Manchmal lassen sich die Dinge auf einen einfachen Nenner bringen. »Der Hitler-Putsch war keineswegs nur Hitlers Putsch.« Nach der Lektüre dieses wunderbaren Buches kann man dem nur nachdrücklich zustimmen. Wolfgang Niess legt in seinem spannenden und auch für Laien gut lesbaren Buch Der Hitlerputsch 1923 dar, was für eine umfangreiche, rechte Verschwörung die strauchelnden Republik von Weimar im vierten Jahr ihrer Existenz bedrohte.
Schule und Studium haben bei mir einen etwas anderen Eindruck hinterlassen. Kapp-Lüttwitz-Putsch und Hitler-Putsch sind für mich über lange Jahre eher Randerscheinungen gewesen, die man getrost vernachlässigen konnte. Mehr oder weniger dilettantische Versuche, die noch junge Demokratie auf rabiate Weise in eine Diktatur zu verwandeln. Auch der Mord an Persönlichkeiten wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau gehörten eher in die Rubrik folgenloses Aufbegehren Ewiggestriger.
Ein Irrtum.
Schon 1922 hatte sich eine umfangreiche Verschwörung formiert, die keineswegs aus einer kleinen Schar rückwärtsgewandter Allmachtsträumer bestand. Allein die Organisation Consul bzw. Wiking des Putschisten Herrmann Ehrhardt hätte zehntausende Kämpfer mobilisieren können, hinzu kamen die Alldeutschen, der Bund der Frontsoldaten und der Stahlhelm. In Bayern gab es einen ganzen Strauß an Wehrverbänden, national, monarchistisch, völkisch, nationalistisch und eben auch Hitlers Kampfverbände.
Den Überblick zu behalten, ist nicht einfach, allein wegen der vielfachen Umbenennung, Zusammenlegungen, Trennungen. Natürlich spielten Kriegsveteranen eine zentrale Rolle in allen diesen Verbänden, ebenso die zahllosen Freikorps, die nach dem Krieg eine halbreguläre Parallelarmee neben der Reichswehr bildeten. In den Kämpfen nach innen gegen tatsächliche und erfundene kommunistische Gegner, aber auch nach außen gegen die Rote Armee, Polen usw.
Von Hitler war im Oktober 1923 wenig zu hören. In dieser Zeit wurde das Spiel von anderen bestimmt.
Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923
Hitler hat in diesem rechten, antidemokratischen und gewalttägigen Mahlstrom keineswegs die erste Geige gespielt, auch wenn die Nationalsozialisten nach 1933 eifrig an diesem Bild arbeiteten, während die hauptsächlichen Verschwörerkreise und ihre Unterstützer in den Institutionen und der Gesellschaft nach 1923 versuchten, die eigene Verantwortung loszuwerden, indem sie diese auf Hitler abwältzten und sich wegduckten.
Es gehört zu den großen Vorzügen des Buches, die gewaltige Masse des Umsturzeisberges, von dem Hitler bestenfalls die Spitze war, aufzuzeigen. »Auf nach Berlin!« war im Herbst 1923 keineswegs nur Hitlers Motto, es gab weitreichende Pläne, Auf- und Durchmarschabsichten, um »Mussolinis Marsch auf Rom« im Reich nachzuahmen.
Die Hetze gegen die demokratisch gewählte Regierung in Berlin, die mit der explodierenden Inflation und der Ruhrbesetzung zu kämpfen hatte und über Monate an einem Abgrund entlangtänzelte, war ungeheuerlich. Ausgerechnet jemanden wie Reichskanzler Stresemann als Teil einer »sozialistischen Judenregierung von Landesverrätern« zu diffamieren, ist infamer Hohn, allein dazu gedacht, brutalste Gewaltmaßnahmen zu rechtfertigen.
»Auf nach Berlin!«
Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923
In diesen Aspekten unterschieden sich die Verschwörer kaum, eher in der Frage, wie und unter welchen Bedingungen man den »Marsch auf Berlin!« wagen sollte. Hitler war in diesem Punkt der Ungestüme, der Spieler, der auch mit mäßigen Karten bei hohem Einsatz mitgehen wollte; aber nicht in allen Punkten dilettantisch vorging. Niess stellt einen interessanten Zusammenhang her.
Am 01. Mai 1923 erlitt Hitler schon einmal Schiffbruch mit dem Versuch, sich gegen die Landespolizei und Reichswehr zu stellen. Niess meint, dass er aus dieser Niederlage gelernt und bei seinem Putsch-Versuch im November darauf gesetzt habe, mit von Kahr (Staatskommissar), Gessler (Polizei) und von Lossow (VII. Reichswehrdivision) die für Gelingen oder Scheitern eines Umsturzes entscheidenden Institutionen hinter sich zu bringen.
Hitler wusste wohl genau, dass er gegen die Exekutivkräfte des Reichs chancenlos war, also versuchte er mit einem Manöver aus Gewaltandrohung, Überredung und euphorisierender Propagandarede im Bürgerbräukeller gegenüber den Verantwortlichen die Voraussetzungen für den Erfolg eines Marsches auf Berlin zu schaffen. Der improvisierte Marsch am 09. November diente primär Propagandazwecken und mündete gleichwohl in einem blutigen Fiasko, der Hitler beinahe das Leben gekostet hätte.
Halb Bayern wollte im November 1923, dass der Marsch nach Berlin angetreten wird. Das Schicksal der Republik hing tatsächlich an einem seidenen Faden.
Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923
Es ist in gewisser Hinsicht faszinierend, wie die rivalisierenden Kräfte um den richtigen Weg miteinander rangen, zu denen auch Reichswehrchef Seeckt und sein Streben nach einer nationalen Diktatur gehörten. In dieser für das Reich dramatischen Situation, in der kurioserweise die Inflation gerade erfolgreich überwunden wurde, wird der Leser von den sich überstürzenden Ereignissen regelrecht mitgerissen.
Der Hitlerputsch 1923 – Geschichte eines Hochverrats geht auch ausführlich auf die ungeheuerlichen Ereignisse nach dem Putsch ein. Die groteske Veranstaltung des Hitlerprozesses endete nicht etwa mit der Todesstrafe oder wenigstens der Ausweisung des hochverräterischen Österreichers (!), sondern mit einer Verurteilung zu milder Festungshaft. Die alles verschleiernde »Aufarbeitung«, die helfenden Hände für den Jahre in der Versenkung verschwindenden Hitler und sein Comeback nach 1928 erlebt der Leser mit einem Schaudern.
Ein kleines Fragezeichen habe ich hinter eine Sache gesetzt: Niess meint, Hitler hätte vor dem Leipziger Staatsgerichtshof statt vor einem bayerischen Gericht abgeurteilt werden müssen, was nach Meinung des Autors zu einer angemesseneren Verhandlung geführt hätte. Angesichts der grotesken Prozesse gegen die Mörder Rathenaus, die in Leipzig verhandelt wurden, darf das bezweifelt werden.
Dieser kleine Einwand mindert den rundum positiven Eindruck des Buches keineswegs. Wolfgang Niess Buch über den Hitlerputsch 1923 ist sehr spannend, informativ und bestens geeignet, sich einhundert Jahre danach an die Republik am Abgrund zu erinnern, in dem sie knapp zehn Jahre später versank.
[Rezensionsexemplar]
Wolfgang Niess:Der Hitlerputsch 1923
C.H.Beck 2023
Gebunden 350 Seiten
mit 30 Abbildungen
ISBN: 978-3-406-79917-4
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