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Schlagwort: Wien

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Ein historisches Epos mit einer barocken Sprache. Man sollte sich Zeit nehmen, um es langsam und voller Genuss zu lesen. Cover Liebeskind-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der britische Comedian, Schauspieler, Autor und damit noch lange nicht erschöpfend beschriebene Ricky Gervais hat sich einmal über jene Menschen lustig gemacht, die angesichts von mehr als dreitausend Göttern in der Geschichte der Menschheit ausgerechnet jenen einen, an den sie glauben, als den einzig Wahren ansähen. Alle anderen wären nur Auswüchse von Nonsens. Müll.  Er macht sich also weder über Gott noch über den Glauben, sondern den kuriosen Absolutheitsanspruch angesichts der überwältigenden Konkurrenz lustig.

Für den Tod gilt das nicht. Es gibt nur einen einzigen Tod, vor dem tatsächlich alle Menschen gleich sind, denn alle Menschen müssen sterben. Manchem gilt diese wahrhaft göttliche Absolutheit des Todes als eigentlicher Grund für die Neigung des Menschen, sich Götter zu suchen: Ein Versuch, dem Tod in seiner Allmacht entgegenzutreten, ein Placebo gegen die Angst vor dem Sterben. Aber es gibt eben auch das Streben nach Unsterblichkeit, das in vielfältiger Weise Einzug in menschliches Leben gehalten hat.

Damit betreten wir das Erzählreich von Thomas Willmann, der sich in seinem Roman Der eiserne Marquis dem Bestreben mehrerer Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts widmet, das Geheimnis des Lebens zu ergründen und den Tod zu besiegen. Schon im Prolog erfährt der Leser, dass die Sache schrecklich schiefgegangen ist, die Hauptfigur sitzt fest, mutmaßlich ein Kerker, und bezichtigt sich gegenüber seinem Publikum, einigen Ratten, mehrerer schwerer Vergehen.

Mit jenen Sätzen, glaube ich heute, setzte er mich erst recht auf die Bahn meiner fatalen Suche nach der treibenden, lebenden Kraft unserer Welt.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Bis alle Gründe für die missliche Lage offenbart sind und die letzte aller Schuld offengelegt ist, vergehen neunhunder opulent gefüllte Seiten. Die Erzählung beginnt in der Provinz, eine klassisch anmutende Begabten-Geschichte, in der jener vom Schicksal mit einigen Talenten ausgestattete Held mit seinem eher schlichten Umfeld kollidiert. Dank einer hilfreichen Hand gelingt es ihm nach Wien zu gelangen und Lehrbub beim angesehenen Uhrmacher Servasius Weisz zu werden.

Die Fein-Mechanik ist das Gebiet, in dem die Talente der Hauptfigur liegen. Die Uhrmacher-Zunft bietet ihm ein interessantes Betätigungsfeld, zumindest wenn die Uhren die nötige Qualität und Komplexität aufweisen. Darüber hinaus eröffnet die Kaiserstadt noch zahlreiche andere Möglichkeiten der Bildung, vor allem mit einem kundigen Führer wie Ferdinand, der ebenfalls für Weisz arbeitet.

Der Leser ist zu diesem Zeitpunkt längst im üppigen, bildstrotzenden Erzählstil Willmanns versunken, dessen Sprache vom einem geradezu märchenhaften Reichtum ist. Die Welt, in der sich die Figuren tummeln, wird so lebendig. Aber auch die Innenwelten der Personen, insbesondere der Hauptperson, die sich dank der Rückschau immer wieder selbst durchleuchtet und bestimmte Charakterzüge hervorhebt, meist verbunden mit Selbstbezichtigungen.

