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Schlagwort: Mittelalter

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Wegen der dürftigen Quellenlage ist die Beschäftigung mit dem Thema Wikinger gernerell schwierig, im Falle der Frauen dank der patriarchalischen Gesellschaft noch problematischer. Doch treten dem modernen Leser spektakuläre Frauen gegenüber, die ihre Handlungsspielräume genutzt haben.

Ist die Annahme übertrieben, dass fiktionale Werke, vor allem Filme und Serien, das Geschichtsbild stärker beeinflussen als es Schule oder Sachbücher jemals könnten? Im Falle der Wikinger war die Serie Vikings sicherlich prägend. Das merkt man nicht zuletzt daran, dass Sachbücher zu dem Thema darauf Bezug nehmen, um etwa richtigzustellen oder zu verdeutlichen. So fließen auch in Walküren von Johanna Katrin Friðriksdóttir Hinweise auf Vikings ein, aber auch auf Game of Thrones.

Insbesondere die Darstellung von Lagertha in Vikings hat für Aufsehen gesorgt. Allein die Frage, ob es Schildmaiden gab, bewegte die Öffentlichkeit. Frauen mit Schild und Schwert auf einem für die Wikinger so typischen Raub- und Kriegszug? Ist das reine Fiktion oder war das  Wirklichkeit? Die Filmfigur Lagertha schlüpft sogar in die Rolle eines Jarl, sie steigt zu einer selbstständigen Herrscherin auf. Die Frage nach historischen Frauen in diesen Rollen wird von Friðriksdóttir wird im Falle der Kriegerin mit einem zurückhaltenden »Nein« beantwortet.

Das mag enttäuschen, ein Empfinden, das jenen blüht, die mit überzogenen Erwartungen an die Lektüre von Walküren gehen. Tatsächlich legt die Autorin manche Überlieferung als Beleg protofeministischer Handlungs- und Sichtweisen aus, doch sucht man nach der starken, unabhängigen Wikingerfrau in der patriarchalischen Welt der Nordmänner vergeblich. Die Spielräume für Frauen waren sehr eng, aber es gab Ausnahmen. Gelegenheit schafft Möglichkeiten (und auch den Zwang) zur Verwirklichung eigener Ideen und Absichten.

Es gab zwar nur wenige unabhängige Siedlerinnen, aber die Quellen legen nahe, dass ihre Unabhängigkeit häufig eher den Umständen als einer subversiven Natur geschuldet war.

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Aus der Wikingerzeit dringt dröhnendes Schweigen zu uns. Die Quellenlage ist problematisch, von einer historischen »Wirklichkeit« zu sprechen, ist in diesem Fall besonders schwierig. Die Wikinger haben faktisch keine zeitgenössischen Schriften hinterlassen, die Forschung ist auf wortkarge Runensteine, Archäologie, Quellen von Reisenden & Opfern sowie Jahrhunderte später niedergeschriebenen Sagas angewiesen.

Friðriksdóttir widmet sich diesem Problem, ohne den Leser mit den fachtypisch oft spröden Abhandlungen zu quälen. Die größere Lesbarkeit verschleiert nicht den Vorbehalt, unter dem viele Aussagen zwangsläufig stehen müssen. Die Sagas können – wie viele andere mittelalterliche Quellen auch – nicht wörtlich genommen werden. Sie sind aber in manchen Gesichtspunkten Spiegel einer vielfältigen und natürlich auch widersprüchlichen Lebenswirklichkeit. Bestimmte (Alltags-)Muster zu identifizieren ist eine der Absichten von Walküren.

Aus den Sagas lassen sich mittelbar Erkenntnisse ableiten, insbesondere wenn diese sich durch archäologische Funde oder Informationen von Runensteinen stützen lassen. Eine der spannendsten Überlieferungen ist die über eine verwitwete Frau, die Straßen und Brücken »erbaut«, also aus ihrem Vermögen finanziert hat. Sie war keineswegs singulär, von dieser spektakulären Tätigkeit (und dem erstaunlichen Handlungsspielraum) erfährt die Nachwelt von einem Runenstein und aus Sagas.

Ein einzelnes Wort aus einer einzigen Handschrift aus dem 14. Jahrhundert kann jedoch nicht als hinreichender Beleg für die Teilnahme an Schlachten durch Frauen in der Wikingerzeit angesehen werden.

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Besonders gut hat mir die Entscheidung der Autorin gefallen, ihr Buch entlang des Lebenszyklus einer Frau in der Wikingerzeit zu strukturieren. In sechs Kapiteln werden die Lebensabschnitte von Säuglingsalter und der Kindheit bis zu Alter und Tod geschildert, eine ebenso einfache wie für dem Leser nahestehende Vorgehensweise. Friðriksdóttirs Ziel besteht darin, die (Handlungs-) Spielräume von Frauen in der Wikingerzeit auszuloten.

Den Anfang bildet eine tolle Einleitung über die titelgebenden „Walküren“ sowie die Göttin Freya. Mir war bis zu dem großartigen Buch Die wahre Geschichte der Wikinger von Neil Price unbekannt, dass es neben Odins Walhalla auch noch eine zweite Halle für gefallene Krieger gab: Freyas Sessrumnir. Das ist ein typischer Vorgang, dass der Referenzrahmen der historischen Forschung (Das Geschenk des Orest) zwangsläufig eine Vorauswahl trifft, was gesehen wird und was nicht.

