Als Adolf Hitler Anfang 1933 die Macht in Deutschland übertragen wurde, begann für Herrmann Stresau eine Leidenszeit. Seine Anstellung als Bibliothekar verlor er, weil er sich weigerte, mit dem neuen Regime konform zu gehen und in eine der Formationen einzutreten, Partei, SA oder wenigstens einen jener Verbände, die zu Hitlers politischen Verbündeten zählten, etwa den »Stahlhelm«.
Stresau leidet daran, denn durch den Verlust seiner Anstellung verschwindet auch der regelmäßige Verdienst; finanziell befindet er sich in Turbulenzen, zumal persönliche Umstände, die in den ersten Monaten des Jahres 1933 auch in seinem Tagebuch breiten Raum einnehmen, die wirtschaftliche Lage verschlechtern; die Wohnung ist verloren, Stresau und seine Frau müssen Berlin verlassen.
Besonders bitter ist es für ihn, dass Opportunisten und Karrieristen bedenkenlos den Kotau vollziehen, sich den neuen Machthabern andienen und erfolgreich die Karriereleiter hinauffallen. Wie in vielen Autokratien zählt die Angepasstheit mehr als die Befähigung. Grollend verfolgt Stresau von seinem neuen Wohnort, weit außerhalb Berlins, wie sich der Wandel vollzieht.
An diesem grotesken Dämon hängen Millionen.
Hermann Stresau: Von den Nazis trennt mich eine Welt
Ein Opfer der Nazis, weil er seiner Überzeugung treu geblieben ist; ein Widerständler ist Stresau deswegen nicht, daher aus der Untertitel des Buches, der einen umstrittenen Begriff aufgreift: Innere Emigration. Ganz passend zur intellektuellen ist die räumliche Distanz des Tagebuchautors, der vieles an den Machthabern verabscheut: Propaganda, Großsprecherei und Größenwahn, Anti-Intellektualität, die Masse, das Geschrei, die Verlogenheit usw.
Stresau ist kein Linker, im Gegenteil, er verachtet viele linke Autoren (Kerr, Mann, Tucholsky) und weint ihnen, als diese Deutschland verlassen, keine Träne nach. Geboren in den USA, aufgewachsen in Deutschland meldet er sich 1914 freiwillig für den Krieg, er ist ein entschiedener Gegner des Versailler Vertrages, dessen Auflösung er begrüßt – nicht jedoch die Forcierung durch die Nazis, was – aus Stresaus Sicht – unnötige Kriegsrisiken heraufbeschwört.
Ein Konservativer, dessen Weltbild in vielerlei Hinsicht mit dem jener Kräfte übereinstimmt, die Hitler an die Macht verholfen haben. Mit der Weimarer Republik, der Demokratie, Wahlen und Parlamentarismus kann Stresau auch nicht viel anfangen, seine Äußerungen sind kritisch. Hier und da blitzen antijüdische Stereotype auf, wenn er dem Aussehen eines Menschen etwa etwas jüdisches andichtet; umgekehrt operiert er auch mit dem Begriff »arisch«, als er beispielweise zwei jüdische Kinder beschreibt.
In dieser Luft keimen die Miasmen des Krieges.
Hermann Stresau: Von den Nazis trennt mich eine Welt
Man bekommt es also mit einer eher ungewöhnlichen, dadurch besonders interessanten Person zu tun. Leicht ist die Lektüre des Tagebuchs gerade in den ersten Monaten 1933 nicht, denn hier nehmen die persönlichen Umstände, Kämpfe und Niederlagen einen recht breiten Raum ein, ihnen widmet sich Stresau mit der gleichen Detailtreue, wie den politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen.
Gerade in diesem Sinne entfaltet das Buch seine große Wirkung: Stresau ist ein sehr guter Beobachter, trotz seiner Distanz zu den Ereignissen in Berlin, sieht und hört er eine Menge, etwa im Radio, analysiert es und bringt es treffend zu Papier. Die Äußerungen über das, was Deutschland unter einem Hitler-Regime blühen könnte, sind teilweise so treffend, dass man staunt. Schon sehr früh ahnt er, dass alles in einem Krieg endet.
Je weiter die Zeit voranschreitet, desto seltener werden die Einträge. In den letzten drei Jahren schreibt Stresau vor allem dann, wenn einschneidende Ereignisse auftreten: Spanischer Bürgerkrieg, Besetzung Österreichs, Sudetenkrise, Münchener Abkommen, Novemberprogrome, Hitler-Stalin-Pakt und schließlich der Kriegseintritt. Die Äußerungen sind von nüchterner, präziser Klarheit.
In Spanien ist der neue Weltkrieg im Gange, erst noch en miniature, man kann es ein Vorspiel nennen, eine Konzertprobe, um neue Instrumente auszuprobieren.
Hermann Stresau: Von den Nazis trennt mich eine Welt
Die Barbarei dringt auch zum Refugium Stresaus vor, der von »Foltereien« spricht und lakonisch bemerkt, Todesurteile seien an der Tagesordnung. Als sie einen jüdischen Arzt kennenlernen, bemerkt er dessen unerhörten Optimismus; die Realität ist Stresau mehr als bewusst. Er und seine Frau drängen den Arzt immer wieder, auszuwandern, was dieser erst – im letzten Moment – vor den November-Pogromen 1938 auch tut.
Gleichzeitig erschöpft der lange Weg von 1933 den Autor, der immer weniger bereit ist, sich dem Schreiben des Tagebuchs auszusetzen. Um zu überleben widmet er sich Artikeln, Übersetzungen und eigenen Arbeiten, etwa über Joseph Conrad. Die Lektüre ist faszinierend, weil sie die – vielfach geschilderte Zeit – aus einer sehr ungewöhnlichen Perspektive zeigt, die tatsächlich sehr gut zu dem passt, was »Innere Emigration« bedeutet, ohne die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen.
[Rezensionsexemplar]
Hermann Stresau: Von den Nazis trennt mich eine Welt
Hrsg. von Peter Graf und Ulrich Faure
Klett-Cotta 2021,
Gebunden 448 Seiten
ISBN: 978-3-608-98329-6
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