Schriftsteller - Buchblogger

Kategorie: Rezension (Seite 1 von 44)

Robert Forster: Das große Mittelerde-Lexikon

Ein Lexikon ist nicht nur zum Nachschlagen da, sondern lädt zum mäandernden Stöbern ein. Wer nur die Filme kennt, wird gelegentlich eines Besseren belehrt. Cover Anaconda-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Natürlich kann man die Romane Der Hobbit und Der Herr der Ringe von J.R.R. Tolkien lesen, ohne ein Lexikon griffbereit zu haben. Bei Das Silmarillion wäre ich mir nicht so sicher. Zu Beginn dieses Buches von J.R.R. Tolkien rauscht dem Leser eine wahre Flut an Namen entgegen. Es ist hilfreich, ohne langes Zurückblättern nachsehen zu können, wer sich hinter einem dem jeweiligen Namen verbirgt.

Da kommt Das große Mittelerde-Lexikon von Robert Forster gerade recht, das – wie der Untertitel sagt – einen Führer durch die vielschichtige Fantasy-Welt Tolkiens bieten will. Ein wichtiger Grund für die hohe, für manche bis heute unerreichte und unerreichbare Qualität von Der Herr der Ringe liegt in der verschlungenen und verworrenen Geschichte vor der eigentlichen Handlung; also in den Legenden und Sagen, Liedern und Epen, die oft nur angerissen oder erwähnt werden. Auch aus diesem Grund lohnt sich bei der Lektüre des Opus Magnum von Tolkien der Blick in das Lexikon.

Die Neuauflage des Lexikons, das erstmals vor mehr als einem halben Jahrhundert erschien, steht in der deutschen Version vor einem grundlegenden Problem: Es gibt zwei miteinander konkurrierende Übersetzungen des The Lord of the Rings und The Hobbit. Die ältere hat Margaret Carroux vorgenommen, die jüngere Wolfgang Krege. Wie es sich für ein Werk mit Kult-Status gehört, wurde und wird erbittert über die Frage gestritten, welche der beiden Übersetzungen angemessen ist.

Inzwischen hat sich die ältere Textfassung, die auch der deutschen Synchronisation von Peter Jacksons Verfilmungen zugrunde gelegt wurde, wieder als Standard durchgesetzt.

Robert Forster: Das große Mittelerde-Lexikon

Meine Ansicht zu diesem Thema spielt keine Rolle, stattdessen möchte ich an dieser Stelle dazu anregen, wenigstens einmal einen langen Blick in die englische Originalversion The Lord of the Rings zu werfen. Das habe ich zu Beginn des Jahres 2024 getan und während der großartigen Lektüre oft darüber nachgedacht, wie ein Satz überhaupt im Deutschen wiederzugeben wäre, um möglichst nahe am Sinn zu bleiben und literarische Verrenkungen zu vermeiden. Übersetzen ist eine Kunst, die einen oft zu wenig gewürdigten Aufwand erfordert.

Das große Mittelerde-Lexikon orientiert sich an der Carroux-Übersetzung von Der Herr der Ringe und der Krege-Übertragung von Der Hobbit und Das Silmarillion. In einem Vorwort von Helmut W. Pesch wird über die Grundlagen der Entscheidung informiert; die alternativen Übersetzungen werden – wenn nötig – zu Rate gezogen und in den Lexikon-Artikeln auch genannt. Vorangestellt ist dem Lexikon eine Liste an Quellen und Hilfsquellen, ein Anhang informiert zudem über interessante Genealogien.

Im Nachwort gibt es außerdem eine Erläuterung, warum verschiedene Veröffentlichungen nicht berücksichtigt wurden. Die Leitlinie ist, dass die Informationen im Einklang mit den Hauptwerken J.R.R. Tolkiens stehen müssen. So wurden beispielsweise die Lebensdaten von Figuren ergänzt. Erzählerische Neufassungen wie Die Kinder Húrins wurden dagegen nicht berücksichtigt, auch weil die Informationen bereits im Silmarillion und Nachrichten aus Mittelerde enthalten sind und wesentlich Neues fehlt.

Drachen. Böses Gezücht aus dem Norden von Mittelerde, riesig, mächtig, mit einem Schuppenpanzer bedeckt, langlebig, gierig nach Schätzen und voller Bosheit.

Robert Forster: Das große Mittelerde-Lexikon

So beginnt der Abschnitt über die Drachen in Mittelerde. Man erfährt weiterhin, dass vermutlich Morgoth diese Wesen züchtete, von denen es drei Arten gegeben habe: Feuerdrachen, geflügelte Drachen und Kaltdrachen. Diese Information mag für den gewöhnlichen Leser nebensächlich sein, kaum mehr als eine Girlande. Doch zeigt sie, wie das Lexikon weit verstreute Einzelinformationen zusammenträgt und verdichtet. Man kann sich den Spaß machen und die jeweiligen Textstellen nachlesen.

