Schatten im Nebel


Reglos lag die Sturmvogel auf dem Wasser. Kein Lüftchen
rührte sich, die Segel hingen schlaff herab, ihrer Lebens-
geister beraubt. Es herrschte eine unwirkliche Stille, das
Rauschen des Meeres war erstorben, den Ozean schien
die Kraft für sein endloses Klatschen und Platschen gegen
den Rumpf des Schiffes verlassen zu haben. Die Take-
lage schwieg ebenso wie das Holz der Masten, Rahen und
Decks, das ewige Knarren und Ächzen des Seglers war ver-
stummt.
Eine Flaute hielt die Sturmvogel fest in ihren Klauen.
Dichter Nebel umwallte das Schiff wie ein grauer Schleier,
vom Heck aus betrachtet verschwammen oft bereits die
Konturen des Hauptmasts, der Bugspriet war dann gerade
noch zu erahnen, vom verwaschenen Licht erschöpfter
Lampen mühsam erhellt.
Von einem anderen Schiff sähe man kaum mehr als
einen düsteren Schemen im milchgrauen Schimmer.
Trotzdem war das Krähennest doppelt besetzt und auch
die Deckwache war auf ihrem Posten, in einen endlosen
Kampf gegen den Lockruf des Schlafes verwickelt.
Ein bedrücktes Schweigen lastete auf der Sturmvogel,
wie nach einer verlorenen Schlacht. Nicht andere Piraten
oder Seesoldaten, sondern die zähe Windstille hatte die
Männer überwältigt. Die kalten und klammen Finger des
Nebels tasteten über ihre Haut und ließen sie schaudern.
Die Würfel und Karten ruhten, die Münder blieben ge-
schlossen. Schläfrig und missmutig lungerten die Seeleute
herum, manche in ihren Hängematten, andere irgendwo an
Bord. Zusammengekauert, die Augen halb geschlossen und
die Köpfe voll von drängenden Gedanken, weit schwei-
fenden Tagträumen und dem Wunsch, die erzwungene
Untätigkeit würde enden.
Anfangs hatte Chatou ihnen mit seinen Späßen und
Klettereinlagen durch die Takelage noch einige Lacher ent-
ockt
und für unbeschwerte Momente gesorgt, wenn man
ihn im dichten Dunst kaum sah, aber seine überschwäng-
lichen Laute umso besser hörte. Doch schließlich schien
auch der Affe von der bleiernen Tatenlosigkeit ermattet. Er
hockte auf Jeremiahs Schulter oder schlummerte. Selbst der
Schlüsselbund des Kapitäns ließ ihn kalt.
Wann immer jemand das Deck überqueren oder nach
unten gehen musste, ließ er besondere Vorsicht walten, setzte
die Stiefel oder blanken Sohlen behutsam auf die Planken,
um keinen Laut zu verursachen. Wurde eine Arbeit ver-
richtet, wurde diese leise, wenn möglich lautlos erledigt.
Es war, als lauerte irgendwo in der gräulichen Stille des
Nebels eine Gefahr für Schiff, Leib und Leben. Ein Untier,
einer jener Meeresschrecken, von denen die Erzählungen
der Seeleute geradezu überquollen, etwas, das man besser
nicht weckte.
Wann immer die Schiffsglocke läutete, zuckten viele
Männer zusammen und wünschten, man würde für die Zeit
der Flaute das Läuten unterlassen oder den Klöppel mit
einem Tuch umwickeln. Verklang der helle Ton im diesigen
Weiß, lauschten die ängstlichen Gemüter, ob sich irgend-
etwas rührte. Mancher Seemann gab sich kaltschnäuzig
und war dennoch insgeheim erleichtert, dass es still blieb.
Bald erhob sich hier und da ein Flüstern und Wispern
unter den Seeleuten, die den hartnäckigen Nebel zu deuten
suchten. Ein Schiffsfriedhof wäre in der Nähe, tote Schiffe
bedeuteten Gefahr für die Sturmvogel und ihre Besatzung,
kein Segler ginge schließlich grundlos unter. Andere hielten
den Nebel und die zähe Flaute für Vorboten eines verfluchten
Schiffes, das für alle Zeit über die Meere glitt und anderen
nur bei Windstille erschien.
Unter seinem zerfetzten Tuch an den verfaulten Rahen
wachten die lebenden Toten mit ihren schwarzen Augen-
höhlen, auf der Suche nach einem Schiff der Lebenden, um
es zu entern und das zu tun, was immer Untote mit Sterb-
lichen anstellten.
Trotz der Unterschiede, was die Einzelheiten anging, waren
sich alle einig: Nebel und Flaute waren ein böses Omen.
