Bei diesem Roman komme ich mir vor wie ein literarischer Geisterfahrer. In so vielen Jahresrückblicken 2022 wurde Lincoln Highway vom Amor Towels als Highlight aufgeführt, Buchblogs, denen ich zahlreiche tolle Anregungen zu verdanken habe, loben ihn.
Mich hat er eher enttäuscht, dabei war ich von Ein Gentleman in Moskau sehr angetan. Die literarischen Zutaten jedenfalls sind gut: Road-Novel, eine Buddy-Gruppe mit divergierenden Zielen und Absichten, ein Strauß unerwarteter Begegnungen und viele Wendungen – alles da, was es braucht.
Zu den großen Mythen der USA gehört die Mobilität, die über ein reines Bewegen hinausgeht; zu den großen Mythen der westlichen Welt gehört seit Homer der Aufbruch, oft genug der von außen erzwungene. So in diesem Fall, denn die Hauptfiguren müssen sich aus dem Staub machen, allerdings aus ganz unterschiedlichen Motiven.
Towles schickt seine Helden auf eine haarsträubende Irrfahrt, mit aberwitzigen Wendungen und wunderbaren Zuspitzungen. Ganz gemächlich entfaltet sich die Geschichte, weitet sich und erreicht eine beträchtliche inhaltliche Tiefe, die an einer ganz wunderbaren Stelle das menschliche Sein an sich beleuchtet.
Doch gibt es für meinen Geschmack durch den Schreibstil und Aufbau einige arge Redundanzen. Der Roman lässt ab der Hälfte stark nach, verliert an Spannung, mehr und mehr Handlungs– und Gesprächsmuster wiederholten sich. Die Verschränkung mit dem Ulysses wirkte zunächst cool, im Verlauf zunehmend konstruiert.
Irgendwo auf diesem Weg bin ich aus dem Zug oder Auto gefallen bzw. über Bord gegangen. Abgebrochen habe ich das Buch aber nicht, zum Glück, denn das Ende ist wiederum sehr gelungen. Gern verweise ich auf ausführlichere und lobende Besprechungen des Buches, denn jeder Leser liest sich selbst auf eine ganz andere Weise in einen Roman hinein: Horatio-Bücher & Kaffeehaussitzer.
Amor Towels: Lincoln Highway Aus dem Englischen von Susanne Höbel Hanser Verlag 2022 Gebunden 576 Seiten ISBN: 978-3-446-27400-6
Wer zu einem Klassiker greift, erwartet Patina. Kenneth Fearings Die große Uhr hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten. Die Technologie der 1940er Jahre und die an die Zukunft geknüpften, einigermaßen ulkig anmutenden Erwartungen etwa; die Drinks und Rauchwaren immer und überall, vom anfangs aufscheindenden Frauenbild einmal ganz zu schweigen.
Im Fremden schärft sich aber auch immer das Bild der eigenen Gegenwart, als blicke man in einen verzerrten Spiegel, der neben den Unterschieden eben auch Bekanntes wiederkennen lässt. Die Medienkritik, die Fearing übt, lässt sich in vielerlei Hinsicht auf die heutige Zeit übertragen, aber auch seine Sicht der problematischen Seiten einer kapitalistischen Gesellschaft.
Im Kern handelt es sich bei dem Roman aber um einen Noir-Thriller, Spannung gibt es eine Menge, nach einer recht ausführlichen Exposition. Man darf dankbar sein, dass Die große Uhr nicht jene im Übermaß anzutreffende Erzähl-Struktur eines kurzen, dramatischen Häppchens zu Beginn mit nachfolgendem Rückblick aufweist, sondern – klassisch – erzählt. Spannungsjunkies, die schon nach einer halben Seite ihren Kick brauchen, sollten vielleicht besser die Finger von dem Roman lassen.
Ich glaube nicht an eckige Pflöcke in runden Löchern. Der Preis ist zu hoch.
Kenneth Fearing: Die große Uhr
Zwielichtig ist es von Anbeginn an. Die Hauptfigur, George Stroud, lebt in scheinbar wohlsituierten Verhältnissen: Frau, Kind, Job als Chefredakteur einer True-Crime-Zeitschrift, ein eigenes Häuschen in Aussicht. Doch das Selbstgespräch vor dem Spiegel im zweiten Kapitel lässt Abgründe erahnen, die Strouds Leben belasten, privat und beruflich.