Zumutungen inhaltlicher Art bleiben nicht aus. Wenn es etwa um das Thema Kindertötung geht, wird dem modernen Leser mulmig. Es liegt auf der Hand, dass die Verhältnisse des Aufwachsens vor mehr als eintausend Jahren dramatisch von denen in einer hochtechnisierten Welt verschieden waren. Die bisweilen brutale Fremdheit der Zeit trifft den Leser mit großer Wucht.

Es ist schlichtweg ausgeschlossen, ein Schwert zur Hand zu nehmen und damit auf Anhieb umgehen zu können.

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Und wie steht es nun mit Kriegerinnen? Fridriksdóttir behandelt das Thema vielschichtig und differenziert. Wenn es etwa um das berühmte und in der breiten Öffentlichkeit diskutierte Grab in Birka geht, das bis zu einer genetischen Untersuchung wegen der Grabbeigaben als „Kriegergrab“ ausgelegt wurde, wird deutlich, wie schwer eine Einschätzung fällt. Die Person in dem Grab war weiblichen Geschlechts. Der Kurzschluss, es handele sich damit um den Beweis für die Existenz einer „Kriegerin“, liegt durchaus nahe.

Die Autorin hegt diese Auslegung auf mehrfache Weise ein. Da wäre zum einen die verschwindend geringe Zahl an Gräbern, die Frauen mit der Beigabe von Schwertern (drei) und anderen Waffen (siebzehn) beinhalten. Die Interpretation der Grabbeigaben hat sich in jüngster Zeit so weit gewandelt, dass man nicht mehr einfach von der Beigabe auf die Persönlichkeit, Tätigkeit des Bestatteten und seine soziale Stellung schließen kann.

An anderer Stelle geschieht das in Walküren sehr wohl, was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt. Doch sind »Waagen, Textilwerkzeuge und Nähkästchen« sehr viel gewöhnlicher und verbreiteter als ein Schwert (eine seltene Waffe bei den Wikingern), zweitens ist Textilverarbeitung anderweitig hinlänglich bezeugt. Schwieriger wird es bei den mysteriösen Stäben in manchen Frauengräbern, aus denen geschlossen wird, dass es sich um ein »emblematisches Symbol ihrer Rolle und Autorität« als Seherin handelt. Sollte man also analog dazu doch von der Grabbeigabe Schwert auf eine Leben der Toten als Kriegerin schließen?

Moderne Welt- und Menschensichten fließen in die Überlegungen von Fridriksdóttir mit ein. Die klugen Rückschlüsse werden dabei zwangsläufig ein wenig unscharf. Auch wenn die Zeitgenossen nicht das Konzept der „Kriegerin“ kannten, kann man den Begriff heute verwenden, sonst wäre der Begriff Wikinger auch problematisch. Die Frage ist jedoch, nach was wird eigentlich gesucht? Es ist ein Unterschied, ob eine Frau in einer Notlage zur Waffe greift, an einem Raubzug oder einer Landnahme teilnimmt oder gesellschaftlich als „Kriegerin“ auftrat und akzeptiert wurde.

Unsere Kultur ist seit jeher geneigt, Stärke mit Körperkraft und der Fähigkeit zur Unterwerfung anderer zu assoziieren – zumindest in Kontexten wie der Wikingerzeit. Statt unser Verständnis entsprechend anzupassen und zu erweitern, schwärmen wir von Frauen, die „so stark wie Männer“ waren.

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Interessanter sind andere Gesichtspunkte, wie das ausführliche Zitat zeigt. Bernhard Jussen hat in seinem Buch Das Geschenk des Orest auf die Bedeutung des Referenzrahmens für die historische Forschung hingewiesen, die zum Beispiel für die Auswahl und Einordnung von historischen Quellen entscheidend sei. Wie das Zitat zeigt, gilt das auch für die Fragen, die an die Vergangenheit gerichtet werden, die darüber bestimmen, was gesucht wird. Wer nach „männlicher“ Stärke bei Frauen sucht, grenzt andere Formen der „Stärke“ aus.

Ganz praktisch wäre zu diskutieren, ob der Rückschluss vom eher zierlichen Körperbau der Toten im berühmten Grab von Birka den Gebrauch eines Schwertes in der Schlacht ausschließt oder nicht. Völlig zurecht verweist Friðriksdóttir darauf, dass man nicht einfach ein Schwert in die Hand nehmen und kämpfen kann – jedenfalls nicht im Sinne eines ausgebildeten Kämpfers.

Das gilt auch für das Schild und besonders für Kampftaktiken á la Schildwall. Die Ausbildung kostete Zeit, die Frauen nicht hatten. Sie hatten in der Welt der Wikinger allein durch ihre Fruchtbarkeit wesentlich schlechtere Voraussetzungen, eine Ausbildung zur Kriegerin zu durchlaufen. Allerdings sollten die Schildmaiden laut Sagas unverheiratet sein, was dem Argument etwas Durchschlagskraft entzieht.