Joshua atmete schwer, wenn er derlei hörte. Seemanns-
garn. Er seufzte angesichts der Legionen gruseliger Ge-
stalten, die ihnen nach dem Leben trachten sollten. Die
Fliegender Holländer und ihre verfluchte Besatzung etwa,
deren Geschichte jeder kannte.
Jeremiah tat so, als machte er sich über das Gerede lustig,
doch seine Augen sagten etwas anderes. In ihnen spiegelte
sich die Spannung, mit der er den Erzählungen folgte, und
das Gruseln, das die Worte auslösten
Ausgerechnet Erik ließ sich von dem allgemeinen Mun-
keln und Geschwätz nicht anstecken.
»Ich brauche keine Schauermärchen, das Leben ist
schaurig genug«, brummte er, wenn sich die übrigen See-
leute in abenteuerlichen Erzählungen verloren.
Zweifelsfrei wurde auf allen Schiffen rund um den Erd-
ball ähnlich unsinniges Zeug verbreitet wie auf der Sturm-
vogel. Das änderte aber nichts daran, dass sie tatsächlich
festsaßen. Dank des Nebels prallte die Sonne nicht auf sie
herab, die Wasser- und Rumvorräte hätten in diesem Falle
noch mehr gelitten.
Doch das war nur ein schwacher Trost, wie man an
den Gesichtern von Henry und Pete ablesen konnte. Sie
fürchteten die anhaltende Untätigkeit und den nahenden
Zeitpunkt, an dem sie die Vorräte rationieren mussten.
Das war schwer verdaulich für eine Schiffsmannschaft,
die unter erzwungener Untätigkeit litt, Seemannsgarn
spann und langsam die Geduld verlor.
Stetig wuchs die Anspannung, es machte sich Wut breit,
auf eine seltsam kraftlose Weise, noch war sie zu schwach,
um aufzuflammen, daher glomm sie auf kleiner Flamme
vor sich hin. Irgendwann aber würde sich der Zorn ent-
laden.
Nach dem Abenteuer auf Neufundland, als sie Erik
buchstäblich im letzten Moment vor dem sicheren Tod
gerettet hatten und der Spur des Eiskönigs nach Virginia
gefolgt waren, segelten sie nun endlich nach Süden, zur
Küste Floridas, um einen Schatz zu heben; keinen Wikin-
gerschatz diesmal.
Die Flaute machte ihnen einen Strich durch die Rech-
nung. Unerbittlich verrann die Zeit, während sie allen an
Bord vorgaukelte, sie stünde still.
Just in dem Moment, da die ersten Männer ihre Beherr-
schung zu verlieren drohten, lag plötzlich ein beißender
Geruch in der Luft. Zuerst kaum bemerkbar, zwickte er wie
mit nadelfeinen Zähnen und verschwand sogleich wieder.
Wem er in die Nase kroch, der rümpfte sie, verzog das Ge-
sicht, schaute sich nach einem möglichen Verursacher um.
Bald war die Aufmerksamkeit aller an Deck auf den zu-
dringlichen Geruch gerichtet, neugierig schaute jedermann
umher, auf der Suche nach einer möglichen Ursache dafür.
»Wie eine Latrine«, schimpfte einer.
»Das stinkt wie beim Feldscher nach der Schlacht«,
murrte Erik. Er kniff die Augen zusammen, als könne er
so den Nebel durchdringen und erkennen, was für den Ge-
stank verantwortlich sein könnte, der immer stärker wurde.
Dank der Windstille hing der ekelerregende Brodem wie
eine Wolke über dem Schiff, hüllte es ein, rückte Deck für
Deck in den Rumpf vor. Bald gab es niemanden mehr an Bord
der Sturmvogel, der nicht von der Ausdünstung heimgesucht
wurde. Manche versuchten durch den Mund zu atmen, andere
hielten sich Tücher vor die Nase, was viele nachahmten.
»Da!«, rief plötzlich jemand und deutete in den Dunst.
Alle an Deck starrten erschrocken in die angegebene
Richtung.
»Was …?«, setzte Pete an und verstummte. Das fahle
Weiß des Nebels verdunkelte sich, als würfe ein riesiges
Gebilde oder Untier einen gewaltigen Schatten.
»Grundgütiger!«, entfuhr es einem Seemann. Er ließ sein
Tuch sinken und nahm einen unbedachten Atemzug, der ihn
sogleich würgen ließ. Der Schatten vertiefte sich, gemächlich,
in einer beinahe majestätischen, auf jeden Fall bedrohlichen
Weise. Hinter jeder Stirn spielte sich ein kleines Drama ab.
»Höllenbrut.«
»Ein Meerungeheuer.«
Das Gerede riss Henry und Pete aus ihrer Starre.