Auch Weiszens Antlitz machte erste Anstalten, sich dem Alter zu ergeben – unter Kind und Augen begann die noch gut ausgepolsterte Haut herabzusacken, feines Adergekrakel schrieb ihm die Neigung zu üppiger Speise und Trank auf die Wangen; und selbst die Fröhlichkeit hatte in seinen Zügen als Schnitzmesser für Fältlein gewirkt.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Das Beispiel zeigt schön, auf welche Reise sich der Leser dieses Romans begibt. Wer so schreiben und Bilder erschaffen kann, dem ist es möglich, die vielfältigen Zwischenwelten der menschlichen Existenz stärker auszuleuchten, als es viele andere Schriftsteller können. Das braucht Zeit, der Autor hat sie sich genommen und der Leser sollte es ihm nachtun und diese literarische Reise durchschreiten, um sie zu einem Erlebnis zu machen, das sich einem im Leseleben nicht oft bietet.

In Wien erleidet der Protagonist einen verheerenden Schicksalsschlag, den er zwar nicht ausgeführt hat, aber hätte abwenden können. Er verliebt sich in eine Grafentochter namens Amalia, es gelingt ihm sogar, sich ihr zu nähern, was Willmann in einer wirklich fabelhaften Weise erdacht hat, doch will er zu viel und beschwört durch seine kindische, dickköpfige, selbstverliebte und larmoyante Art eine Katastrophe herauf.

Ein Zwischenspiel folgt, die Hauptfigur flieht aus Wien und nimmt einen klingenden Namen an: Jacob Kainer. Er tritt der preußischen Armee bei und kämpft im Siebenjährigen Krieg, allerdings nicht mit dem Gewehr, sondern der Trommel, wenn man so will, dem Taktgeber der Armee und damit eine Art Echo des Uhrwerks. Willmann lässt den Leser an den Unbilden des Kriegsdienstes und Kriegsgeschehens mehr teilhaben, als diesem manchmal lieb ist. 

Alles, was noch geschehen sollte, war nicht Strafe oder zwingende Folge seiner bedingungslosen Hingabe an die Vernunft – sondern eben seine letztlich menschliche Fehlbarkeit darin.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Die Schlachtfelder verlässt Jacob Kainer versehrt und wird in einem Lazarett von einem Marquis entdeckt, nach Paris mitgenommen und werkelt dort gemeinsam mit seinem neuen Gönner, Freund und Schicksalsgenossen daran, dem Leben sein Geheimnis zu entlocken und dem Tod die Stirn zu bieten. Wie das Zitat zeigt, folgt das Duo, das sich ab einem gewissen Zeitpunkt durch die bezaubernde und kluge Arianne zu einem Trio erweitert und von einem stummen Diener namens Mael unterstützt wird, zunächst dem Pfad der Vernunft.

Der weitaus größte Teil des Romans widmet sich diesem Wirken, über den Inhalt will ich kein Wort mehr verlieren. Was geschieht und wie ist ganz wunderbare Literatur, die tief hineinführt in die großen menschlichen Fragen. Der Kampf gegen den Tod ist vor zweihundertfünfzig Jahren so aussichtslos wie in der Gegenwart, wer auf das »sture, bedächtige Voranschreiten der Vernunft und Verantwortlichkeit« setzt, kann angesichts der verstreichenden Lebenszeit das Ziel persönlich nur verfehlen.

Das Dilemma kann man akzeptieren, man kann sich selbst und seine Tätigkeit aufgeben oder den Pfad der Vernunft verlassen und ins Obskure, Okkulte abgleiten. Dieses Nebeneinander von Vernunft und Aberglaube prägt den Roman auf großartige Weise. Im Falle des Marquis sind beide Strömungen in einer Person enthalten, anders als bei Theodor Storms Der Schimmelreiter, in dem Moderne (neuer Deich) und Aberglaube (etwas Lebendiges muss ins Fundament des Deiches) unterschiedlichen Personengruppen zugeordnet ist.