Für die überwältigende Mehrzahl der Männer der damaligen Zeit galt auch, dass sie keine »Zeit« zur Kampfausbildung hatten. Diese Männer waren demnach auch keine Krieger in sozialer Hinsicht, was nicht heißt, dass sie nicht gekämpft haben. Zu allen Zeiten haben unausgebildete und schlecht bewaffnete Kämpfer auf den Schlachtfeldern gefochten. Kämpfen allein macht noch keinen Krieger oder Kriegerin im Sinne eines sozialen Status. 

Das ausführliche Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeiten, mit denen die historische Forschung beim Thema Frauen in der Welt der Wikinger zu kämpfen hat. Einfache Antworten verbieten sich, der Leser muss letztlich aushalten, dass viele Dinge ungeklärt und widersprüchlich bleiben. Das allein macht das Buch wertvoll, gerade in einer Gegenwart, die von Weltverschlichtern geradezu überrannt wird. Walküren zeigt aber auch spektakuläre Frauengestalten, etwa die im berühmten Oseberg-Schiffsgrab bestatteten Frauen, die ein geheimnisvoller Schleier der Ungewissheit um gibt.

[Rezensionsexemplar]

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren
Frauen in der Welt der Wikinger
Aus dem Englischen von Franka Reinhart und Viktoria Topalova
C.H.Beck 2024
Gebunden 306 Seiten
ISBN: 978-3-406-81754-0

Lesevorhaben 12 für 2025

Diese zwölf Bücher möchte ich im laufenden Jahr lesen. Das ganze ist eine so genannte Challenge, auf die ich bei Instagram gestoßen bin.

Sechs Romane und sechs Sachbücher habe ich für mein Lesevorhaben 12 für 2025 ausgewählt. Der Fokus liegt ganz eindeutig auf historisch-politischen Themen, auch bei Schubert (»und seine Zeit«). Ich erhoffe mir einen weiteren Horizont nach der Lektüre, um das »Schaffen« geht es mir nicht. Meine mir im Vorjahr selbst auferlegte Buchkauf-Diät bleibt bestehen.

Thomas Medicus: Klaus Mann
Biographie, Schriftsteller, kenne alle Romane

Stephan Thome: Gott der Barbaren
Roman, Historisch, China

Friedrich Christian Delius: Die Sieben Sprachen des Schweigens
Essays, Autobiographisch, toller Autor

Thomas de Padova: Allein gegen die Schwerkraft
Biographisch, Erster Weltkrieg, Einstein

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge
Roman, Historische Dystopie, Hitler hat den Krieg gewonnen

Stefan Hertmans: Krieg und Terpentin
Roman, Erster Weltkrieg, Perspektive belgisch-flämisch

Nino Haratischwili: Das achte Leben
Roman, Georgien, epischer Mehrgenerationenroman

Arthur Koestler: Sonnenfinsternis
Roman, Stalinismus, mein zweites Buch vom Autor

Peter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit
Biographie, Komponist, mehrere Werke gehören zu meinen Favoriten

W.B. Bartlett: King Cnut
Biographie, Wikinger, neben Claudius & William der dritte Eroberer Englands

Robert Harris: Precipice
Roman, 1914, kenne fast alles von Harris

Mischa Meier: Die Völkerwanderung
Historiographie, es gab keine »Völker«, also auch keine »Völkerwanderung«

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Das Sachbuch stellt einen vollständigen Bruch mit vielen historiographischen Konventionen dar, das den Leser vor eine ebenso herausfordernde wie erkenntnisreiche Lektüre stellt. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Eine Welt wird neu besichtigt: Eintausend Jahre zwischen 526 und 1535 nach Christus nimmt Bernhard Jussen mit seinem historischen Sachbuch Das Geschenk des Orest in den Blick. Der Zeitrahmen stimmt – eher zufällig – fast mit dem überein, was gemeinhin als »Mittelalter« bezeichnet wird, wenn auch die Zäsuren ein wenig verschoben sind; dabei macht sich Jussen auf, den Epochen-Begriff und -Gedanken abzulösen.

Von »Mittelalter« ist in diesem Buch dann die Rede, wenn es darum geht, seine Sinnhaftigkeit infrage zu stellen; das gilt auch für »Antike« oder »Neuzeit«, aber auch für »Byzanz« oder »Staufer«, »Salier« oder »Karolinger«. Allesamt für historisch Interessierte gewohnte und vertraute Begriffe, die Jussen meidet, denn sie setzen seiner Einschätzung nach einen Deutungsrahmen, der das Verstehen be- und verhindert.

Ein schönes Beispiel ist das Wort »Byzanz«, das im Bereich der Historiographie vor allem der Abgrenzung dient(e) und sogar als Kampfbegriff Verwendung fand, um den lateinischen Westen vom griechischen Osten zu trennen. Interessant sind Jussens Hinweise auf das Nischenschicksal des Oströmischen Reichs in der Byzantinistik, die kurioserweise von der Geschichtswissenschaft getrennt ist.

