Der Krieg kommt kaum vor und bestimmt doch alles in dem Roman Seebeben von Djaimilia Pereira De Almeida. Er hat die Hauptfigur namens Boa Morte – »Guter Tod« – in eine Randexistenz verwandelt, hat ihn schuldbeladen ausgespuckt und ans Ufer Portugals geworfen, wo er für den Rest seiner Tage ein geduldetes, wirtschaftlich und psychisch prekäres Leben führt.
Nur ganz wenige Sätze über den Krieg streut die Autorin ein, doch das reicht, um die Last der Schuldgefühle zu ermessen, deren Bewältigung aussichtslos erscheint. Der Kamerad, der durch Boas Feigheit stirbt, die unerträgliche Gewissheit, als Schwarzer andere Schwarze im Namen einer europäischen Macht getötet zu haben; die schiere Zahl der Toten, das durch die eigenen Hände vergossene Blut.
Doch seine Schuld reicht noch viel tiefer. Boa Morte hegte den Traum, Portugiese zu sein; seine Frau bezichtigte ihn, einem Irrtum aufzusitzen. Seine Reaktion besteht in Gewalt, was ihn später dazu bringt, in sich ein Raubtier zu vermuten, eine Hyäne. Er wähnt diese eingesperrt, doch da ist es längst zu spät. Seine Frau ist weg, seine Tochter Aurora auch.
Dein Problem ist, dass du dich auf einem Irrweg befindest, Boa Morte, du wirst nie Portugiese sein, die Weißen haben dich benutzt, so wie sie unsere Landsleute benutzt haben.
Djaimilia Pereira De Almeida: Seebeben
Seebeben handelt davon, wie Boa Morte versucht, trotz des Grauens in jenem Land zu überleben, zu dem er gehören wollte, aber – wie von seiner Frau vorhergesagt – nicht dazugehören kann. Es ist nicht nur die Hautfarbe, es ist nicht nur die Undankbarkeit des Staates gegenüber seinen ehemaligen Kombattanten, die nach dem – verlorenen – Krieg nur noch eine Last sind, wie alle Soldaten in allen Ländern nach allen verlorenen Kriegen.
Die Zerstörungen in seinem Innern, zu dem sich körperliche Gebrechen gesellen, lassen ihn gestaltlos werden. Als ihn das Schiff am Kai abgesetzt hatte, besaß er nur die wenigen Lumpen am Leib, die um einen zerrütteten Körper flatterten; erst durch das Schreiben von Briefen an seine Tochter Aurora glaubt Boa, wieder an Gestalt zu gewinnen, eine Person zu sein, zu leben.
Das Schreiben ist auch eine Flucht vor dem Schlaf, den ihm ein nicht abreißendes Band von Kriegsbildern zur Hölle werden lassen. Ein großer Teil des Romans wird aus der Ich-Perspektive erzählt, wenn Boa seiner Tochter aus seinem Leben berichtet, dabei oft Faden und Form verliert. Boas Schilderungen gehen in freie Assoziationen über, die bei aller Düsternis manchmal auch eine lichte Heiterkeit ausstrahlen.
Vielen Äußerungen merkt man die schiere Verzweiflung der Hauptfigur an, wenn diese etwa postuliert, Heimat wäre jenes Land, in dem ein Mann seinen Boden bestelle und für das er töten würde. Boa, der in einem Garten mit anderen Lebensmittel anbaut und dabei ein gewisses Glück erlebt, errichtet mit solchen Worten eine Schein-Heimat, die eben keine ist. Manchmal bricht die Sehnsucht nach seinem Herkunftsland durch, Angola, eine Maniok-Region; jene typischen Kindheitserinnerungen im Alter.
Meine Freundin wirkt wie eine Frau aus einem anderen Jahrhundert, die vergessen hat zu sterben.
Djaimilia Pereira De Almeida: Seebeben
Seine Gegenwart machen Jardel, eine ihm zugelaufene Flohschleuder, und seine »Freundin« Fatinha erträglich. Doch ist die junge Frau ganz ohne Krieg zerstört. Sie lebt auf der Straße, Alkohol hat ihren Geist und Körper zerrüttet und sie in einen Menschen verwandelt, der andere mit Ekel und Abscheu begegnen. Boa Morte kümmert sich; auch hier regiert die Tragik, denn seine Freundin lebt in einer anderen Welt.
Was mir an dem Roman besonders gut gefallen hat, ist die vielschichtige Gestaltung der Hauptfigur, ihre Selbstbeobachtungen. Neben den bereits geschilderten ist er sich darüber im Klaren, dass es keinen »Ex-Kombattanten« gibt, mit all jenen haarsträubenden Folgerungen, die sich aus dieser Erkenntnis ergeben. Trotz aller Aussichtslosigkeit beharrt er auf seinem Stolz; er fordert seine Tochter auf, »niemals, niemals, niemals Mitleid« mit ihrem Vater zu haben.
Seebeben ist ein kurzer, aber mächtiger Roman, der den Leser durchrüttelt und ihm noch einmal vor Augen führt, dass Kriege nicht enden, wenn die Waffen ruhen; für viele Teilnehmer wüten sie bis ans Lebensende und darüber hinaus, wenn die Schrecken an die nächste Generation vererbt werden.
[Rezensionsexemplar, daher Werbung]
Djaimilia Pereira de Almeida
aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita
Unionsverlag 2023
Gebunden 160 Seiten
ISBN 978-3-293-00595-2
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