Etwas merkwürdig ist der Umgang mit Querverweisen. In dem Abschnitt über Drachen werden zwei namentlich erwähnt: Glaurung und Smaug. Zu beiden gibt es im Lexikon kurze Artikel, aber keinen Verweis im Artikel über Drachen. Im Abschnitt Urulóki (d.h. Feuerdrachen) wird hingegen mit einem Pfeil auf Glaurung verwiesen. Das macht den Gebrauch des Lexikons etwas umständlich, weil man selbst nachschauen muss, ob es zu einem Stichwort einen Eintrag gibt oder nicht.

Ein ganz eigenes Vergnügen ist das mäandernde Herumstreifen durch das Lexikon. Zum Beispiel das Wort „Dagor“ – also „Schlacht“. Fünf Einträge gibt es zu dem Stichwort, „Dagorlad“ kennt man aus Der Herr der Ringe, die anderen stammen aus Das Silmarillion. Eines ist Dagor Dagorath, “Schlacht der Schlachten“ oder Letzte Schlacht, was an Ragnarök oder die Götterdämmerung erinnert. Bei Tolkien ist es »die endgültige Überwindung der Dunkelheit in Ea

Das ist ein erstaunlich optimistischer Gedanke, wenn man die im Silmarillion geäußerte Ansicht bedenkt, nach der die Lüge nie aus de Welt zu schaffen wäre. Wie also das Böse? Wofür Ea steht, wird in eine weiteren Artikel erläutert, von dem man per Querverweis zu einer ganzen Reihe von Begriffen geführt wird. Wer dem Pfad folgt, unternimmt eine ganz eigene Reise durch die Welt Mittelerdes, deren vielschichtige Zauber sich auch auf diese Weise vor dem Leser entfalten.

Gern bedanke ich mich beim Anaconda-Verlag für das Rezensionsexemplar

Robert Forster: Das große Mittelerde-Lexikon
Der alphabetische Führer zur Welt des Herrn der Ringe, des Hobbits und des Silmarillion. Das Standardwerk vom führenden Tolkien-Experten
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt, bearbeitet und ergänzt von Helmut Pesch
Anaconda Verlag 2025
Hardcover 784 Seiten
ISBN: 978-3-7306-1521-8

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Nach der Lektüre fühlte ich mich, als wäre über mich eine Staffel Eurofighter im Tiefflug hinweggedonnert. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Zu Beginn seines Buches wählt Giuliano da Empoli das anschauliche Bild eines Epochenbruchs, der mehrere Jahrhunderte in Vergangenheit zurückliegt. Er schildert, wie die politische Elite des Aztekenreichs, Herrscher Moctezuma II. und seine Berater, auf die Kunde von der Ankunft der Spanier um Hernán Cortés reagierten. Zunächst betont da Empoli die Fremdheit der Ankömmlinge in der Wahrnehmungswelt der Azteken, ein zentrales Motiv. Es erschwert die Einschätzung, mit wem man es zu tun hat und welche Absichten die Fremden verfolgen.

Undurchdringliche Rüstungen, Feuerwaffen, Kampftaktik und Pferde ließen kaum einen Zweifel an deren technologischer Überlegenheit, dennoch wäre es laut da Empolis möglich gewesen, die wenigen Spanier in Meer zu werfen. Das Problem lag in der Einordnung der Fremden, die nur innehalb der eigenen Vorstellung, des Referenzrahmens geschehen konnte: Waren es Barbaren, Götter oder gar eine Verkörperung des eins vertriebenen Quetzalcóatl? Die Reaktion auf die Ankunft hing von der Beantwortung der Fragen ab. Angesichts der fehlenden Eindeutigkeit geschah – nichts.

In der Zwickmühle einander widersprechender Meinungen tat der Herrscher, was Politiker aller Zeiten in solchen Situationen tun: Er entschied, sich nicht zu entscheiden.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Das meint, Moctezuma entschied sich gegen den Krieg, um in das eigene Herrschaftsgebiet eindringenden Fremden zu vernichten, also gegen einen schmerzhaften und riskanten Schritt mit unwägbarem Ende. Stattdessen habe er Botschafter und Geschenke geschickt, ihnen jedoch den Zutritt zu seiner Hauptstatt verweigert. Am Ende dieser Zögerlichkeit habe er Krieg und Schande geerntet, »was in allen Zeiten aus dergleichen Zögerlichkeit hervorgeht.«

Diese Interpretation von Moctezumas Verhalten wird dem Aztekenherrscher möglicherweise nicht gerecht, folgt man neueren Forschungen, wie etwa Camilla Townsends Fünfte Sonne. Sie bestreitet die Vorherrschaft religiös motivierter gegenüber rationalen Einschätzungen, unterstreicht die technologische Unterlegenheit (»die Welt der Sumerer trifft auf die Renaissance«) bei gleichzeitiger Entschlossenheit der Eroberer und verweist auf die begrenzten Ressourcen des aztekischen Herrschaftsbereiches. Alles zusammengenommen machte einen militärischen Erfolg gegen die Spanier unwahrscheinlich. Trotzdem widerlegt das da Empolis Vergleich keineswegs, im Gegenteil.

