Großen Krieges wären unbeliebter als die Yankees, die letztlich dank ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke den Waffengang für die Alliierten entschieden haben. Doch stehen die USA im Ruf, ihre Hilfe vor allem aus Eigennutz angeboten zu haben, ein recht typisches Motiv des Antiamerikanismus, wie er in manchen Kreisen bis heute gern gepflegt wird.
Präsident Wilsons Politik war tatsächlich darauf ausgerichtet, den Mittelmächten keinen Sieg zu erlauben, vor allem aber, die USA zur globalen Führungsmacht aufsteigen zu lassen. Europa war jenseits des Atlantiks hoch verschuldet und selten liegt die Macht beim Schuldner, sondern beim Gläubiger. Die hehren amerikanische Werte, mit denen die USA in den Krieg zogen, bespöttelt Gales.
Als er wiederholt von Polizisten durchsucht wird, fragt er sich, was diese so dringend suchten – etwa die verlorengegangen 14 Punkte von Präsident Wilson? Dieses Programm fasste die Ziele des US-Präsidenten für eine Friedensordnung zusammen, es diente als politische und moralische Grundlage für die Kriegführung der USA. Die tatsächliche Nachkriegsordnung hatte mit dem Geist der 14 Punkte recht wenig zu tun, was Traven auf seine Weise karikiert.
Doch bekommt auch Deutschland, namentlich Preußen, bissige Kritik ab. Die Behörden eines jeden Landes bemühen sich, den Mann ohne Papiere nach Deutschland abzuschieben, worüber dieser sich wundert. Er verweigert sich rundheraus, verkündet, er würde sich lieber erschießen lassen, als nach Deutschland zu gehen. Denn:
Wenn man in Amerika und vielen andern Ländern das Wort ›Preußen‹ hört, ist es nie mit dem Lande Preußen oder mit seinen Bewohnern verknüpft, sondern es ist ein Synonym für eine Abwürgung der Freiheit und für polizeiliche Bevormundung.
B. Traven: Das Totenschiff
Der freiheitsliebende und nicht sonderlich arbeitswütige Gales, der in Spanien eine Art Dasein gefunden hat, landet schließlich auf der Yorikke. Wie kann das sein, wo er in dem Kahn gar ein Totenschiff sieht und angesichts seiner äußeren Erscheinung auf verheerende Zustände an Bord rückschließt? Nolens volens, könnte man sagen. Das Schiff selbst scheint es auf ihn abgesehen zu haben. Gales verweigert sich dem Anwerbeversuch und findet sich dennoch unversehens an Deck wieder. Die Yorikke nimmt Fahrt auf und steuert geschwind aufs weite Meer.
Auf dem Schiff sind die Verhältnisse noch viel furchtbarer, als Gales befürchtete. Er wurde betrogen, geschickt mit Worten in die Irre geführt und sitzt abermals in der Falle. Die Yorikke ist ein Totenschiff, doch geht es hier nicht um Untote, wie jene halb verwesten Gestalten in Fluch der Karibik. Es sind die Arbeiter an Bord, die unter unmenschlichen Bedingungen knechten müssen. Vieles ist im Wortsinne kaum vorstellbar.
Travens Totenschiff ist ein Sinnbild für die Ausbeutung in einem ungeregelten Kapitalismus, in dem sich die Arbeiter nicht wehren können und zu Verdammten und Verlorenen, zu Toten werden. Aber der Autor lotet bei seiner mitreißenden Schilderung des Schicksals von Gales auch die allgemeinen menschlichen Untiefen aus: Der Drang der Unterdrückten, sich gegenüber Schwächeren oder Niedrigergestellten zu erheben und diese ihrerseits zu unterdrücken.
Eine der wesentlichen Ursachen der menschlichen Misere sieht Gales im Drang zur Nachahmung, dem Herdentrieb, der eine echte Weiter-Entwicklung des Menschen verhindere. So bleibe man ein Barbar, wie vor sechstausend Jahren, und lasse sich knechten. An der Reling der Yorikke stehend fragt sich Gales, warum er sich nicht selbst erlöse, seinem Leben durch einen beherzten Sprung ins Meer ein Ende setze. Die Antwort lautet, weil er sich Hoffnung mache.
Aber der Mensch? Der Herr der Schöpfung? Er liebt es, Sklave zu sein, er ist stolz, Soldat sein zu dürfen und niederkartätscht zu werden, Er liebt es, gepeitscht und gemartert zu werden. Warum? Weil er denken kann. Weil er sich Hoffnung denken kann.
B. Traven: Das Totenschiff
Manche Sentenzen in diesem Buch sind so stark, dass sie mir auch Wochen nach der Lektüre noch im Kopf herumgehen. Die Afrikaner, die mit den Sklavenschiffen über den Atlantik geschifft wurden, haben sich bisweilen gewehrt, indem sie Selbstmord beginnen. Sie verweigerten das Essen oder versuchten, über Bord zu springen. Folgt man den Ansichten von B. Travens Seemann, dann wussten sie genau, was ihnen blühte, und hatten alle Hoffnung dahingegeben.
Immer wieder kommt Traven in seinem Roman auf das Motiv des bürokratischen Todes zurück. Menschen, die keine ordentlichen Papiere besitzen und auch keine bekommen können, was keineswegs an ihnen, sondern den Umständen und einer kalten, herzlosen und völlig mechanisch agierenden Bürokratie liegt. Lebende Tote also, die ein Totenschiff brauchen, um irgendwie aus dem Niemandsland fortzukommen.
Gales alias Pippip erfährt vom Schicksal einiger Seemänner, die auf der Yorikke ein tragisches Ende fanden. In der Koje über seiner eigenen soll einer gelegen haben, der nach langer Irrfahrt, unter anderem auch der Fremdenlegion, an Bord kam und dort verendete. Von ihm blieb nicht einmal ein Eintrag im Journal, dem Bordbuch, das mehr einem vom Kapitän frisierten Märchenbuch gleicht. Der Tote war nur „Luft, verwehte Luft“.
Wie endet ein Roman, der vorgibt, ein Abenteuer zu erzählen, das sich als verhängnisvolles Schicksal entpuppt und – im übertragenen Sinne – weit über die eigentliche Geschichte hinausreicht? Mehrfach sagt der Erzähler, von einem Totenschiff könne man nur auf einem Riff entkommen, also durch den Tod. B. Traven hat seinem Helden auf dessen Totenschiff ein sehr gelungenes, passendes und eben doch unvermutetes Ende beschert.
Und die Düsternis an Bord der Totenschiffe, die alptraumhafte Ausweglosigkeit haben mir eine Vorstellung davon gegeben, was kafkaesk bedeutet, noch bevor ich Kafka gelesen hatte.
Volker Kutscher, Ein persönliches Nachwort, in B. Traven, Das Totenschiff
Das Buch Das Totenschiff ist dann aber noch nicht vorbei, denn Volker Kutscher hat ein sehr lesenswertes Nachwort beigesteuert. Das beschäftigt sich mit der eigenen Leseerfahrung, stellt fest, dass der Roman – leider – zeitlos ist, weil die Zahl der Verlorenen einhundert Jahre nach dem Erscheinen von B. Travens Erstling keineswegs geringer geworden ist.
[Rezensionsexemplar]
B. Traven: Das Totenschiff
Mit einem Nachwort von Volker Kutscher
Diogenes 2023
Hardcover, 416 Seiten
ISBN: 978-3-257-07269-3