Eine Graphic Novel mit einem schwerwiegenden und schwierigen Thema, das Fragen aufwirft, die uns heute direkt betreffen. Cover Splitter Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ist jetzt die richtige Zeit für diese Graphic Novel? Im Osten Europas hat eine brutale Diktatur einen völlig enthemmten Angriffs- und Vernichtungskrieg losgebrochen, der erste, große vollumfängliche Krieg seit 1945 in Europa; Kriegsverbrechen werden verübt, die Invasion trägt die Züge eines Genozids, mit dem Ziel, die Ukraine in jeder Hinsicht auszulöschen.

Damit ist ein möglicher Zugang zu dieser Graphic Novel geöffnet, denn Die Reise des Marcel Grob beginnt in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Die Hauptfigur wird mitten hineingezogen in die Abgründe dieses weltumspannenden Krieges. Unweigerlich werden Fragen aufgeworfen. Kann man, darf man vergleichen? Das Massaker von Marzabotto, das in der Graphic Novel eine zentrale Rolle spielt, mit dem, was die russische Armee etwa in Butscha angerichtet hat?

Wie steht es mit der Schuld des Einzelnen, der vor Ort ist, Kriegsverbrechen ausführt oder ihnen als Teil der Tätergruppe beiwohnt? Gibt es mildernde Umstände, etwa die Drohung des eigenen Todes, durch ein Standgericht wegen Befehlsverweigerung? Heute und damals? Wie geht jemand mit der Schuld um, die ihn persönlich das gesamte Leben lang verfolgt?

Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Versuchen Sie mir diese Frage zu beantworten.

Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob

Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen, auch wenn beide Worte im alltäglichen Sprachgebrauch synonym verwendet werden. Wer etwas vergleicht, arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus; wer gleichsetzt, verwischt beides. Vergleichen muss also erlaubt sein, allein, um einen Versuch zu unternehmen, sich dem eigenen Standpunkt in der großen Tragödie unserer Tage anzunähern.

Die Graphic Novel von Philippe Collin & Sébastien Goethals bietet reichlich Möglichkeiten, über diese und andere Fragen nachzudenken. Die Geschichte selbst ist sehr spannend, die Zeichnungen sind großartig und auf eine authentisch wirkende Weise atmosphärisch;  Teile der Handlung spielen in Italien, die vertrauten Bilder (Lago di Garda) stehen in einem krassen Kontrast zu dem, was dort geschieht.

Vor allem sind die Personen gelungen. Die Protagonisten sind so genannte Malgré-nous, zwangsverpflichtete Männer aus Elsass-Lothringen, die überwiegend unfreiwillig in den Krieg gezogen sind. Die verschiedenen Schattierungen ihrer Einstellung werden sehr überzeugend dargelegt, ebenfalls die jähe Desillusionierung, die selbst die Motivierten trifft.

Waffen-SS, das heißt, wir werden den Bolschewiken mal so richtig in den Arsch treten.

Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob

Die Reise des Marcel Grob wirkt ungeheuer authentisch. An den geschilderten Kriegshandlungen ist nichts Heroisches. Es ist den Autoren gelungen, diese aus Kriegsromanen bekannte Blindheit der Soldaten einzufangen, die irgendwohin marschieren, ohne eine Ahnung zu haben, was ihnen blüht. Sie bringen Tod und Verderben über Arglose und werden von Tod und Verderben gleichsam aus dem Nichts heimgesucht.

Die Hauptfiguren werden 1944 eingezogen, als der Krieg aus deutscher Sicht militärisch längst verloren war und das NS-Regime Millionen Soldaten und Zivilisten blindwütig in den Tod geschickt hat, um die unabwendbare Niederlage hinauszuzögern. Was heute so offensichtlich erscheint, war es für viele damals nicht. Rückblickend ist man immer klüger – erinnern Sie sich noch, was Sie im Februar 2022 über die Aussichten der ukrainischen Armee dachten?

Als die jungen Männer um Marcel Grob ihren Ausbildungsstandort erreichen, sehen sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer; einige wissen nicht einmal, welches. Wie hätten sie die militärische Lage einschätzen können? Auch hier drängen sich dem Leser Fragen auf. Was wissen wir über den Krieg in der Ukraine? Was die russischen Soldaten? Vor allem: Welche Möglichkeiten, welche Handlungsoptionen stehen ihnen offen?

Die lassen uns krepieren, die Schweinehunde.

Philippe Collin & Sébastien Goethals: Die Reise des Marcel Grob

Bei aller Nähe zu den historisch überlieferten Wirklichkeiten handelt es sich um ein fiktionales Werk und als solches sollte es auch gelesen werden. Wenn etwa der Untersuchungsrichter den 83 Jahre alten Marcel Grob fragt, warum er nicht Selbstmord begangen hat, statt sich an dem Massaker zu beteiligen, wirkt das abstrus; bis sich auch die Umstände am Ende klären. Ein kleiner Paukenschlag

Zusätzliche Informationen ergänzen die Fiktion. Eine Karte informiert über den Weg, den Marcel Grob zurückgelegt hat, Informationen über die SS, die Waffen-SS, die militärische Formation, das Massaker und die strafrechtliche Verfolgung werden knapp abgehandelt. Einige Literaturempfehlungen runden das Zusatzmaterial ab.

Im Kern hält Die Reise des Marcel Grob auch eine Mahnung an die Gegenwart bereit: Viele Kriegsverbrecher oder (Mit-)Täter kamen nach dem Zweiten Weltkrieg davon, sie traten in alliierte Dienste (Wernher von Braun) oder wurden nach vergleichsweise kurzer Gefängnisstrafe wieder entlassen. Die Toten blieben tot.

Das führt zur letzten Frage. Russlands Krieg gegen die Ukraine wird nicht ewig währen. Wie wird es nach dem Ende des russländischen Vernichtungskrieges sein? Werden die Täter bestraft oder wird »vernünftig« gehandelt und geschont? Wer ein wenig zuhört, ahnt schon, wohin diese Reise gehen wird.

Die Reise des Marcel Grob
Szenario: Philippe Collin
Zeichnungen Sébastien Goethals
Aus dem Französischen von Harald Sachse
Splitter-Verlag 2019
Hardcover 192 Seiten
ISBN: 978-3-96219-320-1