Moderne Herrscher können sie nicht wie der von Da Empoli skizzierte Moctezuma auf Unwissen berufen. Sie wissen zum Beispiel in Bezug auf Wladimir Putin sehr genau, was auf sie zukommt; gleiches gilt für China. Auch die erodierende Wirkung der Sozialen Medien auf die Fundamente der Macht ist ihnen mittlerweile bekannt, sie ahnen, dass KI es nicht besser machen lässt. Trotzdem verweigern sie entschlossenes Handeln, obwohl sie – anders als der tragische Aztekenherrscher – eben nicht unterlegen sind bzw. im Falle der KI waren. Im Grunde genommen ist das Versagen also noch viel dramatischer als von Da Empoli für Moctezuma skizziert.

So oder so folgte der Ankunft der Spanier die Auslöschung der Azteken und anderer indigener Völker, die Versklavung von Millionen Menschen, die Ausbeutung südamerikanischer Silbervorkommen, womit endlose Kriege in Europa einschließlich der Abholzung ganzer Landstriche finanziert wurden. Darin liegt eine Botschaft von Die Stunde der Raubtiere, dass nämlich derartige Verheerungen auch durch die modernen Technologie-Konquistadoren verursacht werden. Wenn blöd läuft, eine globale Unterwerfung, vielleicht auch die Auslöschung der Menschheit.

Konfrontiert mit Blitz und Donner des Internets, der sozialen Netzwerke und der KI, unterwarfen sie [die Politiker A.P.]  sich in der Hoffnung, ein wenig Feenstaub werde auch auf sie niedergehen.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Da Empoli spricht in seiner sehr persönlichen Analyse von »Degradierungsritualen«, denen er in den vergangenen Jahrzehnten beigewohnt habe. Was er dann in wenigen Sätzen skizziert, ist niederschmetternd, denn es zitiert Bilder, dem jeder Leser von TV-Bildschirmen, aus dem Internet oder der Tagezeitung kennt. Nur unterfüttert er sie mit einer Auslegung, die sich diametral von den Medien unterscheidet; er beruft sich auf seine Erfahrung als politisch Aktiver, Berater und Beobachter. Da alles steht auf den ersten zweieinhalb Seiten. Dem Leser kann dabei schon apokalyptisch zumute werden.

Das Gefühl verstärkt sich während der Lektüre von Die Stunde der Raubtiere. Immer wieder greift der Autor auf historische Motive zurück, vor allem den Untergang der Republik von Florenz, aber auch auf die von Niccoló Macchiavelli beschriebenen Borgia. An deren Handlungsweisen spiegelt er moderne Machtergreifungs- und sicherungsstrategien, etwa die des Mohamed Ben Salman, einer »Figur, die ummittelbar Macchiavellis Werk entstiegen ist.«

Eine besondere Rolle bei den historischen und modernen »Borgianern« spielt die Aktion, die rasche, zielgerichtete und vor allem überraschende Handlung. Das Ziel, so Da Empoli, liegt in der »Schockstarre«, die auf eine Aktion folge. Damit bekommt der Beginn des Buches, die Betonung der Handlungsunfähigkeit und –unwilligkeit moderner Politiker ein noch viel stärkeres Gewicht. Hier wird ein wichtiger Grund für die mit den Händen zu greifende Wehrlosigkeit des gewohnten Politikbetriebes genannt.

Das Zeitfenster, in dem ein Regulierungssystem noch hätte eingerichtet werden können, hat sich heute wieder geschlossen.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Die Einschätzung ist dramatisch. Das Kind liegt im Brunnen und ertrinkt. Damit geht Da Empoli noch über Anne Applebaum oder Timothy Snyder hinaus, die solche Regulierungen als Gegenmaßnahmen empfohlen haben. Dafür ist es zu spät, die Macht der global agierenden Konzerne und die Ruchlosigkeit ihrer Schöpfer und Lenker zu groß; sie brauchen sich längst nicht mehr hinter vorgeschützter Harmlosigkeit zu verstecken.

Die Kapitel, in denen sich das Buch mit den US-Demokraten befasst, werden vielen links-progressiven Lesern übel aufstoßen. Wer aus diesen Kreisen hört schon gern, dass für die Borgianer der »Wokismus ein gefundenes Fressen [ist], der ideale Brennstoff, um ihre Chaosmaschinerie am Laufen zu halten.«? Anhand eines dramatischen Treffens anlässlich von Obamas Abschied aus dem Weißen Haus im November 2017 zeigt Da Empoli, welche Steilvorlagen aus diesem Bereich für die Trumpisten gegeben wurden und bis in die Gegenwart gegeben werden.