Die Kaiser am Bosporus bleiben römische Kaiser, ihre Münzen römisch und ihr Imperium auch, bis ins 15. Jahrhundert.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Tatsächlich fristet »Byzanz« in Studium und erst Recht in der Schule ein Dasein unter Alberichs Tarnumhang – Ostrom ist unsichtbar. Das ist insofern hilfreich, weil man nicht in Erklärungsnot gerät, wenn man das Römische Reich 475 n. Chr. untergehen lassen will, obwohl es im Osten noch fast eintausend weitere Jahre existierte, bis zur Eroberung Konstantinopels.

Wird der Deutungsrahmen durch den Gebrauch von Begriffen wie »Antike«, »Mittelalter« und »Neuzeit« gesetzt, passt »Ostrom« nicht, denn bei Verwendung des Begriffes hätte sich die »Antike« in Teilen bis fast zum Ende des »Mittelalters« fortgesetzt. Diese Epochen-Begriffe sind mehr als bloße Worte, die zur Orientierung dienen – sie bestimmen die Orientierung und damit das, was angesehen wird und wie das geschieht.

Das Wort »Deutungsrahmen« bildet das ab: Was außerhalb des Rahmens liegt, weil es nicht passt, kann nicht wahrgenommen werden, ohne den Ansatz der Betrachtung schon infrage zu stellen. »Ostrom« wird auch aus diesem Grund zu »Byzanz« umdefiniert und in ein eigenes, kaum wahrnehmbares Fach abgeschoben oder auf andere Weise aus dem Rahmen gedrängt, damit dieser bestehen bleiben kann.

Die konkrete Forschung ist abhängig vom Rahmen.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Es geht aber noch weit über diese Kategorien und Begriffe hinaus. Jussen beklagt, dass Erkenntnisse von weitreichender Bedeutung (noch) nicht ihren Weg in die einschlägigen historischen Handbücher gefunden haben. Die Verwandtschaftsforschung im Rahmen der Kulturanthropologie hat zum Beispiel herausgearbeitet, dass es bis zum 15. Jahrhundert im lateinischen Europa keine Verwandtschaftsgeschlechter gegeben hat.

Das aber wurde dem »Mittelalter« unterstellt, in der Epoche, was die Allgemeinheit oder zumindest die halbwegs Gebildeten mitbekommen, sind es eben »Staufer« oder andere »Geschlechter«, die bestimmend für ganze Zeitabschnitte gewesen sein sollen. Ehen unter Verwandten sind aber erst seit dem 16. Jahrhundert als soziales Phänomen relevant; erst das 19. Jahrhundert gilt manchen als verwandtschaftsorientierte Gesellschaft.

Folglich:

Wenn überhaupt, dann zeigt erst das 19. Jahrhundert, also die europäische »Moderne«, was als typisch »Mittelalter« gilt.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Das Zitat macht deutlich, wie tiefgreifend anders der Blick ist, den Jussen auf jene Zeit zwischen 526 und 1535 n. Chr. wirft. In dem steht der Zusammenhang von Verwandtschaft und Sakralsystem im Mittelpunkt der Analyse. Das wirft ganz einfach klingende Fragen auf, etwa: Was ist eigentlich »Verwandtschaft« jenseits biologischer Abstammung?

Die Antworten, die vor 526 n.Chr. und danach gegeben wurden, unterscheiden sich beträchtlich voneinander; auch das im lateinischen Bereich etablierte System ist anders geartet als das in ähnlichen großen Kulturen zur gleichen Zeit, aber auch zu anderen kirchlichen Gemeinschaften. Jussen attestiert auf allen Ebenen fundamentale Unterschiede. Allein vor diesem Hintergrund gerät ein Begriff wie »Mittelalter« ins Wanken.

Jussen unternimmt einen Perspektivwechsel und verzichtet auf den klassischen Rahmen aus Epochen. Um zu zeigen, was er als Transformation der römischen Welt bzw. deren revolutionäre Umgestaltung von innen heraus bezeichnet, nutzt er auch andere Medien als die gewohnten Quellen, Schriften und Überlieferungen: Medien, Bilder, Darstellungen von Gräbern – andere Mittel als in der Historiographie üblicherweise im Mittelpunkt stehen.

Der Deutungsrahmen bestimmt das Interesse und trennt das vorhandene Material in »wichtig« und »unwichtig«.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Jussen bedient sich an »historischem Material aus dem Feld ästhetischer Kommunikation« und nimmt eine Umkehrung der üblichen Gewichtung vor. Bilder werden bislang bestenfalls als Zusatz bzw. Bestätigung von dem verwendet, was aus Urkunden und anderen Schriftquellen geschöpft wurde; dabei wurde oft nicht darauf geachtet, wie verbreitet das entsprechende Medium überhaupt gewesen ist; das aber ist ein Kriterium für dessen Aussagekraft.

