Eine Welt wird neu besichtigt: Eintausend Jahre zwischen 526 und 1535 nach Christus nimmt Bernhard Jussen mit seinem historischen Sachbuch Das Geschenk des Orest in den Blick. Der Zeitrahmen stimmt – eher zufällig – fast mit dem überein, was gemeinhin als »Mittelalter« bezeichnet wird, wenn auch die Zäsuren ein wenig verschoben sind; dabei macht sich Jussen auf, den Epochen-Begriff und -Gedanken abzulösen.
Von »Mittelalter« ist in diesem Buch dann die Rede, wenn es darum geht, seine Sinnhaftigkeit infrage zu stellen; das gilt auch für »Antike« oder »Neuzeit«, aber auch für »Byzanz« oder »Staufer«, »Salier« oder »Karolinger«. Allesamt für historisch Interessierte gewohnte und vertraute Begriffe, die Jussen meidet, denn sie setzen seiner Einschätzung nach einen Deutungsrahmen, der das Verstehen be- und verhindert.
Ein schönes Beispiel ist das Wort »Byzanz«, das im Bereich der Historiographie vor allem der Abgrenzung dient(e) und sogar als Kampfbegriff Verwendung fand, um den lateinischen Westen vom griechischen Osten zu trennen. Interessant sind Jussens Hinweise auf das Nischenschicksal des Oströmischen Reichs in der Byzantinistik, die kurioserweise von der Geschichtswissenschaft getrennt ist.
Die Kaiser am Bosporus bleiben römische Kaiser, ihre Münzen römisch und ihr Imperium auch, bis ins 15. Jahrhundert.
Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Tatsächlich fristet »Byzanz« in Studium und erst Recht in der Schule ein Dasein unter Alberichs Tarnumhang – Ostrom ist unsichtbar. Das ist insofern hilfreich, weil man nicht in Erklärungsnot gerät, wenn man das Römische Reich 475 n. Chr. untergehen lassen will, obwohl es im Osten noch fast eintausend weitere Jahre existierte, bis zur Eroberung Konstantinopels.
Wird der Deutungsrahmen durch den Gebrauch von Begriffen wie »Antike«, »Mittelalter« und »Neuzeit« gesetzt, passt »Ostrom« nicht, denn bei Verwendung des Begriffes hätte sich die »Antike« in Teilen bis fast zum Ende des »Mittelalters« fortgesetzt. Diese Epochen-Begriffe sind mehr als bloße Worte, die zur Orientierung dienen – sie bestimmen die Orientierung und damit das, was angesehen wird und wie das geschieht.
Das Wort »Deutungsrahmen« bildet das ab: Was außerhalb des Rahmens liegt, weil es nicht passt, kann nicht wahrgenommen werden, ohne den Ansatz der Betrachtung schon infrage zu stellen. »Ostrom« wird auch aus diesem Grund zu »Byzanz« umdefiniert und in ein eigenes, kaum wahrnehmbares Fach abgeschoben oder auf andere Weise aus dem Rahmen gedrängt, damit dieser bestehen bleiben kann.
Die konkrete Forschung ist abhängig vom Rahmen.
Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Es geht aber noch weit über diese Kategorien und Begriffe hinaus. Jussen beklagt, dass Erkenntnisse von weitreichender Bedeutung (noch) nicht ihren Weg in die einschlägigen historischen Handbücher gefunden haben. Die Verwandtschaftsforschung im Rahmen der Kulturanthropologie hat zum Beispiel herausgearbeitet, dass es bis zum 15. Jahrhundert im lateinischen Europa keine Verwandtschaftsgeschlechter gegeben hat.
Das aber wurde dem »Mittelalter« unterstellt, in der Epoche, was die Allgemeinheit oder zumindest die halbwegs Gebildeten mitbekommen, sind es eben »Staufer« oder andere »Geschlechter«, die bestimmend für ganze Zeitabschnitte gewesen sein sollen. Ehen unter Verwandten sind aber erst seit dem 16. Jahrhundert als soziales Phänomen relevant; erst das 19. Jahrhundert gilt manchen als verwandtschaftsorientierte Gesellschaft.
Folglich:
Wenn überhaupt, dann zeigt erst das 19. Jahrhundert, also die europäische »Moderne«, was als typisch »Mittelalter« gilt.
Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Das Zitat macht deutlich, wie tiefgreifend anders der Blick ist, den Jussen auf jene Zeit zwischen 526 und 1535 n. Chr. wirft. In dem steht der Zusammenhang von Verwandtschaft und Sakralsystem im Mittelpunkt der Analyse. Das wirft ganz einfach klingende Fragen auf, etwa: Was ist eigentlich »Verwandtschaft« jenseits biologischer Abstammung?
Die Antworten, die vor 526 n.Chr. und danach gegeben wurden, unterscheiden sich beträchtlich voneinander; auch das im lateinischen Bereich etablierte System ist anders geartet als das in ähnlichen großen Kulturen zur gleichen Zeit, aber auch zu anderen kirchlichen Gemeinschaften. Jussen attestiert auf allen Ebenen fundamentale Unterschiede. Allein vor diesem Hintergrund gerät ein Begriff wie »Mittelalter« ins Wanken.
Jussen unternimmt einen Perspektivwechsel und verzichtet auf den klassischen Rahmen aus Epochen. Um zu zeigen, was er als Transformation der römischen Welt bzw. deren revolutionäre Umgestaltung von innen heraus bezeichnet, nutzt er auch andere Medien als die gewohnten Quellen, Schriften und Überlieferungen: Medien, Bilder, Darstellungen von Gräbern – andere Mittel als in der Historiographie üblicherweise im Mittelpunkt stehen.