›Meine Vernunft?! Oh, die ließ mich schon lange! Mir blieb meine Verzweiflung.‹

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Der Marquis ist hochgebildet, aufgeklärt, spöttisch gegenüber dem Aberglauben (und vielen anderen Dingen) und macht sich trotzdem auf den Weg des dumpfen, morastigen Geschwurbels. Der Mensch in diesem Roman, selbst der hoch veranlagte, ist eben trotzdem zum Scheitern, zum Abgleiten verurteilt, seine Stärke nur ein Schein, der in der Konfrontation mit dem Tod, mit Krankheit und Vergehen zusehens verblasst.

Willmanns Der eiserne Marquis beginnt nicht nur im Untergründigen, Dunkeln, Verlies, sondern endet dort auch, sowohl im übertragenen wie im realen Sinne. Der Weg in den Abgrund beginnt viel früher, wie der Erzähler dank der Rückschau durchaus erkennt; er führt die Personen in ihrem verzweifelten Kampf gegen den Tod in ein schauriges Reich, das bereits Mary Shelley mit Frankenstein literarisch betreten hat.

Jede Form von Horror-Literatur ist mir zutiefst zuwider, das gilt auch für ihre zahllosen Ableger und Sub-Genres, auch die viel geschätzte Mystery. Daher ist mir anlässlich des Finales ein wenig unbehaglich geworden, was viele andere Leser nicht weiter schrecken wird. Willmann hat seinen Marquis aber zu einem wirklich überzeugenden Ende geführt. So darf ich uneingeschränkt froh darüber sein, dass sich der Autor auf das Abenteuer eingelassen hat, über mehr als ein Jahrzehnt dieses Opus zu schaffen.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis
Liebeskind Verlag 2023
Gebunden, 928 Seiten
ISBN: 978-3-95438-165-4

Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum

Hedy Lamarr, geborene Kiesler, ist eine faszinierende Person, deren Spuren die amerikanische Schiftstellerin in ihrem Roman folgt. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.

Hedy Lamarr ist eine faszinierende Persönlichkeit. Schönheit und hohe Intelligenz, ein bewegtes Leben voller Brüche, Rückschläge und Erfolge, umflort von Tragik – es gibt eine Reihe von Gründen, sie aus dem Schatten treten zu lassen. Vor Jahren habe ich einmal eine Dokumentation gesehen, die den sehr treffenden Titel »Geniale Göttin« trug; entsprechend gespannt war ich darauf, wie die Schriftstellerin Marie Benedict versucht, sich ihr zu nähern.

Der Roman Die einzige Frau im Raum stellte die solitäre Erscheinung Hedy Kieslers, wie die Protagonisten bürgerlich hieß, schön heraus. Als die Handlung einsetzt, ist Hedy Schauspielerin und verkörpert auf der Bühne Elisabeth von Österreich, Sissy. Sie hat bereits einen skandalumwitterten Film (»Ekstase«) gedreht, die Nacktszenen darin werden für Hedy zu einem Problem.

Zunächst erzählt der Roman, wie die schöne, kluge und selbstbewusste Hedy in die Ehe mit einem mächtigen Verehrer hineingerät, der sie mit Übermaß umwirbt und den Eindruck erweckt, er würde sie als Person, ihre Eigenständigkeit respektieren. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich herausstellt, denn die Ehe erweist sich als Falle.

Etwas bemüht wirkt, dass die Heirat auch eine Art Schutzschild gegen mögliche Repressalien sein soll, vor denen sich Hedys Familie wegen ihrer jüdischen Herkunft fürchtet. Das ist durchaus schade, denn gerade die historisch-politischen Hintergründe, mit denen das Leben der Protagonistin wegen der rührigen Tätigkeiten ihres Mannes (Waffenhändler, Mussolini-Vertrauter) verwoben ist, sind sehr interessant.

Richtig in Fahrt kommt Die einzige Frau im Raum, als Hedy in den USA ankommt und ihre Karriere als Schauspielerin fortsetzt. Die Erfahrungen, die sie macht, wirken einerseits wie ein anachronistisches Echo auf MeToo, andererseits entlarven sie die völlige Missachtung von Frauen ihres Formats außerhalb ihres Erscheinungsbildes. Das vorletzte Kapitel lässt wohl jeden Leser mit einer gewissen Fassungslosigkeit zurück.