Nicht nur Tagträume bilden einen illusorischen Weg aus der als unerträglich empfundenen Realität, der Protagonist ist ein notorischer Fremdgänger. Sein sexuelles Begehren wird ausgerechnet von Pauline Delos geweckt, der Geliebten seines Chefs Earl Janoth, beide landen gemeinsam im Hotelbett und das Drama, das sich von der ersten Seite ankündigt, nimmt seinen Lauf.
Ein jäher Wendepunkt setzt Spiel und Gegenspiel in Gang, das den Leser bis zum Ende in Atem hält. Dank der gelungenen Exposition der Handlung befindet sich George Stroud in einer vertrackten Zwangslage, er muss ein Ermittlungsteam auf sich selbst ansetzen – es ist nicht nur für ihn unheimlich, sein Ego Stück für Stück enthüllt zu sehen. Die gesuchte Person, also er selbst, steht unter Mordverdacht, und so muss Stroud alles tun, um den Fortgang der Suche zu behindern.
(…) stand ich vor dem Janoth-Building, das wie eine unsterbliche Gottheit aus Stein inmitten eines Häuserwaldes aufragt.
Kenneth Fearing: Die große Uhr
Sein eigenes (Fehl-)Verhalten zwingt ihn zu diesem Doppelspiel, er will vermeiden, dass er sein Leben oder seine Familie verliert. Welchen Wert diese hat, angesichts seines Lebenswandels, bleibt offen; er könnte nur um die bequeme bürgerliche Fassade besorgt sein oder aber angesichts des drohenden Verlusts ihre tatsächliche Bedeutung für ihn erkannt haben.
In jedem Fall reicht die Motivation, sich dem lebensgefährlichen Drahtseilakt auszusetzen. Gefahr droht, denn in der vom Takt der »großen Uhr« beherrschten Welt ist ein Menschenleben weniger wert als der ungestörte, reibungslose Fortgang der Maschinen.
Fearing erzählt aus wechselnden Perspektiven, was den Romanfiguren eine gewisse Mehrschichtigkeit verleiht. So ist der Unternehmer Janoth zwar ein kapitalistischer Geschäftsmann, zugleich aber darauf bedacht, Qualitätsjournalismus in seinen Blättern zu fördern. Durch die Perspektivwechsel kommen außerdem Spiel und Gegenspiel zur Geltung, während die Handlung auf ihr Finale zustrebt.
Ich kannte das Riskio und den Preis.
Kenneth Fearing: Die große Uhr
Im Hintergrund aber tickt die »große Uhr«, ein Sinnbild für die nimmermüden, allmächtigen Mühlen der kapitalistischen Welt, in der die Menschen gezwungen sind, ihr Leben dem Takt der Uhr anzupassen und nicht – wie es in der amerikanischen Verfassung heißt – nach Glück zu streben. Die Uhr ist aber zugleich ein Symbol der Sterblichkeit, der Tod liegt über der Existenz wie ein mächtiger dunkler Schatten, eine ewige Winternacht. Noir par excellence!
Die große Uhr ist der dritte Band einer Krimi-Reihe des Elsinor-Verlages, die Klassiker der Genres neu auflegt. Herausgegeben wird sie von Martin Compart, der zu dem Roman ein ausführliches Nachwort mit vielen interessanten Informationen zu Autor und Werk sowie Denkanstößen verfasst hat, die der sehr fesselnden und unterhaltsamen Lektüre rückwirkend noch mehr Tiefe verleihen.
Mit diesem Roman aus der Feder des jüngst wieder »entdeckten« Autors James Baldwin reist der Leser in das Harlem der 1930er Jahre. Die Hauptfigur, ein kluger, unsicherer Heranwachsender namens John, lebt im Schatten seines sich überaus fromm gebenden, gewalttätigen und die Familie beherrschenden Vaters, mit dem er sich in einem dauerhaften Konflikt befindet.
Baldwins Sprache und Fabulierkunst sind beeindruckend, auch in der deutschen Übersetzung. Bemerkenswert und oft beklemmend sind die Passagen über die Kirche und die ostentativ zu Schau getragene Frömmigkeit, die wie ein zu eng geschnürtes Korsett im Leben der Gläubigen wirkt. Ein menschliches Schwein bleibt auch dann ein Schwein, auch wenn es inbrünstig den Herrn anruft.
