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Schlagwort: Pogrom

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Der Fluss spielt im brillanten Roman Grenzfahrt eine wichtige Rolle. Er trennte bis zum 22. Juni 1941 Wehrmacht und Rote Armee, ehe das apokalyptische Unternehmen »Barbarossa« seinen Anfang nahm. Cover Suhrkamp-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Keine eigene Geschichte, nur die der anderen. Der Russen, der Deutschen. Sie waren gekommen, hatten Schutt und Asche hinterlassen und waren wieder gegangen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Große Teile des Romans werden aus einer mittleren Perspektive erzählt. Zwar ist der Ort in Polen gelegen, doch könnte man das alles auch auf ganz Mittelosteuropa beziehen. Dazwischen. Hier die Deutschen, dort die Sowjets, Hammer und Amboss, alle anderen dazwischen. An einem Fluss, der die beiden Gebiete trennt. Die Gegend am Fluss präsentiert als geschichtsloser Raum, den die anderen, die Russen und Deutschen, gefüllt haben.

Die Geschehnisse spielen im Spätfrühling 1941, es ist Ende Mai, Anfang Juni, der nahende Vernichtungskrieg, die große Blutmühle des 20. Jahrhunderts liegt bereits schwer in der warmen und heißen Luft. Geschütze stehen von Tarnnetzen verborgen im Garten, Panzer, Opel Blitz, Motorräder und marschierende Infanterie wirbeln Staub auf, der große Aufmarsch ist im Gange. Auf der anderen Flussseite Bunker, Wachen, Patrouillen. Nachts erhellen Leuchtraketen den dunklen Himmel.

In diesem seltsamen Zwischenraum zu dieser Zwischenzeit vor dem hereinbrechenden Verhängnis tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, die sich unter gewöhnlichen Umständen nie getroffen hätten. Dörfler, Bauern, Hirten; Partisanen mit großen Reden und brutalem Verhalten; Schmuggler; Fliehende, oft Juden, die nach Osten wollen; Rückkehrer aus dem Osten, weil dort auch kein Ort zum Überleben ist.

Eine der Hauptpersonen ist der Fährmann, der in dunklen Nächten sein bereits vor dem Krieg betriebenes Geschäft fortführt. Er lässt sich für das große Risiko bezahlen, ist aber ein ehrlicher Mensch, betrügt seine menschliche Fracht nicht. Er arbeitet auf dem Fluss, dem Dazwischen, pendelt und gerät auch in anderer Hinsicht zwischen die Fronten. Eine lebensbedrohliche Lage für ihn, in einer Zeit, in der das einzelne Leben seinen Wert eingebüßt hat.

Er betrachtete die Spuren der Raupe und begriff nicht, warum die Deutschen gekommen waren und warum sie weiterziehen wollten.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Erzählt wird in wechselnden Perspektiven. Die Sichtweisen sind zum Teil außergewöhnlich, wenn etwa jener hinterwäldlerische Dörfler staunend die Wehrmachts-Kolonnen betrachtet, völlig ahnungslos, woher die Deutschen kommen, was um alles in der Welt sie in seiner Heimat wollen und – ein noch größeres Rätsel – warum sich die Deutschen mit den Sowjets anlegen werden. Und ja, das fragt sich der Leser dann auch.

Stasiuk hat seinen Roman Grenzfahrt mit einer weiteren Zeitebene versehen, in der der Ich-Erzähler mit seinem Vater in ebenjener Gegend sich aufhält, Jahrzehnte später, wenn das große Vergessen alles in den Abgrund zieht, was damals dort geschehen ist. Die Spuren sind rar, das Bedürfnis des Ich-Erzählers, etwas über die Zeit zu erfahren, viel größer als die Neigung des Zeugen, davon zu berichten.

Eine magische Passage erzählt von einem Foto, das der Erzähler betrachtet. Ein „Bild aus jener Zeit“. Er beschreibt die Personen, die zu sehen sind, wohin sie schauen. Sie sehen Dinge, die man auf dem Foto nicht sieht, die aber trotzdem da sind. Der Ich-Erzähler weiß, dass vor dem Foto-Betrachter ein Fenster ist,  eine Tür, er kennt das Haus, hat früher aus dem Fenster geschaut. Trotzdem wusste der Ich-Erzähler lange nicht, was von der Landschaft, die er gesehen hat, noch verborgen ist.