»Gefechtsalarm!«
»Alle Mann auf ihre Posten!«
»Los! Los! Los! Beeilung, Männer!«
Die Männer fuhren angesichts der ungewohnt lauten
Befehle zusammen, starrten verständnislos zu ihrem Ka-
pitän, ehe ihre Körper reagierten. Der jahrelange Drill war
stärker als Schrecken und Furcht.
Geschrei, Trampeln, Rumpeln und Krachen erfüllte das
seit Tagen verstummte Schiff, es war, als bahnten sich die
bis dahin unterdrückten Regungen endlich einen Weg.
Doch die Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Fast jeden
bewegte die bange Frage: Halfen ihre Waffen gegen lebende
Tote und Ungeheuer?
Noch während die Geschützbesatzungen an ihren Ka-
nonen hantierten, um sie feuerbereit zu machen, und das
Unterdeck mit Poltern, Rumpeln und Verwünschungen
füllten, gewann der Schatten mehr und mehr an Kontur.
Mochte die See auch spiegelglatt daliegen, trieb die
Strömung dennoch alles, was auf ihr schwamm, voran. Nur
so war zu erklären, dass sich der Schatten nähern konnte.
»Ein Schiff!«, rief jemand an Deck, der Ruf pflanzte sich
in Windeseile fort und damit wussten es alle an Bord der
Sturmvogel. Mit viel gutem Willen ließ sich tatsächlich der
Umriss eines großen Seglers erkennen.
»Es treibt auf uns zu!«
Das war fast zu viel gesagt. Dieser Schatten machte eher
den Eindruck, er hinge regungslos im Nebel; doch vertiefte
sich die Düsternis langsam, was immer dort war, schien
wirklich näherzukommen.
Als die anfängliche Spannung ein wenig nachließ, öffnete
sich der Nebel wie ein Vorhang und gab den Blick auf den
Schatten frei.
Eine Mischung aus Seufzen und Stöhnen wehte über
das Hauptdeck der Sturmvogel: tatsächlich ein Schiff.
Mehr und mehr Einzelheiten schälten sich aus dem
trüben Nebelschleier, dem Bugspriet folgten Vorderdeck
und der Fockmast mit traurig von den Rahen herunter-
hängenden Fetzen.
Der Hauptmast befand sich in keinem besseren Zu-
stand, die Takelage sah derart mitgenommen aus, dass man
eigentlich nicht mehr von einer solchen reden mochte.
Die nüchternen Gemüter ließen ihre erfahrenen Blicke
über den Rumpf des fremden Schiffes gleiten, doch fanden
sie keine Spur von den Folgen eines Gefechts. Aber der
Gestank! Er wurde immer stärker.
»Es ist so still.«
Wie auf Kommando hielten alle den Atem an.
Kein Laut, kein Mucks, nichts.
Jedermann starrte zum fremden Schiff hinüber, das zer-
zaust und leblos auf dem Wasser ruhte. Auf Deck ließ sich
keine Bewegung ausmachen, es war nichts zu hören, das auf
die Anwesenheit von Menschen schließen ließ.
»Ein Totenschiff!«, hauchte jemand.
Der Mann starrte wie gebannt auf den Schatten im Nebel.
Pete warf ihm einen scharfen Blick zu.
Bald schloss sich der Nebelvorhang und verwischte die
gruseligen Einzelheiten der geisterhaften Erscheinung in
diesiger Düsternis, als habe sie sich im Nebel aufgelöst.
»Zumindest wissen wir jetzt, woher der Gestank kommt«,
meinte Jeremiah. Auf seiner Schulter hatte Chatou beide
Arme um das Gesicht geschlungen und gab ab und zu
klägliche Laute von sich.
»Sie müssten uns aber gesehen haben«, meinte Henry.
»Wenn da noch jemand an Bord ist, dann schon«,
brummte Pete.
»Die Toten wachen immer«, wisperte ein Seemann in
einem Ton, als habe er eines der letzten Rätsel der Welt er-
gründet.
»Riecht ihr das? Schwefel! Der Teufel hat das Schiff
gekapert und die Mannschaft verdammt. Ich sage euch …«
»Wenn das Schwefel ist, dann duftest du nach Rosen-
wasser«, schnauzte Pete den Mann an.
Dankbares Gelächter wehte über das Deck.
»Auf dem Schiff ist nicht der Teufel«, fuhr Pete in einer
ernsteren, gedrückteren Tonlage fort. »Sollte er je dagewesen
sein, dann hat er es längst verlassen.«
Joshua schaute Pete fragend an. Doch nicht der Kapitän
oder Henry gaben eine Antwort auf die ungestellte Frage,
sondern Dr. Penbult, dessen Worte vor Erregung vibrierten.
»Das ist ein Sklavenschiff.«

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