Dummerweise hülfe auch ein wenig mehr Klugheit möglicherweise nicht (mehr) weiter. Der für mich haarsträubendste Abschnitt befasst sich mit dem Putsch der Bolschewisten unter der Führung von Leo Trotzki im Herbst 1917. Alexander Kerenski, der die Macht in den Händen hielt, war laut Da Empoli weder schwach noch unfähig, obendrein entschlossen. Trotzdem fegten ihn eine Handvoll Bolschewisten hinweg, weil diese die überkommene Aufstands-Schlachtordnung umstürzten.

Der wahre Antizipationsroman über die KI ist Der Prozess von Kafka, in dem niemand versteht, was vor sich geht, weder der Angeklagte noch die Richter, die ihn anklagen, und doch nehmen die Ereignisse unaufhaltsam ihren Lauf.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere

Das Zitat müsste vielleicht noch durch Kafkas Das Schloss erweitert werden, auf das sich Da Empoli auch bezieht. Am Ende führt der Autor noch vor, wie die Neue Welt unter der digitalen Fuchtel aussieht. Nicht aussehen könnte, denn »für einige ist das Schloss bereits da«, beispielsweise die Zusteller. Oder das Örtchen Lieusaint in Frankreich, das bereits spürt, wie es ist, unter der Optimierungs-Zuchtrute einer KI zu leben. Der Brückenschlag macht aus der bis dahin bildgewaltigen, aber eher abstrakten, literarisch unterfütterten Darstellung schlagartig Alltagsrealität. Der Leser fühlt sich, als wäre eine Staffel Eurofighter im Tiefflug über ihn hinweggedonnert.

Ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag C.H. Beck zur Verfügung gestellt wurde.

Giuliano Da Empoli: Die Stunde der Raubtiere
Macht und Gewalt der neuen Fürsten
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck 2025
Klappenbroschur 128 Seiten
ISBN: 978-3-406-83821-7

Neue Lektüre: Über das Schreiben und Lesen

Mit Schreibratgebern weiß ich nicht viel anzufangen, sofern sie sich auf die Techniken, das viel beschworene »Handwerk« oder gar irgendwelche obskuren Erfolgsaussichten am Buchmarkt beziehen. Derartige Schreib- und Erfolgstipps findet man auf Instagram zuhauf, sie gehen meist Hand in Hand mit dem Wort »Regel«. Nach »Regeln« zu schreiben ist aber wie Malen nach Zahlen.

Ratschläge anderer Art nehme ich gern an. So habe ich Hilary Mantel den Hinweis auf Dorothea Brande zu verdanken, die vor rund einhundert Jahren ein Buch mit dem Titel Becoming a Writer (deutsch Schriftsteller werden) verfasst hat. Auch da gibt es Vorschläge, aber mit einem etwas anderen Charakter. Im Gegensatz zu gängigen Schreibratgebern schlagen solche Bücher einen sehr langen Weg vor, bei dem man eben nicht Regeln und Tipps befolgt.

Lesen – Lesen – Lesen – Nachdenken

Brande rät, man solle Bücher lesen und jene Titel mehrfach wiederlesen, deren Schreibweise einem gefällt, um zu erforschen, was die Autoren eigentlich machen bzw. womit sie erreichen, dass es uns als Leser gefällt. Im Gegensatz zu Regeln, die befolgt werden, sollen die Mittel des Autors keinesfalls kopiert werden. Der Nachwuchsautor soll sich vielmehr darum bemühen, auf der Basis des Gelesenen eine eigene Schreib-Weise zu finden. Brande legt den Fokus auf das Individuelle, nicht auf das Kopierbare. Das liegt quer zum Trend, der mit dem Aufkommen von KI verstärkt wird, denn die kann bestenfalls Malen nach Zahlen.

Ohne umfangreiche Lektüre (bzw. Filme) geht es nicht. Das zeigt auch Anatomy of Story von John Truby, aus dem ich bereits viel Wissenswertes schöpfen konnte. Ohne Kenntnis der dort genannten Bücher und Filme hätte das Gesagte nicht in dem Maße weiterhelfen können, wie es in meinem Fall gewesen ist. Aber auch bei Truby habe ich nicht als Quelle von Tipps und Regeln zum Befolgen oder nachmachen gelesen.

Mehrere Jahre habe ich zum Beispiel darüber nachgedacht, ob es für meine Buchserie Piratenbrüder sinnvoll sein könnte, dem Antagonisten eine Stimme zu geben, um sein Weltbild zu erklären, wie Truby anregt. John Black alias Eisenkralle bekommt in Opfergang – Piratenbrüder Band 7 tatsächlich die Möglichkeit, sich zu äußern, nachdem er wie ein schwarzer Schatten durch sechs Bücher geisterte.

Drei neue Bücher zum Thema Schreiben

Nun also drei weitere Bücher, die sich mit dem Thema Schreiben und (untrennbar damit verbunden) Lesen befassen. Die Briefe an einen jungen Schriftsteller von Mario Vargas Llosa sind für mich vor allem wegen ihrer Fremdheit von großem Wert. Mit gängigen Unterscheidungen, wie zwischen personaler und auktorialer Erzählhaltung, bricht Vargas Llosa, dabei wird gerade um die »Einhaltung« der Perspektive in manchen Kreisen ein immenses Gewese gemacht.

