Schon auf der ersten Seite des Romans Ein ehrenhafter Abgang begibt sich der Leser auf eine Reise nach Indochina. Es ist Mitte 1928, der Erste Weltkrieg liegt zehn Jahre zurück, der Zweite zeichnet sich noch nicht ab und jenes Gebilde namens Indochina ist eine französische Kolonie. Éric Vuillard lässt keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Reise handelt, denn die Einheimischen gelten als bloße Befehlsempfänger.
Die Reise geht in den Norden, genauer gesagt zu einer Kautschukplantage, denn die Reisenden sind Gewerbeaufseher. Sie sollen nach dem Rechten sehen und was sie vor Augen bekommen, ist alles, aber nicht recht. Die Vietnamesen werden auf brutale, unmenschliche Weise ausgebeutet. Sofern sie versuchen, ihrem elenden Dasein zu entfliehen, bezeichnet man sie als Deserteure; fürchterliche Strafen folgen, schon das Wort »Justizbalken« lässt den Leser frösteln.
Die Gewerbeaufseher geben sich bürgerlich anständig im Sinne einer spezifischen Gewissenhaftigkeit. Auf ihre Veranlassung werden verschlossene Türen geöffnet, auch wenn der Schlüssel angeblich fehlt, doch nach Drohungen plötzlich wundersam auftaucht. Lügen und menschliches Elend werden aufgedeckt, in Gestalt geprügelter, halb verhungerter Vietnamesen. Doch die Anständigkeit der Gewerbeaufseher versickert folgenlos.
[…] und wie gehabt weiß der Plantagendirektor nichts und wie gehabt wirkt er ausnehmend betroffen […] und wie gehabt äußert der Direktor sein tiefes Bedauern und wie gehabt werden die Misshandlungen als Ausnahmen, als Fehlverhalten eines Aufsehers oder Sadismus eines Untergebenen dargestellt.
Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang
Der Grund der Reise war eine »Selbstmordepidemie«, denn die Vietnamesen erweisen sich als anders, als von den Verfechtern einer auf monotoner Effizienz beruhenden Arbeitsökonomie behauptet: Sie lassen sich nicht »dressieren« haben keine »unterlegene Mentalität« und ertragen den Stumpfsinn ihrer Arbeit nicht. Sie versuchen ihre Haut durch Flucht zu retten oder wählen den Freitod. Später werden sie für den Vîeth Mînh kämpfen. Siegen.
Éric Vuillards Ein ehrenhafter Abgang ist in einer Erzählhaltung verfasst, die am besten mit lakonischer Rage umschrieben ist, man merkt die Empörung, die den Autor – wie in seinen anderen Büchern – antreibt. Er montiert Informationen, stellt sie wirkmächtig einander gegenüber: Den enthüllten Misshandlungen folgen »weder Reform noch Verurteilung«, während die Firma Michelin in jenem Jahr dreiundneunzig Millionen Franc Gewinn meldet. Rekord.
Um die Menschen geht es dem Autor, die Opfer dessen, was der französische Autor Alexis Jenni als »Koloniale Fäulnis« bezeichnet hat: Rassismus. Unterdrückung. Misshandlung. Tod. Man wusste davon, man hätte etwas ändern können, unterließ es aber. Auch als die militärische Niederlage im Indochina-Krieg sichtbar wurde, ergingen sich die französischen Eliten in abwiegelnden und den Realitäten spottenden Absurditäten.
Der Krieg ist praktisch verloren. Das Einzige, was man sich noch erhoffen kann, ist ein ehrenhafter Abgang.
Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang
Den Anfang vom Ende bildete die vernichtende Niederlage von Cao Bang im Herbst 1950. Wie bei allen historischen Ereignissen, Personen, Handlungen usw. erklärt Vuillard fast nichts. Der Leser nimmt sein Unwissen hin oder informiert sich auf eigene Faust. Für ein deutsches Lesepublikum, das mit den personellen Details der vierten oder fünften Republik, geschweige denn mit deren biographischen Verstrickungen, sowie den vielfältigen Andeutungen in diesem Buch nicht vertraut ist, könnte die Lektüre kleinteilig und zäh werden. Die assoziierende Erzählweise in diesen Passagen erleichtert das Verständnis nicht gerade.