Diese Bilder usw. waren kein eigenständiges Medium, was Jussen in seinem Buch Das Geschenk des Orest konsequent ändert. Das heißt nicht, dass Texte gar keine Rolle spielen, im Gegenteil. Das Grabmal der »Turteltaube«, einer vermutlich reichen Römerin, ist nämlich in bemerkenswerter Weise beschriftet: »Du warst auch wirklich eine Turteltaube.«

Das Lob des Sohnes auf seine verstorbene Mutter dürfte einigermaßen seltsam wirken, wenn man den massiven Bedeutungswandel des Wortes »Turteltaube« nicht kennt. Gewöhnlich verbindet man mit dem Verb »turteln« einen Flirt, doch bis zum Zeitalter Shakespeares war »Turteltaube« ein großes moralisches Lob, denn dahinter verbarg sich engagiertes Bemühen, soziales Ansehen zu sammeln für bessere Aussichten auf einen »guten Platz im Jenseits«.

Der Zusammenhang von Text und Bild des Grabmals […] lenkt den Blick auf eine buchstäblich revolutionäre Transformation des Gesellschaftssystems.

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Auf die einzelnen Details des Grabes und deren Bedeutung kann hier unmöglich eingegangen werden, wichtig ist aber, dass Jussen darin ein Beispiel dafür sieht, dass der Umsturz nicht etwa von außen, von den vielbeschworenen »Barbaren«, »Germanen« oder »Völkern«, erzwungen wurde, sondern von innen, von den Römerinnen und Römern selbst. Das ist gemessen am Deutungsrahmen »Völkerwanderung« ein spektakulärer Ansatz.

Der Buchtitel Das Geschenk des Orest lenkt den Blick auf jenen, der für die alte, untergehende Welt steht, für einen der letzten Konsulen des westlichen Reichsteils, der seinen Amtsantritt 530 traditionell mit einem Geschenk an die römische Welt kundtat. Ein Diptychon aus Elfenbein als Teil der bekannten und gewohnten Inszenierung, die allerdings damit im westlichen Reichsteil an ein Ende gekommen war.

Auf eine Bewertung des Ansatzes, den Jussen verfolgt, verzichte ich bewusst, da ich Das Geschenk des Orest als eine Neubetrachtung eines Zeitraumes gelesen habe, der bislang unter dem Label »Mittelalter« geführt wurde. Selbst wenn man Jussens weitreichende Neubewertung – aus welchen Gründen auch immer – nicht teilen möchte, bleibt fraglos der Modernisierungsdruck auf die Geschichtswissenschaft festzustellen.

»Die Suche nach Darstellungsweisen des lateinischen Europa, die nicht auf das alte Epochendenken angewiesen sind und dieses auch nicht unbemerkt mit sich herumschleppen.«

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest

Ein kritisches Wort erlaube ich mir aber. Man kann das, was über das Römische Reich seit Mitte des dritten Jahrhunderts verstärkt und später unaufhaltsam hereinbrach, vielleicht einer inneren Revolution gegenüberstellen, für die politische, wirtschaftliche und militärische Stabilität des Reiches sind diese Angriffe von erschütternder, vielleicht eben auch vernichtender Bedeutung gewesen – man denke nur an die Infrastruktur, das Finanzwesen etc.

Hinter Begriffen wie »Migrationsbewegungen« sollte man diese Raub-, Plünder- und Kriegszüge nicht verbergen, für die Opfer dieser Züge ist es auch gleichgültig, ob man von Barbaren, Stämmen, Völkern oder – nachvollziehbar – Identifikationsgemeinschaften spricht. Krieg bleibt Krieg, das ist gerade in unserer Zeit wichtig, damit nicht hinter Wortschleiern die brutale Gewalt verschwindet.

Wenn man also feststellt, dass der östliche Teil des Römischen Reiches bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts bestand und erst dann untergegangen ist, bedeutet das eben auch, dass der westliche schon lange vorher unterging. So wichtig und berechtigt Jussens Feststellung bezüglich einer Transformation im Inneren auch sind, bleiben äußere Faktoren á la Krieg, Plünderung, Angriffe, gewaltsame Landnahme bestehen.

Das aber ändert nichts an den Qualitäten des Sachbuchs, das einen tiefgreifenden Bruch mit historiographischen Konventionen darstellt, im Grunde genommen also dem Fach zu Leibe rückt wie die »Turteltaube« dem männlichen Ahnenverband im frühen sechsten Jahrhundert. Neue Deutungsrahmen sind immer spannend, insbesondere wenn sie so klug argumentieren und sich auf originelle Quellen stützen. Das Geschenk des Orest ist für den Leser ein großer Gewinn.

[Rezensionsexemplar]

Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest
Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526 – 1535
C.H. Beck 2023
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-406-78200-8

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Ein monumentales Werk über die Welt der Wikinger, die Hingabe des Autors ist auf jeder Seite spürbar. Cover S.Fischer, Bild mit Canva erstellt.

Nach rund vierhundertdreißig Seiten wird im voluminösen Werk von Neil Price jene Frage gestellt, die in den zurückliegenden Jahren eine recht breite Öffentlichkeit beschäftigte: Gab es Kriegerinnen unter den Wikingern? Heraufbeschworen wurde diese Frage nicht zuletzt durch die sehr erfolgreiche Filmserie Vikings, in der eine Figur namens Lagertha unter anderem in diese Rolle schlüpfte.