Anders liegt die Sache bei Martin Maar und seiner Schlange im Wolfspelz. Der Titel mit seiner schrägen Metapher wird im Buch auch erklärt, wie so viele andere Besonderheiten, Glanzstücke und Schattenplätze der Literatur. Maar schreibt ausgezeichnet und ist oft richtig witzig. Dabei verhält es sich wie mit »Spuren von Nüssen« in Nahrungsmitteln – das kann zu allergischen Reaktionen führen.

Daniel Kehlmann ist mir als Autor hervorragender Romane (Tyll, Lichtspiel) bekannt, außerdem hat er ein sehr lesenswertes Buch über Leo Perutz geschrieben. Für Die Kunst des Erzählens von James Wood hat Kehlmann das Vorwort verfasst, was mehr als eine Buchempfehlung ist.

Wie alle anderen genannten Bücher wird auch Wood den Nachteil haben, meine Leseliste zu verlängern. Moby Dick steht schon im Regal, Don Quichote in den Startlöchern, außerdem wären da noch die Briefe von Rahel Varnhagen und so viele mehr, dass sich dieser Text mal eben verdoppeln und verdreifachen würde. Belasse ich es also bei den Beispielen.

Was die Lektüre dieser Bücher so besonders macht: Ich lese nicht allein, kann mich jeden Tag darüber austauschen. Die Schlange im Wolfspelz wird abends vorgelesen (anstrengend!), die Briefe an einen jungen Schriftsteller haben wir Brief für Brief abwechselnd gelesen und besprochen. Parallel läuft die Arbeit am Lektorat von Opfergang – Piratenbrüder Band 7, natürlich beeinflusst das Eine das Andere.

Volker Kutscher: Westend

Der Schlussstein im weitläufigen Gebäude der Romane um den Berliner Polizisten Gereon Rath. Volker Kutscher wählt eine gelungene Form, Kat Menschik liefert stimmungsvolle Illustrationen. Cover Galiani, Bild mit Canva erstellt.

Lesen oder doch lieber nicht? Die Frage war für mich nicht so einfach zu klären, schließlich handelt es sich um einen knappen Folgeband einer umfangreichen und in mancher Hinsicht auch glanzvollen Buchreihe. Die Gefahr einer Enttäuschung oder Entzauberung ließ sich nicht ausschließen. Volker Kutscher hat mit Westend jedoch einen Joker ausgespielt, der über das schnöde Was-ist-mit-diesem-und-jener-passiert hinausgeht. Wer sich für die Schicksale interessiert, bekommt überraschende Antworten, auf eine spezifische Weise, denn am Ende ist eben nichts beendet und keineswegs alles geklärt. Und doch ist Westend tatschächlich Schlussstein der Gereon-Rath-Romane.

Rath, der Schlussband der zehnteiligen Buchreihe um Gereon Rath, hat einige Erzählfäden offengelassen. Mehr noch: Die letzten Seiten des Romans deuten ein außerordentliches Schicksal des Adoptivkindes von Gereon und Charlotte Rath, Friedrich Thormann, an, der in der schwarzen Uniform der SS eine riskante Form der Rache verfolgt. Dabei könnte man es belassen, eine Sequel-Reihe schreiben oder im Rahmen eines illustrierten Nachzöglings eben einige Schicksale im Mahlstrom der Apokalypse des Zweiten Weltkrieges skizzieren.

Volker Kutscher hat sich für letztere Variante entschieden und nach Moabit und Mitte mit Kat Meschik einen dritten Band ergänzend zu seiner Buchreihe verfasst. Westend führt in das Jahr 1973 und wählt eine überraschende Form des Erzählens: ein Interview, das auf Kassetten gespeichert wird. Ein Historiker befragt Rath, der – wie gewohnt nolens volens – Auskunft gibt; auf den ersten beiden Seiten erfährt der Leser von einer weiteren Person, die sich später hinzugesellt – Charlotte Böhm. Damit ist schon eine Menge verraten und ich werde an dieser Stelle nicht noch mehr vom Inhalt offenbaren.

Das waren die amerikanischen und britischen Bomber.

Volker Kutscher: Westend

Das bisher Gesagte ist keine große Hilfe bei der Beantwortung der Frage, ob man zu dem Buch greifen sollte oder nicht. Es gibt sehr gute Gründe, warum in Romanen nicht alles auserzählt wird. Im Falle Gereon Raths habe ich dennoch nach recht kurzer Bedenkzeit die Entscheidung getroffen, das Buch zu lesen. Neben der Neugier, was einige Protagonisten nach dem Ende des Romans Rath erlebten, lag der wichtigste Grund darin, dass eine meine anfängliche Hauptfrage, wie Rath sich im Vernichtungskrieg verhielte, ohnehin offenbleiben würde.