Kritisch ist allerdings die Wahl der Perspektive, denn trotz der Ich-Erzählhaltung bleibt das Buch recht distanziert. Dagegen ist grundsätzlich überhaupt nichts einzuwenden, wenn eine passende Erzählform gewählt wird; so entsteht gerade im ersten Teil manchmal Eindruck einer formel- und phrasenhaften Oberflächlichkeit. Es ist eine Sache, die Hauptperson von sich behaupten zu lassen, sie wäre stark, eigenständig und klug, eine ganz andere, es zu zeigen – wie es im zweiten Teil auch geschieht.

Trotz dieses Mankos ist Die einzige Frau im Raum lesenswert, wann hat schon eine Film-Diva eine Hochleistungs-Waffentechnologie entwickelt und gleichzeitig die bornierte Engstirnigkeit einer von Männern dominierten Welt entlarvt?

[Rezensionsexemplar]

Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
KiWi-Paperback 2023
Paperback 304 Seiten
ISBN: 978-3-462-00492-2

Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis

Klaus Modicks Künstlerroman widmet sich einem weitgehend vergessenen Schriftsteller inmitten einer längst untergegangenen Welt. Cover Kiepenheuer&Witch, Bild mit Canva erstellt.

Die Bücher Klaus Modicks haben mich noch nie enttäuscht. Auch Keyserlings Geheimnis ist keine Ausnahme, im Gegenteil: Es ist ein großes Lesevergnügen, die gemächliche, melancholische Erzählweise trägt durch die Geschichte um den heute völlig vergessenen Autor aus dem Baltikum. Die Sprache ist einer der Pluspunkte dieses kleinen, feinen Romans.

Graf Eduard von Keyserling trägt ein Geheimnis mit sich herum. Immer wieder schweifen seine Gedanken in die Vergangenheit, berichten von den großen und kleinen, unwiederbringlich verlorenen Liebschaften. Verletzungen schimmern durch und mehr noch der Bruch, den der Adelige gegenüber seiner Herkunft, seiner Familie und gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen vollzogen hat.

In der erzählten Gegenwart ist Keyserling etablierter Schriftsteller, Teil der Künstler-Boheme, gut vernetzt mit berühmten Kreativen seiner Zeit. Ausgangspunkt seiner gedanklichen Streifzüge durch sein Leben ist das Haus am See seines Freundes Max Halbe, wo er mit einigen anderen eingeladen ist. Dort malt ihn Lovis Corinth, das Bild ist bekannter als sämtliche Schriften Keyserlings.

Der Grund liegt in Keyserlings Hässlichkeit, die ein zentrales Motiv während der Handlung ist. Sie setzt ihm zu, als junger Mann wie als Mittvierziger, der noch einmal vom Zauber junger Mädchenblüte umweht wird. Modick gelingt es, das alles ohne Larmoyanz und aufgesetzte Eigenmarginalisierung seiner Hauptfigur in Szene zu setzen; im Gegenteil: Ganz am Ende nämlich, wenn das durchaus bittere Geheimnis enthüllt ist, offenbart sich die Lebensstärke dieses Mannes.

Zu den wirklich schönen Dingen dieses Künstlerromans gehören die vielen Begegnungen, Gespräche und merkwürdig komischen Verhältnisse. Wenn Keyserling etwa mit Frank Wedekind in einen fundamentalen Streit gerät, und das Dichtergenie ihm die Freundschaft in alle Ewigkeit aufkündigt, weiß der Graf, dass diese Endlosigkeit schon nach wenigen Stunden vorüber sein wird.