Nach einer Bluttat versammeln sich die Familienmitglieder zum Gottesdienst. Baldwin widmet einigen von ihnen einen langen, persönlichen Abschnitt, den er mit »Gebet« überschreibt, Gedanken voller Erinnerungen und Assoziationen. Ihr Weg, den sie zu diesem Moment zurückgelegt haben, wird erzählt. Jeder hat seine Geschichte, die erklärt, woraus die haarsträubenden (Miss-)Handlungen der Mitmenschen, oft begangen im Namen des »Herrn«, herrühren.
Natürlich spielt auch die Hautfarbe eine Rolle, Rassismus, wie er bis in die Gegenwart nicht wesentlich besser geworden ist, schlägt den Schwarzen entgegen, was wiederum in psychischer und physischer Gewalt gegenüber den eigenen Leuten münden kann. Ein wenig hat mich Von dieser Welt das an Die Farbe Lila erinnert, jene saufenden, hurenden Tunichtgute, die den Druck der weißen Gesellschaft an ihre Frauen und Kinder weitergaben.
Ein lesenswerter Roman, der zum Glück nichts verschweigt, eben auch nicht, wenn die Schwarzen einander als »Nigger« bezeichnen, verhöhnend, verspottend oder einfach nur achtlos hingeworfen. Manche Abschnitte, in denen Baldwin wortmächtig die religiöse Verzückung seiner Protagonisten nachzeichnet, empfand ich schwer erträglich, denn mein beherrschender Gedanke war, dass auf diese Weise fanatische Gotteskrieger geboren werden.
James Baldwin: Von dieser Welt aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow dtv 2018 Taschenbuch, 320 Seiten ISBN: 978-3-423-43413-3
Wenn Theo Decker, die Hauptperson des Romans, zu Beginn der Erzählung diesen Punkt erreicht hat, in Amsterdam festsitzt und darüber nachdenkt, dass er von seiner Mutter geträumt hat, liegt ein Höllenritt hinter ihm. Der Leser des großartigen Romans wird ihm dabei über viele hundert Seiten folgen, geleitet von der wunderbaren Sprache Donna Tartts.
Tatsächlich habe ich eine gewisse Scheu gehabt, Der Distelfink zu lesen. Mancher hochgelobter amerikanischer Schinken entpuppte sich in der Vergangenheit als Ausbund manierierter Geschwätzigkeit, selbstverliebt und in gewisser Weise hohl. Derartige Bücher zu lesen ist für mich ebenso anstrengend wie unangenehm. Ein pelziges Gefühl der Zeitverschwendung bleibt zurück.
Ganz anders Tartts Meisterwerk. Zum Glück habe ich mich doch überwunden und zum Hörbuch gegriffen: Eine Wahl, die sich als goldrichtig entpuppte, denn Matthias Koerberlin liest fantastisch. Die Personen, die Theos Welt bevölkern, bekommen allein durch seine Stimme Charakter. Die ersten Wochen des Jahres 2021 waren geprägt von diesem großartigen Hörgenuss.
Es passierte in New York, am 10. April, vor vierzehn Jahren. (Sogar meine Hand sperrt sich gegen das Datum. Beim Schreiben musste ich Druck ausüben, damit der Stift sich weiter über das Papier bewegte. Es war ein völlig normaler Tag, aber jetzt ragt er aus dem Kalender wie ein rostiger Nagel.)
Donna Tartt: Der Distelfink
Tartt verfügt über ein schier unerschöpfliches Vermögen, sprachliche Bilder zu kreieren und Charakteren Gestalt und Tiefe zu geben. Außerdem nutzt sie dezente Vorausdeutungen, ein Muster, das sie im Laufe der Handlung selbst durchbricht, was einem schönen, unerwarteten Twist am Ende des Buches wirkungsvoller macht.
Wie das Zitat schön zeigt, leidet Theo an einem Trauma; das Bild eines rostigen Nagels im Kalender ist brillant und nur ein klitzekleines Beispiel von Tartts Sprachkunst.
Der erste Satz des Romans deutet bereits an, wer die Person ist, an der sich dieses Trauma festmacht. Die Stimmung, die in den Abschnitten auf dem Weg zur Katastrophe eingefangen wird, wirkt auf mich wie ein Echo von 9/11, heruntergebrochen auf ein individuelles Schicksal. Eine Welt zerbricht und mit ihr die Selbstverständlichkeit des Daseins.