Gereon Rath ist 1899 geboren, Kriegsteilnehmer ohne Fronteinsatz und Polizist in den Jahren der Weimarer Republik. In den Romanen Kutschers tritt er als politisch ahnungsloser Zeitgenosse auf, ist korrupt und ein Meister des Lavierens. Als ich die ersten Romane der Reihe las, ist mir aufgegangen, hier dem Lebensweg eines jener „ganz normalen Männer“ (Browning) zu folgen, die ab 1941 in den berüchtigten Polizeibataillonen hinter der vorrückenden Wehrmacht auf dem Gebiet der “Bloodlands“ (Snyder) Millionen Juden erschossen. Ich war gespannt, wie der begnadete Lavierer in dieser totalen Situation reagieren würde.

Volker Kutscher hat seiner Romanfigur dieses Schicksal erspart. 1936 sollte die Buchreihe eigentlich enden, nach Olympia folgten noch zwei weitere Teile. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war; Brüche waren schwer vermeidlich. Der Ausweg, den Berliner Teil der Erzählung auf die Schultern von Charlotte Rath zu legen, funktioniert, hatte aber den Nachteil, dass der Fokus von der ursprünglichen Hauptfigur abrückt. Das gilt nicht umsonst als schwierig, aus guten Gründen, wie die Romane Transatlantik und Rath zeigen. Die größte Stärke der Reihe, die Atmosphäre, prägt auch die beiden Schlussbände.

Das sollte nicht als verkappte Kritik verstanden werden, die beiden Schlussteile der Buchreihe sind und bleiben sehr gute Romane; sie erzählen mehr, als ursprünglich gedacht war, zugleich bleibt das, was mich ganz besonders interessierte, offen. Das war letztlich ausschlaggebend, mich für die Lektüre von Westend zu entscheiden. Hinzu kommt noch die Verfilmung der ersten Bände der Buchreihe, Babylon Berlin scheitert auf grelle Weise beim Versuch, die Romane zu übertrumpfen, indem es überzieht und in schwurbelndes Raunen abdriftet. Zugleich verweigert die Film-Serie den Schritt in die Nazizeit, lässt also noch mehr offen als die Buchvorlage. Die Geschichte von Gereon Rath ist also in meiner Rezeption auch noch multimedial verzerrt. Was kann da schon bei einem Epilog aus der Feder des Autors schiefgehen?

Ich weiß nicht, was du willst, Gereon Rath. Das, was du willst, und das, was du anrichtest, das waren schon immer zwei paar Schuhe.

Volker Kutscher: Westend

Die Lektüre von Westend macht großen Spaß, was nicht zuletzt an den stimmungsvollen und den Geist der 1970er Jahre atmenden Illustrationen von Kat Meschik liegt. Es gibt einige Kostbarkeiten zu entdecken, eine Reminiszenz für die Zeitgenossen, ein Museums-Oha für die Nachgeborenen. Es ist begrüßenswert, dass Kutscher die Form des Interviews bzw. Dialogs gewählt hat, auch in der Form ist der Bruch mit den Romanen vollzogen – aber eben nur in der Form. Gereon Rath jedenfalls handelt so, wie man ihn in den Romanen kennengelernt hat, mit den bekannten Folgen.

Inhaltlich hat es Westend in sich, es geht nicht zuletzt um das Erinnern, den verlogenen Mythos der Stunde Null, Lügen privater und staatlicher Natur, zwischen denen der Einzelne zerrieben wird oder aber trotz aller Schuld davonkommt. Das Leben ist nicht gerecht. Es scheint nur vorgezeichnet, insbesondere in Zeiten dramatischer Umbrüche geraten die Lebenswege rasch zu Achterbahnen, auf deren Lauf der Einzelne nur wenig oder gar keinen Einfluss hat. Für die Gegenwart des Lesers ist das wie eine Art Spiegel, denn die Brüche haben seit 2014 epochalen Charakter. Es ist daher vielleicht auch mehr als ein Zufall, dass die zehn Romanbände Volker Kutschers von einem anderen fundamentalen Bruch erzählen. Westend bildet in diesem Sinne tatsächlich einen gelungenen Schlussstein.

Rezensionsexemplar, für das ich mich gern beim Galiani Verlag bedanke.

Volker Kutscher: Westend
Illustriert von Kat Meschik
Galiani Berlin 2025
Gebunden 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-323-6

Mischa Meier: Die Hunnen

Sie galten als die Barbaren schlechthin, haben ganze Lanstriche mit ihren aggressiven Raub- und Mordzügen verwüstet und Imperien ins Wanken gebracht: die Hunnen. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Der Untergang des weströmischen Kaisertums war nicht zuletzt auch eine Folge des Zusammenbruchs des hunnischen Machtgebildes gut eine Generation zuvor und des dadurch ausgelösten Westdrifts zahlreicher Krieger.