Neben allem anderen ist der Roman auch ein Portrait der Zeit und gleich mehrerer untergegangener Welten. Wien mag es noch geben, die imperiale Hauptstadt ist heute ein üppig-prächtiges Echo dieser Vergangenheit, das Baltikum und seine deutschen Spuren haben sich dagegen so vollständig aufgelöst, dass man glauben könnte, es habe sie nie gegeben; gleiches gilt für den schriftstellernden Grafen Eduard von Keyserling.

Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis
Kiepenheuer & Witsch 2019
Taschenbuch 240 Seiten
ISBN: 978-3-462-05335-7

Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages

Einen großen, internationalen Erfolg konnte der österreichische Schriftsteller mit seinem 1923 erschienen Roman erzielen. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Als ich vor einigen Jahren den Roman Der schwedische Reiter von Leo Perutz in meiner Göttinger Buchhandlung kaufte, erfuhr ich, dass der Autor eher selten gelesen wird. Das ist schade, denn Perutz schreibt wirklich gut. Das gilt auch für seinen Roman Der Meister des Jüngsten Tages. Der hält einige Überraschungen bereit, denn es handelt sich um einen Kriminalroman mit Spuren von Mystery.

Die Handlung spielt im Jahr 1909 in Wien, eine wunderbare (Erzähl-)Zeit und ein ebensolcher Ort. Zu Beginn versammelt man sich in besserer Gesellschaft, spielt Klavier-Kammermusik – Brahms hat unglaubliche Stücke geschrieben, die vor Energie, dramatischem Pathos und Leidenschaft zu bersten scheinen. Zu den großen Vorzügen der Gegenwart gehört die Möglichkeit, sich mit einem Klick die im Roman geschilderten Stücke einmal anzuhören.

Ein Todesfall geschieht, der nach einem Mord aussieht. Ein Verdächtiger ist schnell auserkoren, ein Motiv ist auch vorhanden, die anfänglich bereits spürbaren emotionalen Lasten, die der Ich-Erzähler mit sich herumträgt, wenden sich gegen ihn. Perutz hat eine sensationelle Erzählfigur geschaffen, die trotz der eigentlich nahen, persönlichen Erzählhaltung für den Leser schwer greifbar bleibt.

Das liegt unter anderem an den geradezu dramatischen Stimmungsschwankungen des Ich-Erzählers, außerdem lässt ihn Perutz angesichts des Todesfalles und der sich für ihn abzeichnenden Konsequenzen immer wieder abdriften, seine Gedanken weichen aus der Gegenwart in die Vergangenheit, Rechtfertigungen, Selbstanklagen, ja in einem Fall meint der Ich-Erzähler sich einer Sache zu erinnern, die er tatsächlich nicht erlebt haben kann.

Für den Leser (oder Hörer; die Hörbuchausgabe mit Peter Simonischek ist glänzend) macht das einen gehörigen Teil der Spannung aus. War er »es«? Oder nicht? Die Fragen werden zu treuen Begleitern, während das Buch in eine intensive Suche mündet, mit dem Ziel, die Umstände des Todes aufzuklären. Ganz nebenbei wird der Leser in die Vorkriegszeit Wiens eingeführt.

Der Stil von Perutz ist für viele Krimi-Leser des frühen 21. Jahrhunderts sicher gewöhnungsbedürftig. Der Roman ist 1923 entstanden und atmet noch die alte, kaiserlich-königliche Zeit, eine Art sprachliches Kolorit (was in der Hörbuchversion ganz besonders zum Tagen kommt). Wer nur Krimi-Massenware nach Schreibratgeber-Pausbogen mag, sollte Der Meister des Jüngsten Tages lieber meiden. Für alle anderen wartet mit diesem Klassiker ein kleiner Schatz.

Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages
dtv 2003
TB 208 Seiten
ISBN: 978-3-423-13112-4

Steffen Mensching: Schermanns Augen

Was für ein epischer Roman! Cover Wallstein, Bild mit Canva erstellt.