Es kann sein, dass gut fünfzig Kilometer weiter schon die Feuer von Treblinka brennen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Darüber wurde nicht gesprochen, nicht mit den Kindern. Der Erzähler hat seiner Großmutter zugesehen, wie sie ohne Licht in der Nacht die Kühe gemolken hat. Weiße Milch, ein ganzer Eimer voll aus dieser „tiefsten Finsternis“, die „tiefer als die Nacht selbst“ war. Wer denkt hier nicht an Celans berühmte Gedichtzeile aus der Todesfuge? Schwarze Milch der Frühe. Stasiuk hat seine Grenzfahrt auch zu einer Reise in poetische Bilder gemacht, die – passend zu dem, was in der Vergangenheit geschah – grundlegende Fragen der menschlichen Existenz berühren.

Heroisch ist nichts in diesem Roman. Das gilt auch für die Gruppe an Partisanen, die in der Gegend herumstreift und im Grunde genommen die Bevölkerung drangsaliert. Für den Kriegsverlauf hat das wirre Hin und Her keinerlei Bedeutung, manchmal wirkt die Gruppe wie Schuljungen, die Partisanen spielen. Sie zählen Wehrmachtsfahrzeuge und streiten sich, ob bestimmte Fahrzeuge Panzer sind oder nicht. Nie werden diese Informationen irgendwohin weitergeleitet.

Stasiuk lässt ihre Handlungen brutal, von großen, hohlen Worten umhallt und mit fürchterlichen Folgen erscheinen. Es gibt Tote, man hängt jemanden mit erschütternder scharfrichterlicher Inkompetenz. Ein ähnliches Fiasko ist auch der Versuch, ein Schwein zu töten. Im Grunde genommen sind alle Aktionen der Partisanen sinnlos, gefährlich nur für die Zivilbevölkerung. Eine Bande, Räuber, Marodeure statt heroischer Widerständler.

Der latente Antisemitismus schlägt immer wieder durch, was zwei jüdischen Flüchtlingen fast zum Verhängnis wird. Sie kommen aus der Stadt an den Fluss, in der Hoffnung, dem sicheren Tod im Herrschaftsraum der Deutschen zu entgehen, wenn sie auf die andere Seite, zu den Sowjets gelangen. Eine Illusion, wie so vieles in Grenzfahrt. Stattdessen kumuliert die Handlung in einer schrecklichen Missetat, während die letzten Minuten vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion verrinnen.

Große europäische Literatur.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp 2023
Gebunden, 368 Seiten
ISBN: 978-3-518-43126-9

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Die Schilderungen der Pogrome sind oft schwer erträglich, dafür bietet das Buch einen detaillierten Blick auf die Gewalttaten und ihre Folgen für die Opfer, aber auch ihren Platz auf dem Weg in den Holocaust. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Am Ende lässt Jeffrey Veidlinger sein Buch Mitten im zivilisierten Europa in den Holocaust ab Juni 1941 münden, der über die jüdischen Bürger Osteuropas hereinbrach, als die deutsche Wehrmacht ihren Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion entfesselte. Die letzten Seiten dieses bemerkenswerten, oftmals schwer erträglichen Buches gehören den ersten Mord- und Gewalttaten in den gerade eroberten Gebieten.

Befeuert von Einsatzgruppen, SS und Wehrmacht haben Einheimische Pogrome gegen ihre jüdischen Mitbürger entfacht, wieder wurden Nachbarn und nichtjüdische Mitmenschen zu Tätern, wie schon in den Jahren 1918 bis 1921. Geradezu gespenstisch wirkt es, wenn Veidlinger darauf verweist, dass Täter der älteren Gewalttaten wieder mitmischten, zum Teil von den Nationalsozialisten an prominenter Stelle installiert.

Jeffrey Veidlingers Buch Mitten im zivilisierten Europa widmet sich einem ebenso schmerzlichen wie wichtigen Thema, das den Brückenschlag darstellt, dem hierzulande nicht die nötige Aufmerksamkeit in der Erinnerungskultur zukommt. Es gibt eine gewisse Kontinuität bei den Gewalttaten gegenüber Juden, gerade zu Beginn des Vernichtungskrieges, die von deutscher Seite durch Einsatzgruppen, Ghettoisierung und Vernichtungslager dramatisch eskaliert wurde.

Zumindest in den Köpfen der Opfer war also die Gewalt, die sie 1941 erlebten, direkt mit dem Blutvergießen von 1918 verbunden.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Die »Vorgeschichte des Holocaust«, also der »wahre Beginn desselben Holocaust«, der seit vielen Jahrzehnten umfassend erforscht und in unzähligen Darstellungen besprochen wurde, ist der Kern dieses vorzüglichen Buches. Die Geschichte muss nicht neu geschrieben werden, SS, Wehrmacht und Einsatzgruppen werden kein Jota entlastet, aber einige Dinge, die während des Zweiten Weltkrieges geschehen sind, erscheinen klarer.

