Die große Uhr ist ein sehr spannender, unterhaltsamer Noir-Thriller aus den 1940er Jahren. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Wer zu einem Klassiker greift, erwartet Patina. Kenneth Fearings Die große Uhr hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten. Die Technologie der 1940er Jahre und die an die Zukunft geknüpften, einigermaßen ulkig anmutenden Erwartungen etwa; die Drinks und Rauchwaren immer und überall, vom anfangs aufscheindenden Frauenbild einmal ganz zu schweigen.

Im Fremden schärft sich aber auch immer das Bild der eigenen Gegenwart, als blicke man in einen verzerrten Spiegel, der neben den Unterschieden eben auch Bekanntes wiederkennen lässt. Die Medienkritik, die Fearing übt, lässt sich in vielerlei Hinsicht auf die heutige Zeit übertragen, aber auch seine Sicht der problematischen Seiten einer kapitalistischen Gesellschaft.

Im Kern handelt es sich bei dem Roman aber um einen Noir-Thriller, Spannung gibt es eine Menge, nach einer recht ausführlichen Exposition. Man darf dankbar sein, dass Die große Uhr nicht jene im Übermaß anzutreffende Erzähl-Struktur eines kurzen, dramatischen Häppchens zu Beginn mit nachfolgendem Rückblick aufweist, sondern – klassisch – erzählt. Spannungsjunkies, die schon nach einer halben Seite ihren Kick brauchen, sollten vielleicht besser die Finger von dem Roman lassen.

Ich glaube nicht an eckige Pflöcke in runden Löchern. Der Preis ist zu hoch.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Zwielichtig ist es von Anbeginn an. Die Hauptfigur, George Stroud, lebt in scheinbar wohlsituierten Verhältnissen: Frau, Kind, Job als Chefredakteur einer True-Crime-Zeitschrift, ein eigenes Häuschen in Aussicht. Doch das Selbstgespräch vor dem Spiegel im zweiten Kapitel lässt Abgründe erahnen, die Strouds Leben belasten, privat und beruflich.

Nicht nur Tagträume bilden einen illusorischen Weg aus der als unerträglich empfundenen Realität, der Protagonist ist ein notorischer Fremdgänger. Sein sexuelles Begehren wird ausgerechnet von Pauline Delos geweckt, der Geliebten seines Chefs Earl Janoth, beide landen gemeinsam im Hotelbett und das Drama, das sich von der ersten Seite ankündigt, nimmt seinen Lauf.

Ein jäher Wendepunkt setzt Spiel und Gegenspiel in Gang, das den Leser bis zum Ende in Atem hält. Dank der gelungenen Exposition der Handlung befindet sich George Stroud in einer vertrackten Zwangslage, er muss ein Ermittlungsteam auf sich selbst ansetzen – es ist nicht nur für ihn unheimlich, sein Ego Stück für Stück enthüllt zu sehen. Die gesuchte Person, also er selbst, steht unter Mordverdacht, und so muss Stroud alles tun, um den Fortgang der Suche zu behindern.

(…) stand ich vor dem Janoth-Building, das wie eine unsterbliche Gottheit aus Stein inmitten eines Häuserwaldes aufragt.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Sein eigenes (Fehl-)Verhalten zwingt ihn zu diesem Doppelspiel, er will vermeiden, dass er sein Leben oder seine Familie verliert. Welchen Wert diese hat, angesichts seines Lebenswandels, bleibt offen; er könnte nur um die bequeme bürgerliche Fassade besorgt sein oder aber angesichts des drohenden Verlusts ihre tatsächliche Bedeutung für ihn erkannt haben.

In jedem Fall reicht die Motivation, sich dem lebensgefährlichen Drahtseilakt auszusetzen. Gefahr droht, denn in der vom Takt der »großen Uhr« beherrschten Welt ist ein Menschenleben weniger wert als der ungestörte, reibungslose Fortgang der Maschinen.

Fearing erzählt aus wechselnden Perspektiven, was den Romanfiguren eine gewisse Mehrschichtigkeit  verleiht. So ist der Unternehmer Janoth zwar ein kapitalistischer Geschäftsmann, zugleich aber darauf bedacht, Qualitätsjournalismus in seinen Blättern zu fördern. Durch die Perspektivwechsel kommen außerdem Spiel und Gegenspiel zur Geltung, während die Handlung auf ihr Finale  zustrebt.

Ich kannte das Riskio und den Preis.

Kenneth Fearing: Die große Uhr

Im Hintergrund aber tickt die »große Uhr«, ein Sinnbild für die nimmermüden, allmächtigen Mühlen der kapitalistischen Welt, in der die Menschen gezwungen sind, ihr Leben dem Takt der Uhr anzupassen und nicht – wie es in der amerikanischen Verfassung heißt – nach Glück zu streben. Die Uhr ist aber zugleich ein Symbol der Sterblichkeit, der Tod liegt über der Existenz wie ein mächtiger dunkler Schatten, eine ewige Winternacht. Noir par excellence!

Die große Uhr ist der dritte Band einer Krimi-Reihe des Elsinor-Verlages, die Klassiker der Genres neu auflegt. Herausgegeben wird sie von Martin Compart, der zu dem Roman ein ausführliches Nachwort mit vielen interessanten Informationen zu Autor und Werk sowie Denkanstößen verfasst hat, die der sehr fesselnden und unterhaltsamen Lektüre rückwirkend noch mehr Tiefe verleihen.

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Buchan, John: Der Übermensch.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.
John Mair: Es gibt keine Wiederkehr.
Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik.


[Rezensionsexemplar; daher Werbung].

Kenneth Fearing: Die große Uhr
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Klappenbroschur 200 Seiten
Elsinor-Verlag 2023
ISBN 978-3-942788-71-7