Sie hatten überhaupt nichts Bedrohliches an sich, im Gegenteil, sie waren beruhigend rundlich, von mittlerem Alter und gekleidet wie zwei Aushilfslehrer, aber obwohl sie beide ein freundliches Gesicht machten, wusste ich im selben Augenblick, dass mein Leben, wie ich es kannte, vorbei war.
Donna Tartt: Der Distelfink
Theos langer Weg von jenem traumatischen Erlebnis zu einer lebensfähigen Existenz, gewunden, reich an dunklen Pfaden und aus bürgerlicher Sicht höchst tadeligem Verhalten, wird von einigen außerordentlich gelungenen Figuren begleitet. Vor allem Boris, nach eigenem Bekunden der beste Freund des Helden, ist ein Geniestreich der Autorin.
Trotz des gewaltigen Umfangs des Romans sind es nicht mehr als sechs, sieben wirklich wichtige Personen, die umschwirrt von einem Schwarm Nebenfiguren Theos Leben begleiten und beeinflussen. Er findet Freunde, verliert sie wieder aus den Augen, trifft sie erneut, verändert und für die Erzähldynamik ungeheurer belebend.
Der Buchtitel geht auf ein Bild zurück, das den Vogel zeigt. Es ist das Leitsymbol der Handlung und begleitet die Hauptfiguren und den Leser bis zum Ende der Geschichte. In ihm bündeln sich viele Motive und Handlungsfäden, zum geringen Teil künstlerischer, zum größeren wirtschaftlicher bzw. krimineller Natur.
In dem nüchternen Zimmer mit seinen zartweißen Rigipswänden erwachten die gedämpften Farben zum Leben, und obwohl die Oberfläche des Gemäldes von einer geisterhaft zarten Staubschicht bedeckt war, atmete darin die Stimmung aus lichtdurchfluteter Luftigkeit einer Wand, die einem offenen Fenster gegenüberlag.
Donna Tartt: Der Distelfink
Denn Der Distelfink ist neben vielem anderen auch eine sehr spannende Geschichte. Der Anfang wirkt etwas konventionell, wenn Theo in einem Hotelzimmer hockt und der Leser danach weit in die Vergangenheit geschickt wird, in der jener Weg beginnt, der den Protagonisten in eine irrwitzige Zwangslage geführt hat.
An einer Stelle stürzt das Buch ab wie ein Flugzeug mit Strömungsabriss, denn diese Zwangslage basiert auf einem Umstand, der völliger Nonsens ist, zumindest in jenem vereinten Europa, das wir (noch) bewohnen. Für wenige Seiten wird der Geschichte das logische Fundament entzogen.
Zum Glück fängt sich die Erzählung rasch wieder und der selbst schreibende Leser registriert halb erleichtert, halb erstaunt: So etwas kann auch einer herausragenden Autorin passieren und dem geschärften Lektoratsauge entgehen.
Als Leser kann man getrost darüber hinwegsehen und sollte sich unter keinen Umständen von der Lektüre abhalten lassen. Andernfalls entgehen einem sprachliche Schmuckstücke voll spöttischer Boshaftigkeit, die gelegentlich Nazi-Bilder aufgreifen, was sich für einen deutschen Autor noch immer verbieten würde; in Der Distelfink aber eine enorme Wirkung entfaltet – wie im Falle des “Hochzeits-Obergruppenführers“.
Es war Anne de Larmessin, die genau den richtigen Designer für das Hochzeitskleid engagiert hatte, die ihr Anwesen in St. Barth´s für die Flitterwochen angeboten hatte, bei der Kitsey anrief, wann immer Kitsey eine Frage hatte (was mehrmals am Tag vorkam), und die sich (wie Toddy es formulierte) fest als Hochzeits-Obergruppenführer etabliert hatte.
Donna Tartt: Der Distelfink
Das Buch ist – wenig verwunderlich – verfilmt worden. Ich habe den Streifen nicht gesehen und werde es auch nicht, um die Bilder zu schützen, die ich mir selbst von den Personen, Umständen und Ereignissen gemacht habe.
Donna Tartt: Der Distelfink Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt und Kristian Lutze Goldmann 2015 TB 1.024 Seiten ISBN: 978-3-442-47360-1