Doch muss man diesen Weg nicht gehen, denn die Stoßrichtung der Darstellung liegt auf der Hand. Cao Bang hat den nicht nur mit zurückgelassener Ausrüstung für eine komplette Division versorgt, die Schlacht hat auch offen zutage treten lassen, wie hoffnungslos gefährdet die französische Herrschaft in Indochina war. Vor diesem Hintergrund erscheint die ausführlich geschilderte politische Debatte in Frankreich gespenstisch.
Statt offen über die Frage zu debattieren, wie man aus der Misere wieder herauskommt und ob Waffenstillstandsverhandlungen mit dem auf der Siegesstraße marschierenden Vîeth Mînh zu einem Ausweg führen würden, wird eine politische Parlaments-Komödie aufgeführt, die jeden Gedanken an Verhandlungen auf infame Weise mit der Kapitulation von 1940 und der Kollaboration des Vichys-Regimes mit den Nazis gleichsetzt.
»Er hat Angst, dass ihm ein Sieg durch die Lappen geht. So treiben die Menschen in gigantische Katstrophen.«
Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang
Es ist ein Anliegen Vuillards, die Geschehnisse von einer speziellen Warte aus darzustellen. Oft wird er drastisch, sarkastisch oder offen boshaft, wenn er die Protagonisten charakterisiert und die Handlungsweisen der Verantwortlichen schildert. Er versucht zu entlarven. Führende Politiker und Militärs wussten, wie die Lage war, und haben dennoch nicht die nötigen Konsequenzen gezogen, um eine Schande zu vermeiden und einen »ehrenvollen Abgang« aus Indochina zu erzwingen.
Daraus wurde nichts. Dreieinhalb Jahre später, im Herbst 1953, begann das Drama um Dîen Bîen Phu, ein militärisches Desaster der französischen Streitkräfte, das im Frühjahr 1954 nach monatelangem Kampf beendet wurde und Frankreichs Niederlage besiegelte. Neben Franzosen und den vielen in der Fremdenlegion dienenden Europäern haben in dieser Kesselschlacht zahllose Einheimische und Soldaten aus den französischen Kolonialgebieten ihr Leben gelassen.
Den Toten stellt der Autor die klug agierenden französischen Wirtschaftsunternehmen entgegen, die ihre Investments in Indochina frühzeitig fallenließen, dafür ordentlich an den Belieferungen der Truppen verdienten. Überhaupt arbeitet sich der Autor an der Wirtschaft und ihren Interessen ab, er stellt die provozierende Frage, für wen die Soldaten vor Ort die blutigen Schlachten wirklich fochten: für Frankreich oder für Aktiengesellschaften.
Auf einem Berg von Leichen errangen die Vietnamesen schließlich nach einem weiteren, schier endlosen und äußerst blutigen Krieg den Sieg auch über die Amerikaner. Der Rückzug aus Saigon, 21 Jahre nach dem Fall der Festung von Dîen Bîen Phu, war alles, nur kein ehrenvoller Abgang. Das ist weder den USA noch Frankreich gelungen.
[Rezensionsexemplar, daher Werbung]
Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang
aus dem Französischen von Nicola Denis
Matthes & Seitz 2023
HC 136 Seiten
978-3-7518-0908-5
Danke für diese fundierte Besprechung. Hatte das Buch schon auf dem Zettel, jetzt werde ich mich vorab mehr informieren. Merci
Gern! Ich freue mich immer, wenn eine Buchbesprechung anderen nützt – so oder so. Vuillard macht es seinen Lesern nicht einfach; “Ein ehrenhafter Abgang” war meine vierte Begegnung, “Tagesordnung” fand ich genial, “Der Krieg der Armen” war gut, den “14. Juli” hätte ich fast abgebrochen. 😉