Zum Zeitpunkt dieser Buchbesprechung ist John Buchans Roman Der Übermensch einhundertzehn Jahre alt, beinahe so betagt wie Bilbo Beutlin zu Beginn von Der Herr der Ringe. Ein staunenswerter Schatz für Thriller-Leser, die schnell von der Atmosphäre und der spannenden Geschichte erfasst und bis zu ihrem Ende nicht mehr losgelassen werden. Man entdeckt so viel Vertrautes aus aktuellen Polit- und Spionagethrillern!
Selbstverständlich schlägt sich die Entstehungszeit in vielfältiger Weise in der Handlung nieder. Da wäre die Hauptperson, Edward Leithen, ein Angehöriger der britischen Oberschicht, die er in gewisser Hinsicht fast klischeehaft personifiziert. In seinem natürlichen Habitat London ist er als Anwalt und Parlamentarier tätig, sehr gut vernetzt, nicht nur durch die Mitgliedschaft in einem Club.
Eine Männerwelt, die einiges an Staub angesetzt hat; Frauen spielen in diesem Roman fast gar keine Rolle, von Ethel als züchtige Ehefrau eines Freundes abgesehen, die ihre Klugheit in Leithens Augen dadurch unter Beweis stellt, dass sie tut, was er ihr sagt. Dieser Roman besitzt aber auch wegen seines Alters eine Menge Charme, was nicht zuletzt an der – leicht gestelzten – Schilderung der Stadt liegt, aber auch an originellen Grenzüberschreitungen.
Die Aussicht auf eine Reise stieg bei ihm immer zu Kopfe wie Wein.
John Buchan: Der Übermensch
Die Hauptfigur gehört den Konservativen an, sein bester Freund Tommy ist Labour-Abgeordneter; auch ein wichtiger Unterstützer Leithens bei seinen Abenteuern, ein gewisser Chapman, gehört zur Labour-Fraktion. Der Ich-Erzähler macht sich über die Zweiwelten-Beziehung beider Parteien lustig: Öffentlich beharke man sich wie die Kesselflicker, privat pflege man freundschaftliche Beziehungen.
Leithens Freund Tommy gerät in die Bredouille und bringt durch seinen leichtfertigen Aktivismus das Unheil und damit die Handlung in Gang. Ein Freund von ihm, Pitt-Heron, hat London und England geradezu fluchtartig verlassen, er scheint mit ebenso anrüchigen wie gefährlichen Kreisen kooperiert zu haben, die ihm nach Leib und Leben trachten.
Es entspinnt sich ein Spiel, das den Leser augenblicklich in Bann zieht. Leithen bleibt in London, während der Action-Teil des Romans in der Ferne, Russland, Buchara, stattfindet; Hauptfigur und Leser werden nur durch kurze Nachrichten, etwa Telegramme, über den Fortgang der Jagd bruchstückhaft informiert. Leithen versucht, die Entwicklung durch logische Überlegungen zu konstruieren und sein eigenes Vorgehen darauf abzustimmen.
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie einen ungewöhnlichen Namen nur einmal zu hören brauchen, uns Sie werden ihm dann eine Zeitlang immer wieder begegnen?
John Buchan: Der Übermensch
Auf den ersten Blick sind es Zufälle, die Leithen voranbringen. Begegnungen, Beziehungen, Gespräche und die Rückschlüsse, die von der Hauptfigur gezogen werden – in Wirklichkeit fallen sie dem Spurensucher wegen seiner Hatz nach Zusammenhängen zu. Nur die Begegnung mit dem Erzbösewicht geschieht durch ein mittlerweile klassisches Motiv aus der Welt des Zufalls: Eine Automobilpanne zwingt Leithen zur Übernachtung in einem Landhaus.
Buchan gibt dem Widersacher, der als solcher offen agiert und gar nicht erst enttarnt werden muss, eine Stimme und die Möglichkeit, Leithen und Leser sein Weltbild (und damit die Ursache der ganzen Probleme) vorzuführen. Dabei geht der Autor geschickter vor, als viele moderne Thriller-Autoren oder Bond-Verfilmer, die den »Was bin ich doch genial«-Monolog vor der Showdown-Acitionszene deplatzieren.
Der Herr einer ziemlich nebulösen Geheimorganisation namens »Kraftwerk« (The Power-House, wie der englische Originaltitel lautet) lässt sich gegenüber seinem Gast in einer schaurig-gemütlichen Kaminzimmer-Düsternis darüber aus, dass man sich der Illusion hingäbe, die Zivilisation sei geschützt; diese Schein-Ordnung basiere aber auf Mittelmäßigkeit, einer Regierung voller zweitrangiger Figuren. Ein entschlossenes Genie werde das System umstoßen.
Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie brüchig diese Zivilisation eigentlich ist, auf die wir alle so stolz sind?
John Buchan: Der Übermensch
Damit bekommt der Gegner Leithens eine monströse Gestalt, weil er ebensolche Ziele verfolgt. Die Handlung touchiert ein wesentliches Motiv, das in variierender Form mehr oder weniger alle Politthriller bis in die Gegenwart berühren: Der dünne, verletzliche Firnis der Zivilisation, die 1913 natürlich ein etwas anderes Gesicht hat als 2023.
Nach dieser Begegnung nimmt der Roman Fahrt auf. Das sommerlich-leichtfüßige London wird für den Protagonisten zu einem Ort der Bedrohung, denn das »Kraftwerk« ist ein kampfkräftiger, skrupelloser und mächtiger Gegner. Genretypisch gerät der Held in lebensbedrohliche Situationen, wird auf eine wunderbar dramatische Weise durch Londons Straßen gehetzt, während er versucht, seinen Häschern zu entkommen.
Der Übermensch von John Buchan ist sehr lesenswert für alle, die Polit- und Spionage-Thriller mögen. Natürlich atmet der Erzählstil noch das 19. Jahrhundert, für mich war es aber angenehm, einen klassisch erzählten Roman zu lesen. Nach dem Ende wartet noch ein ausführliches Nachwort von Martin Compart, das sehr informativ ist und den Leser die Bedeutung des Romans für das Genre vor Augen führt.
Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.
John Mair: Es gibt keine Wiederkehr.
Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik.
John Buchan: Der Übermensch
aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Elsinor Verlag 2022
Broschiert 160 Seiten
ISBN: 978-3-942788-67-0
[Rezensionsexemplar, daher Werbung]