Mischa Meier: Die Hunnen

Wer waren denn nun eigentlich Die Hunnen? Nach der Lektüre des Buches über die »Geschichte der geheimnisvollen Reiterkrieger« lässt sich diese Frage noch weniger als zuvor mit einem kurzen Satz beantworten. Der Begriff »Hunne« bezeichnet (wie etwa auch »Skythe«) ganz unterschiedliche Gruppierungen, deren wesentliche Kennzeichen eine hohe Fluktuation oder Fluidität, eine nomadische Lebensweise, geprägt durch die Steppe, und große Mobilität waren.

In diesen nebeltrüben Annäherungen kann man schon Geheimnisse wittern, was in der Rezeption der Hunnen von den Römern bis Fritz Lang weidlich ausgenutzt wurde. Leichter fällt die Eingrenzung, wenn man sich vergegenwärtigt, was die Hunnen nicht waren. Als Volk, Stamm oder gar »Rasse« kann man die Hunnen nicht bezeichnen, für sie lässt sich auch kein eindeutiger Herkunftsort nennen. So kann man beispielsweise für einen Nordhessen einen Landstrich verorten, ein »Hunnien« wird man jedoch vergeblich suchen.

Große Vorsicht ist auch mit dem Begriff »Barbaren« geboten. Die Römer haben beherzt alles, was nicht-römisch war, als »barbarisch« abgegrenzt. Das Wort sagt wenig über die kulturellen Errungenschaften der jeweiligen »Barbaren« aus. Wer damit zottelige Geschöpfe in Pelzen, die kaum ein klares Wort über die Lippen bekamen, verbindet, denke bitte an die Karthager, die Parther (Sassaniden, Perser), Chinesen und alle anderen im Schatten europäischer Nabelschau verborgenen Hochkulturen.

Die Hunnen gelten als die Barbaren schlechthin.

Mischa Meier: Die Hunnen

Auch mit dem Begriff »Reiterkrieger« oder »Steppennomade« verlässt man das Niemandsland des Unpräzisen nicht, denn – wie etwa auch die Wikinger – haben die Hunnen keineswegs nur (Raub-)Kriege geführt und kein reines Nomadenleben geführt, sondern auch Handel betrieben und in geringem Maße auch Elemente einer sesshaften Lebensweise gezeigt. Autor Mischa Meier betont die hochkomplexe Herausforderung, die eine mobile Existenzform (Pferdezucht, Viehweidewirtschaft) darstellt, nicht umsonst sollen Steppennomaden nicht etwa der Sesshaftigkeit vorangegangen, sondern erst danach aufgetreten sein. 

Vor allem aber verbirgt sich hinter diesen Begriffen der gescheiterte Versuch Attilas, das hunnische Fundament der Machtausübung grundsätzlich zu wandeln, was letztlich zum Verschwinden der Hunnen führte. Was Meier in seinem Buch über das Ende der Hunnen unter Attila darstellt, berührt aus meiner Sicht mehrere der ganz grundlegenden Fragen an die Vergangenheit. Etwa: Warum scheitern Gesellschaften?

Gleich mehrere Staaten und sich in Ansätzen verstaatlichende, also in den römischen Kosmos integrierende Gruppierungen, sowie die Reiterverbände selbst scheiterten bzw. gerieten unter existenziellen Druck. Die Hunnen zeigt gleich mehrere grundverschiedene Beispiele für die Handlungsweisen von (staatlichen) Eliten in Extremsituationen. West- und Ostrom, Sassaniden, Goten, Burgunder, Franken, Hunnen usw. versuchten sich an ganz unterschiedlichen taktischen und strategischen Wegen, um zu überleben.

Auch in der Spätantike […] hingen große Teile der (römischen A.P.) Eliten an den überkommenen Vorstellungen eines permanent expandierenden Reiches an, dessen Grenzen letztlich mit den Rändern der bewohnten Welt identisch waren […] und dessen militärische Überlegenheit über jeden Zweifel erhaben sei.

Mischa Meier: Die Hunnen

Freunde schlichter Wahrheiten und Erklärungen werden es mit Die Hunnen schwer haben. Die Schilderung, was man aus wissenschaftlicher Sicht sagen kann, ist bei einer seriösen Herangehensweise immer mit der Diskussion darüber verbunden, worauf das Gesagte fußt. Meier stellte auführlich dar, wie weit die Thesen im Falle der Hunnen auseinandergehen, wo die jeweiligen Vorzüge und Nachteile des Erklärungsansatzes liegen und welche er für stichhaltig hält. Daran zeigt sich, wie »Wissen« und »Fakten« auf Konsens bei gleichzeitigem Dissens beruhen und eben nicht auf Eindeutigkeit oder gar Wahrheit.