Es fällt nicht leicht, eine passende Begrifflichkeit für diesen Roman zu finden. Epos ist treffend, aber auch etwas abgeschmackt. Monster erscheint zu negativ, obwohl das Monströse des Lebens zwischen faschistischem Amboss und stalinistischem Hammer eine wesentliche Rolle spielt.

Außerdem fiele dabei unter den Tisch, wie die beiden Protagonisten aus ihrer eigenen, zum Teil lichteren Vergangenheit berichten, während sie in einem der unzähligen sowjetischen Gulags ihr Dasein fristen. Denn “Schermanns Augen” von Steffen Mensching ist nur zu einem (großen) Teil Lagerliteratur und spielt in der menschenverachtend brutalen, absurden Welt der Zwangsarbeitscamps.

“Vor dem Tod kriegt man immer schlecht Luft. Die Russen besaßen für die ungemütlichsten Augenblicke trostreiche Sprichwörter.”

Steffen Mensching: Schermanns Augen

Bergwerk nannte es die Süddeutsche Zeitung – eine Notlösung, die immerhin den Vorzug hat, Dimension und Unerbittlichkeit des Inhalts anzudeuten. Viele andere Reaktionen nutzen ein feuilletonistisches Vokabular, das viel zu meinen scheint, in diesem Fall eher hilft, eine gewisse sprachliche Hilflosigkeit zu überdecken.

Der Roman hat mich in seinem Ausmaß überwältigt und gefesselt, zum Weiterlesen getrieben, wie es nur außergewöhnliches Erzählen schafft. Während des Lesens habe ich das Bedürfnis gespürt, “Schermanns Augen” gleich nach dem Ende noch einmal von vorn zu beginnen. Eine Seltenheit.

“Wäre das die Wahrheit, müsste am Ende alles falsch sein. Das ganze Land. Nur Theater.”

Steffen Mensching: Schermanns Augen

Der Klappentext von Schermanns Augen hat mich dabei gar nicht so sehr angesprochen. Rafael Schermann, titelgebender Protagonist, ist Psychographologe, der – boshaft formuliert – Handlesen aus der Schrift betreibt. Wahrsagerei aller Art, Spintisieren sind mir zuwider, ich mag keine Clowns, auch nicht jene, die mit Glaskugel, Kaffeesatz oder Handlinien hantieren. Und auch Schermanns Ansatz, aus der Schrift Dinge herauszulesen, die Auskunft über die Persönlichkeit ihres Urhebers zulassen, ist mir nicht geheuer.

Doch hat der Autor Steffen Mensching einen gestalterischen Geniestreich vollbracht und Schermann den in Stalins Schattenreich geflohenen deutschen Kommunisten Otto Haferkorn als zweiten Protagonisten zur Seite gesellt. Im Paradies der Arbeiter und Bauern macht dieser bald einschlägige Erfahrungen mit dessen real existierendem Unterdrückungs- und Vernichtungsregime.

“Du, Otto Haferkorn, bist dagegen nur ein Stück Scheiße.”

Steffen Mensching: Schermanns Augen

Eine Buddy-Geschichte entfaltet sich, ein gläubiger Materialist und ein von allem naiven Glauben längst abgefallener Schriftdeuter werden von den Umständen, dem Zufall und dem Kommandanten des Lagers Artek zusammengezwungen und müssen sich in der lebensfeindlichen Umwelt behaupten.

Ein wundervolles Setup für unendlich viele Erzählungen innerhalb der Geschichte, kurze und weite Schleifen in die Vergangenheit und Fingerzeige auf die hanebüchene Zeit und ihre fürchterlichen Folgen für die Menschen, die das Unheil erdulden mussten.

Mit ungeheurer Eindringlichkeit erlebt der Leser den Beginn des Vernichtungskrieg Deutschlands gegen Polen im September 1939. Mensching schildert die Ereignisse in den Tagen vor und nach Kriegsbeginn aus der Sicht Schermanns, der versucht, sich und seine Schwester in Sicherheit zu bringen. Doch wo gäbe es so etwas wie Sicherheit in einem Land, das nur noch wenige Wochen existieren sollte?