Veidlinger weist darauf hin, dass 1941 rund ein Drittel der Opfer in der Nähe ihrer Wohnhäuser getötet wurden, wie in früheren Zeiten haben sie die Gewalt als Pogrom empfunden. Der Holocaust, der im Rahmen des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion durchgeführt wurde, ist also in Teilen (!) noch mit den zu Unrecht als überkommen angesehenen Begriff des »Pogroms« zu beschreiben.

Diese Pogrome hatten eine Vorgeschichte, die Veidlinger nachzeichnet; sind doch zwischen November 1918 und März 1921 ungleich mehr Menschen auf barbarische Weise getötet, vergewaltigt, gedemütigt, beraubt und vertrieben worden als in allen Pogromen zuvor, sie haben ihre Lebensgrundlage im Wortsinne verloren, sodass sie fliehen mussten. Mehr als eine halbe Million jüdische Menschen haben sich ins Ausland aufgemacht, insgesamt flohen vor der Gewalt des brutalen Bürgerkrieges mehr als zwei Millionen Menschen.

Eine Flüchtlingskrise war die Folge, die damals wie heute massive Auswirkungen auf die aufnehmenden Staaten hatte. Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung und ihre Flucht waren dabei bedeutsam, denn Juden wurden in den aufnehmenden Staaten besonders wahrgenommen, ja galten als das Bild des Flüchtlings, obwohl sie nur ein Viertel der Fliehenden stellten. Rechte Hetzer haben die Steilvorlage aufgenommen und die ohnehin vorhandenen antisemitischen und antikommunistischen Stimmungen geschürt. Die Verschwörungserzählungen waren ebenso abstrus wie wirksam.

Wie jedes geschichtliches Ereignis war der Holocaust unvorhersehbar, doch seine allgemeinen Umrisse wurden vorausgeahnt.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

In diesem Sinne ist das Buch sehr lehrreich und mit Blick auf die realpolitischen Verhältnisse niederschmetternd. Man ist geneigt, zum Misanthropen zu werden, angesichts der grotesken  Vorwürfe, die gegen die Juden erhoben und geglaubt wurden. Obgleich viele von ihnen wegen der Bolschewiki und ihrer Ideologie bzw. deren erbarmungsloser Durchsetzung auf dem Rücken von Millionen Opfern geflohen sind, wurden sie als angebliche Multiplikatoren ebenjener Gesinnung gebrandmarkt.

In den hanebüchenen Vorwürfen, die gegen Juden erhoben wurden, unterscheiden sich der zeitgenössische Osten und Westen nur graduell, vor allem das Motiv des Antibolschewismus, der Juden und Bolschewiki / Kommunisten gleichsetzte, ist überall anzutreffen. Pogrome wie jenseits der Oder gab es in Deutschland erst nach 1933, in dem Ausmaß und der Brutalität erst im Krieg, doch Massenerschießungen durch Einsatzgruppen und die industrialisierte Massentötung waren und bleiben etwas Einmaliges.

Besonders erschütternd ist die Feststellung, dass alle an antijüdischen Pogromen beteiligt gewesen sind: Polen, Ukrainer, Russen, Bolschewiki, Rote Armee, Weiße, Kosaken – aber auch ganz gewöhnliche Menschen, Nachbarn, Mitarbeiter, Angestellte, Bekannte, Kunden und Auftraggeber; buchstäblich alle konnten sich über Nacht in Denunzianten, Kollaborateure, Schaulustige oder Nutznießer eines Pogroms verwandeln.

Der Wert jüdischen Lebens war gesunken.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Man kommt gar nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, was eigentlich von »Zivilisation« zu halten ist. Der Firnis, der sie gegenüber der Barbarei, der anarchischen Gewaltanwendung trennt, scheint recht dünn zu sein. Daran ändern auch die vielen Menschen wenig, die versucht haben, den Juden zu helfen; die sie warnten, versteckten, sich für sie einsetzten – denn am Ende blieben trotzdem verwüstete Städte, niedergebrannte Häuser und verkohlte Leichen übrig.

Die Monographie weist auf einige sehr wichtige Aspekte hin, die das historische Verständnis schärfen. Der Begriff des »Bürgerkriegs« vereinfacht laut Veidlinger die Umstände zu sehr. Dafür gab es viel zu viele Konfliktparteien, keineswegs zwei klar voneinander getrennte Lager, wie im amerikanischen Bürgerkrieg etwa. In der Ukraine dieser Jahre tobte ein Krieg ohne Fronten, mit oftmals kleinen, regionalen Machthabern bzw. Kriegsherren. Ein vorzüglicher Nährboden für Pogrome.

[Rezensionsexemplar]

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa
Aus dem Englischen von Martin Richter
C.H.Beck 2022
ISBN: 978-3-406-79108-6
Hardcover 456 Seiten

© 2025 Alexander Preuße

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