Da Filme bzw. Serien in der Regel eine sehr viel größere Reichweite haben und entsprechend das Bild von »der« Geschichte stärker prägen als jedes Buch, ist die »starke, eigenständige Wikinger-Frau« zu einem Topos geworden, der eine Menge über die Gegenwart aussagt – aber nicht unbedingt mit der Vergangenheit in Einklang zu bringen ist.

Price spricht von einem Klischee. Die Realität, wie sie in den Quellen nachzuweisen ist, ist profaner, komplizierter und in gewisser Hinsicht zufriedenstellend. Frauen und Männer hatten grob gesagt grundsätzlich zwei sehr verschiedene, durchaus voneinander abgegrenzte Bereiche, die Frau im Haushalt, der Mann außerhalb.

Nun ist »Haushalt« in der Wikinger-Zeit etwas grundsätzlich anderes als Küche und Kinderzimmer (beides gab es nicht) der wohlig-konservativen Heile-Welt-Ideologie; »Haushalt« meint alle Familienmitglieder, Knechte, Sklaven, deren Versorgung, finanzielle Dinge und vieles mehr. Damit ist, so Price, erhebliche Macht verbunden, sehr viele, Frauen mussten (überlebens-)wichtige Entscheidungen treffen.

Die Zweiteilung der Welt spiegelt sich auch in der Kleidung der Wikinger, die überraschenderweise als Saubermänner und -frauen daherkommen, weil sie vergleichsweise viel Wert auf Körperpflege und Äußeres legten. In Männerkleidung sind Frauen so selten geschlüpft, wie sie Männerrollen übernommen haben – aber das kam eben vor. Und es gab tatsächlich Kriegerinnen und damit Frauen, die ganz explizit im Kerngeschäft der Männerwelt tätig waren.

Das ist nur ein – nebensächlicher – Aspekt in dem gewaltigen Werk, das Neil Price geschaffen hat, aber er sagt einiges über die Herangehensweise des Autors. Er schildert die Welt der Wikinger sehr systematisch und klar strukturiert, fängt bei den Grundlagen während der Zeit der Römer an, zu denen die im Norden Europas lebenden Menschen ausgiebige Kontakte pflegten; schildert die Übergangs– und Krisenzeit des sechsten und siebten Jahrhunderts und entwirft ein Erklärmodell, wie und warum sich die spezifische Wikingergesellschaft herausgebildet hat.

Das wirkt alles fundiert und wird bemerkenswert gut und nachvollziehbar dargeboten. In der Mitte des Buches trägt der Leser bereits einen ganzen Sack an interessanten Informationen mit sich herum, wenn es um die Quintessenz der Nordmänner geht: Die bewaffneten Raubzüge und die Expansion. Es würde den Rahmen sprengen, hier auch nur eine Skizze zu liefern, wie und warum sich diese Entwicklung vollzogen hat.

Einhundert Jahre nach Lindisfarne, also schon richtig in der Wikingerzeit, hatten die Skandinavier auf der politischen Landkarte Europa bereits unauslöschliche Spuren hinterlassen.

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Price ist das Kunststück gelungen, die Betrachtungsweise der Ereignisse um den berühmt-berüchtigten Überfall auf das Kloster Lindisfarne 792 nach Christus, die als Auftakt der Raub- und Plünderzüge gesehen werden, neu einzuordnen und auszulegen. Daran knüpft er die Darstellung und Analyse der verblüffend schnellen Eskalation an, die innerhalb weniger Jahrzehnte zur Wikinger-Herrschaft über fast ganz England führte!

Manche Dinge, die Price aufführt, sind atemberaubend. Die Franken haben sich gegen die Bedrohung durch hohe Geldzahlungen zu schützen versucht. Laut Price sind dabei insgesamt rund 14 Prozent der gesamten Münzprägung des Frankenreiches an die Wikinger geflossen – wohlgemerkt: eines Jahrhunderts! Vierzehn von einhundert Jahre haben die Münzstätten allein für die Zahlungen an die Wikinger gearbeitet!

Hinzu kamen noch unzählige Verluste durch Naturalien, Verschleppte und Zerstörungen, außerdem Kosten für den Festungsbau usw. Für die Wirtschaft des fränkischen Reiches waren die Wikinger eine verheerende Plage. Price lässt auch keinen Zweifel daran, mit welcher Brutalität und Gnadenlosigkeit sie dabei vorgingen, es bleibt keinen Platz für jegliche Form der Verherrlichung oder Stilisierung. Tod, Verderben, Vergewaltigungen, Versklavungen für den eigenen Bedarf und ferne Märkte – die Liste der Schandtaten ist lang.

Die Wikinger waren nicht nur Sklavenhändler – die Entführung, der Verkauf und die Zwangsausbeutung von Menschen waren auch stets ein zentraler Pfeiler ihrer Kultur.

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger

Da diesen Schattenseiten eben auch kulturelle Höchstleistungen gegenüberstehen, man denke nur an den Schiffsbau, den mehr oder weniger globalen Handel, die unglaublichen Entdeckungsfahrten usw., bleibt ein im Grunde genommen typisches, sehr menschliches Bild, ein epochemachendes Reich mit seinem umfassenden Einfluss auf die Zeit seiner Existenz.