“Treffen sich zwei Juden auf der Brücke nach Przemysl, in der Mitte des Flusses, der eine läuft nach Osten, der andere nach Westen, rufen sich beide im Chor zu: Meschuggener, spring doch gleich ins Wasser, du rennst in dein Unglück.”

steffen Mensching: Schermanns Augen

Auch die Flucht in den Osten Polens, in den Stalins Rote Armee einmarschiert ist, bietet keinen Schutz. Im Gegenteil: Hüben wie drüben beginnt für die Menschen in dem ausgelöschten Staat, nicht nur für die Juden, jahrelanges Leid. Für Schermann und seine Frau war es zu spät für eine Flucht und und sie landen im sowjetischen Lagersystem, werden getrennt und Schermann spült es in das Lager Artek.

Die Erzählung wirft ein Schlaglicht auf Erfahrungen, die gegenwärtig so viele Menschen rund um die Welt machen – die Ablehnung und völlige Ignoranz ihrem Leid gegenüber eingeschlossen. Die Stimmung, das Chaos, Verzweiflung und jener unendlich gestufte Strauß an einander ausschließenden Hoffnungen entfalten eine gehörige Wucht. Wie schnell eine Welt zerbrechen kann, die eben noch unzerstörbar schien!

An einigen Stellen gibt es zu viel Schlagsahne. Eine zu große Masse an Namen, ein etwas zu ausschweifender Rückblick, der zu weit vom Geschehen fortlenkt und den Leser aus dem Erzählstrom wirft. Es wäre nicht nötig gewesen, so weit ins Detail zu gehen, um die Welt, die schon zwischen 1914 und 1918, aber endgültig nach 1939 untergegangen war, mit dem Dasein in der sowjetischen Lügenwelt zu kontrastieren.

„Der Feldscher würde, ohne mit der Wimper zu zucken, den Totenschein ausfüllen. Exitus durch Schwächung der Herzmuskulatur. Das Standardbulletin. Passte bei Typhus, Ruhr, Pellagra, Wundbrand, Schädelfrakturen, Quetschungen, inneren Blutungen, Schussverletzungen, auch bei Würgemalen am Hals.“

Steffen Mensching: Schermanns Augen

Im Lager geht es zu, wie es in allen Lagern rund um den Erdball zugeht, mit einer unverkennbar landestypischen Note, in diesem Fall der stalinistischen. Häftling Otto steht oft ohne Erklärungen oder bestenfalls mit einem bunten Strauß von Vermutungen und Zweifeln im Angesicht von Entwicklungen in- und außerhalb der Stacheldrahtzäune.

Gerüchte, Vermutungen und Geschwätz ersetzen Wissen oder gaukeln es vor, hilflose Machtspielchen der Ohnmächtigen. So erfahren die Häftlinge erst zwei Wochen nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion von dem Überfall.

Inmitten dieser menschenverachtenden Welt hat Mensching jene kostbaren zwischenmenschlichen Ausnahmen eingestreut, von denen die Erinnerungen vieler Lagerinsassen zeugen. Auch das macht “Schermanns Augen” zu einem ganz wunderbaren Leseerlebnis.

“Schermanns Augen” ist ein wundervolles Spiel mit dem Begriff der Lüge. Das gesamte stalinischte Sowjetreich basierte auf ideologischen „Wahrheiten“, die in einer Flut von verlogenen Begriffen über die Menschen niederging und ihre Lebensrealität in einem erbarmungslosen Unterdrückungs-, Vernichtungs- und Zwangsarbeitssystem verhöhnten. Schermann ist eigentlich ein “Lügner”, ein Gaukler, der jedoch so oft die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagt.

Steffen Mensching: Schermanns Augen
Wallstein-Verlag 2018
Gebunden 820 Seiten
ISBN 978-3-8353-3338-3

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