Der Deutungsrahmen bestimmt das Interesse und trennt das vorhandene Material in »wichtig« und »unwichtig«.
Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Jussen bedient sich an »historischem Material aus dem Feld ästhetischer Kommunikation« und nimmt eine Umkehrung der üblichen Gewichtung vor. Bilder werden bislang bestenfalls als Zusatz bzw. Bestätigung von dem verwendet, was aus Urkunden und anderen Schriftquellen geschöpft wurde; dabei wurde oft nicht darauf geachtet, wie verbreitet das entsprechende Medium überhaupt gewesen ist; das aber ist ein Kriterium für dessen Aussagekraft.
Diese Bilder usw. waren kein eigenständiges Medium, was Jussen in seinem Buch Das Geschenk des Orest konsequent ändert. Das heißt nicht, dass Texte gar keine Rolle spielen, im Gegenteil. Das Grabmal der »Turteltaube«, einer vermutlich reichen Römerin, ist nämlich in bemerkenswerter Weise beschriftet: »Du warst auch wirklich eine Turteltaube.«
Das Lob des Sohnes auf seine verstorbene Mutter dürfte einigermaßen seltsam wirken, wenn man den massiven Bedeutungswandel des Wortes »Turteltaube« nicht kennt. Gewöhnlich verbindet man mit dem Verb »turteln« einen Flirt, doch bis zum Zeitalter Shakespeares war »Turteltaube« ein großes moralisches Lob, denn dahinter verbarg sich engagiertes Bemühen, soziales Ansehen zu sammeln für bessere Aussichten auf einen »guten Platz im Jenseits«.
Der Zusammenhang von Text und Bild des Grabmals […] lenkt den Blick auf eine buchstäblich revolutionäre Transformation des Gesellschaftssystems.
Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Auf die einzelnen Details des Grabes und deren Bedeutung kann hier unmöglich eingegangen werden, wichtig ist aber, dass Jussen darin ein Beispiel dafür sieht, dass der Umsturz nicht etwa von außen, von den vielbeschworenen »Barbaren«, »Germanen« oder »Völkern«, erzwungen wurde, sondern von innen, von den Römerinnen und Römern selbst. Das ist gemessen am Deutungsrahmen »Völkerwanderung« ein spektakulärer Ansatz.
Der Buchtitel Das Geschenk des Orest lenkt den Blick auf jenen, der für die alte, untergehende Welt steht, für einen der letzten Konsulen des westlichen Reichsteils, der seinen Amtsantritt 530 traditionell mit einem Geschenk an die römische Welt kundtat. Ein Diptychon aus Elfenbein als Teil der bekannten und gewohnten Inszenierung, die allerdings damit im westlichen Reichsteil an ein Ende gekommen war.
Auf eine Bewertung des Ansatzes, den Jussen verfolgt, verzichte ich bewusst, da ich Das Geschenk des Orest als eine Neubetrachtung eines Zeitraumes gelesen habe, der bislang unter dem Label »Mittelalter« geführt wurde. Selbst wenn man Jussens weitreichende Neubewertung – aus welchen Gründen auch immer – nicht teilen möchte, bleibt fraglos der Modernisierungsdruck auf die Geschichtswissenschaft festzustellen.
»Die Suche nach Darstellungsweisen des lateinischen Europa, die nicht auf das alte Epochendenken angewiesen sind und dieses auch nicht unbemerkt mit sich herumschleppen.«
Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Ein kritisches Wort erlaube ich mir aber. Man kann das, was über das Römische Reich seit Mitte des dritten Jahrhunderts verstärkt und später unaufhaltsam hereinbrach, vielleicht einer inneren Revolution gegenüberstellen, für die politische, wirtschaftliche und militärische Stabilität des Reiches sind diese Angriffe von erschütternder, vielleicht eben auch vernichtender Bedeutung gewesen – man denke nur an die Infrastruktur, das Finanzwesen etc.
Hinter Begriffen wie »Migrationsbewegungen« sollte man diese Raub-, Plünder- und Kriegszüge nicht verbergen, für die Opfer dieser Züge ist es auch gleichgültig, ob man von Barbaren, Stämmen, Völkern oder – nachvollziehbar – Identifikationsgemeinschaften spricht. Krieg bleibt Krieg, das ist gerade in unserer Zeit wichtig, damit nicht hinter Wortschleiern die brutale Gewalt verschwindet.
Wenn man also feststellt, dass der östliche Teil des Römischen Reiches bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts bestand und erst dann untergegangen ist, bedeutet das eben auch, dass der westliche schon lange vorher unterging. So wichtig und berechtigt Jussens Feststellung bezüglich einer Transformation im Inneren auch sind, bleiben äußere Faktoren á la Krieg, Plünderung, Angriffe, gewaltsame Landnahme bestehen.
Das aber ändert nichts an den Qualitäten des Sachbuchs, das einen tiefgreifenden Bruch mit historiographischen Konventionen darstellt, im Grunde genommen also dem Fach zu Leibe rückt wie die »Turteltaube« dem männlichen Ahnenverband im frühen sechsten Jahrhundert. Neue Deutungsrahmen sind immer spannend, insbesondere wenn sie so klug argumentieren und sich auf originelle Quellen stützen. Das Geschenk des Orest ist für den Leser ein großer Gewinn.
[Rezensionsexemplar]
Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526 – 1535
C.H. Beck 2023
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-406-78200-8