Vor allem merkt man diesem Buch an, wie sehr der Autor mit dem Thema verhaftet ist. 1408 wurde auf Grönland die letzte christliche Hochzeit gefeiert, die überliefert ist. Zum Jahrestag 2008 ist Neil Price mit anderen dorthin gefahren, um diesen Jahrestag zu begehen, Eindrücke zu sammeln und davon in seinem Buch zu berichten. Bücher können bewegen, wenn das Thema ihre Autoren bewegt. So ist das in diesem monumentalen Werk auf jeder einzelnen Seite.

Trivia: Besonders gern habe ich Price’ Bemerkungen über das Verhältnis von Wikingern und den Piraten des 17. / 18. Jahrhunderts gelesen; meine eigene Arbeit schlägt nämlich auch eine Brücke, nämlich im vierten Teil meiner Abenteuerreihe um die Piratenbrüder. Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen, 1735 und 1010. Der Titel: Vinland.

Neil Price: Die wahre Geschichte der Wikinger
aus dem Englischen von Ursula Blank-Sangmeister
S. FISCHER 2022
Hardcover 768 Seiten
ISBN: 978-3-10-397255-9

Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt

Ein ganz wunderbares Projekt ist dieser Atlas, trotz der kritischen Aspekte, die ich in meiner Besprechung vorbringe, möchte ich ihn nicht missen. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Was für ein wunderbarer Schmöker! Wer in seiner Schulzeit eine Karten-Phobie erworben hat, sollte dennoch einen Blick wagen. Es wird nicht bei einem bleiben, denn hunderte von Karten laden dazu ein, ausgedehnte Streifzüge durch die Geschichte zu unternehmen.

Die Zusammenstellung ist sehr vielfältig, Christian Grataloup folgt dabei dem Weg der Reduktion, damit die großen, langen Linien nicht von zu vielen Details verstellt werden. So entdeckt der Leser sehr interessante Karten, die einen ganz neuen Blick auf die Geschichte der Welt eröffnen, als handelte es sich um frisch eingefügte Fenster, welche die Sicht auf bislang unbekannte Landschaften freigeben. Neben altbekannten, vertrauten Karten gibt es enorm viel Neues zu entdecken.

Ein schönes Beispiel ist Afrika. Eine Darstellung befasst sich mit der »Sahara, bevor sie Wüste wurde«. Der Leser wird auf die Wandlung der Welt aufmerksam, etwa bei der Darstellung des Tschad-Sees, ihm wird bewusst, wie schnell sich ein ehemals feuchtes Gebiet in eine lebensfeindliche Trockenöde verwandeln kann.

Diesem umwelthistorischen Aspekt folgt eine weitere, die sich mit der Metallgewinnung in Afrika in der Zeit vor Christi Geburt befasst. Solche Karten haben einen hohen Wert, denn sie entreißen jene Gebiete, die lange aus europäischer Sicht »unkultiviert« galten, aus dem Schatten des Vorurteils zugunsten eines differenzierteren Bildes.

Neben solchen Fokus-Karten gibt es welche, die globale Zusammenhänge darstellen. Ein schönes Beispiel ist die Antike, etwa um 200 n. Chr. Gewöhnlich wird auf Karten zu dieser Zeit die größte Ausdehnung des abgebildet, man sieht noch die Germanenstämme oder das Parther-Reich im Osten – nicht aber China und die beide Welten miteinander verbindenden Linien. Diese Lücke schließt Grataloups Atlas.

Wunderbarer Lesebegleiter

Für mich als Leser bietet der Atlas noch eine ganz andere, unschätzbare Möglichkeit, nämlich als Lesebegleiter, der einen schnellen Blick auf eine Karte ermöglicht, die das Lesen erleichtern oder bereichern bzw. eine kurze Orientierung ermöglichen, ohne im Internet suchen zu müssen.

Zwei Beispiele: Éric Vuillards jüngster Roman Ein ehrenvoller Abgang schildert die Zustände in Indochina und die Schlacht um Cao Bang mit ihren verheerenden Folgen für die französischen Kolonialtruppen. Der Atlas von Christian Grataloup bietet eine wunderbare Karte zu diesem Thema, man erhält auf einen Blick einen Eindruck davon, worum es sich bei »Indochina« eigentlich handelt, wie die Machtverhältnisse im Jahr 1950 waren und wo Cao Bang eigentlich liegt.

Die Karte gibt auf einen Blick eine Menge Informationen rund um das Thema Indochina-Krieg – die Informationen im Kästchen rechts daneben zu Dien Bien Phu sind etwas arg verkürzt.

Sicherlich kann man Vuillards Roman auch ohne genauere Kenntnis der Umstände lesen und verstehen, aber mit dieser vertieft sich das Lesen. Das gilt auch für den brillanten Roman Der schmale Pfad durchs Hinterland von Richard Flanagan, der die fürchterlichen Zustände in einem japanischen Kriegsgefangenenlager in Burma schildert. Dort wird eine Eisenbahn durch den Dschungel getrieben, man kann sich auf der Karte »Die Bahnlinie des Todes« auf einen Blick einen Eindruck über das Wo und Wie verschaffen.