Das reicht direkt in aktuelle Diskussionen hinein, etwa bei der Frage, ob man der hunnischen Machtbildung den Charakter eines Imperiums zuschreiben kann oder nicht. Zwangsläufig wird man mit Überlegungen konfrontiert, was eigentlich ein Imperium ist oder – wie Meier es im Zusammenhang mit den Hunnen vorzieht – ein Reich. Die dynamische Aggressivität der »Kriegskonföderation« aus Reiterkriegerverbänden beruhte nicht zuletzt auf dem Herrschaftsmodell eines charismatischen Anführers, der unter großem Erfolgsdruck durch seine Gefolgschaft stand und zur Expansion faktisch gezwungen wurde.

Es ist extrem spannend zu verfolgen, wie sämtliche Kontrahenten unter inneren Zwängen litten. Bei den Hunnen setzte der Machtzerfall ein, wenn der Erfolg ausblieb, aber eben auch, wenn der Erfolg zu groß wurde. Ganz praktisch enden die Möglichkeiten räuberischer Kriegszüge, wenn ein blühender Landstrich vernichtet wurde. Daher durfte das Römische Reich als lohnendes Ziel von Raubzügen nicht zerstört werden. Es blieb der Strategiewechsel, nämlich auf den Spuren anderer multiethnischer Gruppen Teil der Römischen Welt zu werden. Das heißt nicht, sich römisches Territorium zu unterwerfen, sondern eher den Versuch der Einbindung beispielsweise durch einen funktionalen Titel, wie magister militum für den Anführer etwa.

Attila wurde allmählich zum Opfer seines eigenen Erfolges.

Mischa Meier: Die Hunnen

Attila versuchte und verhob sich daran. Die Ereignisse um 450 n. Chr. sind in jeder Hinsicht spektakulär. Ausgerechnet auf weströmischem Territorium gelang militärischer Widerstand, der in der dramatischen Schlacht auf den Katalaunischen Feldern mündete. Der schauerliche Blut-Tag endete unentschieden, doch war der »Hunnen-Sturm« gestoppt. Das erinnert an die Schlacht bei Lützen 1632 und Wallensteins Diktum, was nach einer Schlacht geschehe, sei wichtiger als die Schlacht selbst.

Attila zog nach der Demütigung in Gallien im Folgejahr gen Italien und wurde dort nach Anfangserfolgen von Hunger, Krankheiten und logistischen Problemen abermals gestoppt. Das war der Anfang vom Ende seiner Herrschaft, die »Kriegerkonföderation« brach nach seinem überraschenden Tod rasch zusammen. Der »Sieg« über Attila und dem Zerfall seines Kriegsvolks war laut Meier allerdings ein wichtiger Grund für den Zusammenbruch des Weströmischen Reiches. Was kurios anmutet, klingt folgerichtig.

Statt eines großen Verbandes standen plötzlich zahllose kleinere Gruppen bereit, ein riesiger Pool an Kriegern, die bereit waren, sich für Beute und Land (!) in den Kampf zu stürzen. Jeder Warlord im zerrütteten römischen Westen konnte problemlos Kriegshaufen zusammenstellen, während die Zentralmacht um Kaiser Valentian III. ausgerechnet Flavius Aëtius (wie Wallenstein durch Ferdinand II.) beseitigen ließ, den Architekten eines halbwegs geordneten Galliens und der Allianz gegen Attila. Wenige Jahre später war Westrom nicht nur faktisch, sondern auch nominell Geschichte.

Anders als im Fall der gegenwärtigen russischen Aggression gegen die europäischen Demokratien muss aber keineswegs davon ausgegangen werden, dass sich im Fall eines hunnischen Erfolges «ein Leichentuch über das occidentalische Leben» gebreitet hätte.

Mischa Meier: Die Hunnen

Das Zitat ist eine ausgesprochen interessante Antwort auf die Frage, was geschehen wäre, wenn Attila sich militärisch durchgesetzt hätte. Dreimal nimmt Meier Bezug auf den allumfassenden Krieg des Moskauer Diktators gegen die Ukraine und Westeuropa. An einer anderen Stelle heißt es, dass wertvolle kulturelle Güter durch die Taliban aus der Hunnen-Zeit zerstört wurden, wie andere Kulturschätze aktuell in der Ukraine durch »russische Angriffshorden« für immer vernichtet werden.

Das erscheint mir ein sehr passender Gegenwartsbezug, der die menschenverachtende russländische Landnahme in eine lange, unselige Tradition stellt. Denn bei allem anderen haben die Raub- und Kriegszüge der Hunnen unendliches Leid über die Bevölkerung gebracht, ganze Landstriche verwüstet, zerstört und entvölkert. So geschieht es heute. Man kann derlei hinter einem Wort wie »Transformation« verstecken, ich bevorzuge allerdings zur Beschreibung von Vergangenheit und Gegenwart »Vernichtung« und »Untergang«.

Ich bedanke mich beim Verlag C.H. Beck für das Rezensionsexemplar.

Mischa Meier: Die Hunnen
Geschichte der geheimnisvollen Reiterkrieger
C.H. Beck 2025
Gebunden, 534 Seiten
Mit 22 Abbildungen und 11 Karten
ISBN: 978-3-406-82915-4

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