Hervorgehoben wird die Kwai-Brücke – was sicherlich im Zusammenhang mit dem berühmten Kino-Film steht; für Leser des Buches von Flanagan wird es mit dieser Darstellung sehr viel leichter, die Handlung zu verorten.

Die Liste dieser Beispiele ließe sich problemlos fortsetzen. Natürlich hat ein Atlas im Gegensatz zum Internet Grenzen, dieser ist im Umfang limitiert, jenes zumindest theoretisch grenzenlos. Dafür folgt Die Geschichte der Welt einem klaren und transparent formulierten Konzept, nämlich die langen Linien der historischen Entwicklung der Menschheit darzulegen, ohne in historischen Details zu ersticken. Das Internet ist naturgemäß in dieser Hinsicht nicht aufgearbeitet und angesichts der wirren Überfülle verheddern sich Streifzüge rasch im dichten Informationsgestrüpp.

Einige kritische Anmerkungen

Allerdings darf man die Auswahl der Karten durchaus kritisch hinterfragen. Frankreich spielt in vielen Fällen eine völlig unangemessene prominente Rolle. So werden die Leser recht ausführlich über die Feldzüge Ludwigs XIV. informiert, während der komplette Dreißigjährige Krieg auf einer einzigen Karte abgefertigt wird. Die ist, bei allem nötigen Respekt, bar jeder Aussagekraft, sie verwirrt eher, als sie irgendetwas erklärt.

Der französische Akzent dieser Weltgeschichte ist in vielen Aspekten spürbar (z.B. bei den Indochina-Karten) und steht im Missverhältnis zu der tatsächlichen Relevanz. Zwar lässt sich die recht ausführliche Schilderung der Französischen Revolution sowie Napoleons durchaus rechtfertigen, nicht jedoch die vielen Karten zur (aus deutscher Sicht) westlichen Front im Ersten Weltkrieg.

Geradezu befremdlich ist eine Karte, die sich der französischen Widerstandsaktionen im Zweiten Weltkrieg annimmt. Einmal ist die tatsächliche Bedeutung von Partisanenbewegungen für den Kriegsverlauf generell fraglich, zweitens stellt sich die Frage, warum Frankreich und nicht etwa die Sowjetunion, Polen, die Ukraine oder die Balkanstaaten ausgewählt wurden, die bezüglich ihrer militärisch-politischen Bedeutung eher Beachtung verdienten.

Dieses Ungleichgewicht treibt Blüten bei jener Karte, die sich mit »Afrika im Zweiten Weltkrieg (1940 – 1945)« befasst, was allein wegen der genannten Zeitspanne befremdet, dann nach Mai 1943 befanden sich keine Achsenmächte mehr auf afrikanischem Boden; vor allem ist die große Karte auf Nordafrika beschränkt, die viel interessantere und weitgehend ignorierte personelle Beteiligung von Kolonialtruppen am Krieg bleibt ungenannt.

Grotesk ist, dass Grataloup zwei vernachlässigenswerte Operationen freifranzösischer Truppen eigens aufführt, darunter das Scharmützelchen bei Bir Hakeim. In einem Atlas, der sich mit großen weltgeschichtlichen Linien auseinandersetzt, hat das nun gar nichts zu suchen. Frankreich war nach 1940 militärisch zweitrangig und blieb es defacto bis zum Kriegsende; eine Karte, die über die Kollaboration in Europa während dieser Zeit informiert, wäre für die Nation vermutlich wenig schmeichelhaft.

Unangemessene Begrifflichkeit

Es verwundert, dass noch immer von „polnischen Teilungen“ die Rede ist; die »Teilungen Polens« wäre der korrekte Begriff, denn er unterstreicht, dass der vernichtete Staat das Opfer war. Es wäre zudem wünschenswert gewesen, in diesem Zusammenhang auf die vierte Teilung 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt zu verweisen, entweder durch eine Brechung der Zeitfolge oder einen Verweis auf die entsprechende Karte im Buch.

In Bezug auf die Krim wird eine haarsträubend tendenziöse Formulierung gebraucht. Die Karte ist allen Ernstes mit „Die russisch-ukrainische Krise“ überschrieben, in der Legende heißt es wörtlich „Neue russisch-ukrainische Grenze“. Der Hinweis im Text, dass der Annexion der Krim durch Russland eine „international nicht anerkannte Volksabstimmung“ vorangegangen sei, ist irreführend: Vorausgegangen war eine militärische Angriffsoperation und Besetzung der Krim und damit ein eklatanter Rechtsbruch.

Solche sprachlichen Regelungen trüben den sehr positiven Gesamteindruck des Atlas. Daher sei hier ein Hinweis gestattet: Karten bilden nie so etwas wie Wirklichkeit oder gar Wahrheit ab, sondern immer eine Interpretation, eine Weltsicht. Kritische Lektüre ist immer nötig – aber mündige Leser werden durch einen Atlas wie diesen auch dazu angeregt.

[Rezensionsexemplar]

Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt – Ein Atlas
Aus dem Französischen von Martin Bayer, Katja Hald, Anja Lerz, Reiner Pfleiderer und Albrecht Schreiber
C.H. Beck 2022
Gebunden 642 Seiten
ISBN: 978-3-406-77345-7

© 2025 Alexander Preuße

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