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Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Das Entsetzen über die deutsche Besatzungspolitik in Polen ergriff Hosenfeld bereits wenige Wochen nach dem militärischen Sieg. Dennoch brauchte es noch einige Zeit, ehe sich ganz vom Regime distanzierte und die heraufdämmernde Niederlage mit großer Klarheit kommen sah. Cover DVA, Bild mit Canva erstellt.

Das sind keine Menschen, nicht einmal Tiere, das sind Teufel. (28.12. 1943 über die SS, Gestapo)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Der Film Der Pianist von Roman Polanski hat den deutschen Hauptmann Wilm Hosenfeld bekannt gemacht. Der 2002 erschienene Streifen über den polnischen Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman erzählt dessen Schicksal während der deutschen Okkupation Polens zwischen 1939 und 1944. Hosenfeld hat Szpilman das Leben gerettet, eine entscheidende, aber für den gesamten Weg des Verfolgten durch die schreckliche Zeit eben auch nur eine Episode.

Polanski hat den Fokus auf die Opfer gelegt, sein herausragender Film ist für mich noch erschütternder gewesen als Schindlers Liste von Steven Spielberg von 1993. Er ist in gewisser Hinsicht schlichter, geradliniger und stiller als das amerikanische Pendant, die völlige Unerbittlichkeit des Kriegsgeschehens und Besatzungsregimes wirkt unmittelbarer. Am Ende nennt der Film noch den Namen des Retters und sagt, man wisse nicht mehr über ihn als seinen Tod im sowjetischen Kriegsgefangenschaft.

Das Buch »Ich versuche jeden zu retten« zeigt, dass dies eine unkorrekte Information ist, was aber selbstverständlich völlig legitim ist: Polanskis Anliegen war wie gesagt das der Opfer, nicht das eines untypischen Deutschen. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen geben eine Menge über den Person namens Wilm Hosenfeld preis, ein spektakulärer Einblick in das Leben, Denken und Fühlen eines Mannes, der ebenso Teil der Nationalsozialistischen Welt war wie sich davon abhob. Die Widersprüchlichkeit ist atemberaubend, das zeigen auch nachfolgende Zitate:

Goebbels ist ein großartiger Volksredner. Er überzeugt […] (10.03.1936)

Oder warum wird keine öffentliche Abstimmung im ganzen Reich durchgeführt? Allgemeine, geheime, freie Wahl. (30.04.1936)

Die Partei arbeitet mit Lüge, Verdrehung und Verleumdung, und wo das nicht genügt, mit Terror. (05.05.1936)

Wieder ergreift mich das Erlebnis der großen Gemeinschaft, in das wir marschieren. Es ist wie im Krieg. (12.09.1936)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Die zeitliche Dichte der Äußerungen, die zugleich eine große Nähe und Distanz zum Regime ausdrücken, Bewunderung und offene Kritik, verblüfft. Die Forderung Hosenfelds nach Wahlen (zu der Frage der Schulform) sticht besonders heraus. Wie viele andere patriotisch gesinnte Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges mit konservativer Haltung war auch Hosenfeld gegen den Versailler Vertrag eingestellt und stand der Weimarer Republik bestenfalls reserviert gegenüber.

Sein schneller Eintritt in die SA, die positiven Äußerungen zu Hitlers Erfolgen auf internationaler Ebene und die Erleichterung über die Auflösung der Bestimmungen des Friedensvertrages, der auch von Hosenfeld als Diktat angesehen wurde, unterstreichen die Affinität zum NS-Regime. Ausgerechnet eine demokratisches Instrument zu fordern, wenn die Herrschenden etwas durchsetzen, was dem Tagebuchschreiber nicht passt, wirkt kurios.

Und doch ist es ein Fingerzeig, dass in diktatorischen Systemen Kritik an bestimmten Umständen nicht zu verwechseln ist mit grundlegender Kritik am System selbst. Im Gegenteil: Das zeitlich letzte Zitat zeigt, wie sehr sich Hosenfeld 1936 trotz recht scharfer Kritik an einer Maßnahme des Regimes als Teil der großen Gemeinschaft fühlt.

Der letzte Satz bezieht sich auf die Stimmung im Kaiserreich 1914, als es tatsächlich zu einer recht lange andauernden inneren Ruhe kam. Die Weimarer Republik galt dagegen als zerrissen, ein Kritik-Motiv, das die Nazis geschickt mit ihrer Volksgemeinschafts-Propaganda bedienten. In Kriegszeiten kommt Hosenfeld darauf oft mit kritischen Worten zurück.

Trotzdem zeigen einige von Hosenfelds Bemerkungen, wie wenig er tatsächlich Teil der »großen Gemeinschaft« war, sondern eher isoliert. Die Gemeinschaftsabende der SA und anderer Verbände ödeten ihn fürchterlich an, das Beifallsgebrüll, die Bierseligkeit und schulter- und sprücheklopfende Kameradschaft war ihm zuwider. Es wirkt, als wäre das Zitat vom September 1936, das Erleben einer »Gemeinschaft« nicht mehr als ein frommer Wunsch.

Die Juden haben nichts zu lachen, mich empört die rohe Behandlung. (16.09.1939)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Besonders schwere Irritationen ergaben sich für Hosenfeld, je weiter sich Hitlers Herrschaft etablierte und der Antisemitismus Teil der Lebensrealität wurde. Dem stand Hosenfeld ablehnend gegenüber, was auch für die rassistische Weltanschauung des Nationalsozialismus galt. Nach Kriegsausbruch wurde er in Polen Zeuge, wie Juden und die polnische Zivilbevölkerung misshandelt wurden, was ihn empörte und zu offenem Widerspruch herausforderte.

Besonders interessant sind die Passagen, in denen Hosenfeld von den Schwierigkeiten berichtet, die große Masse an gefangenen polnischen Soldaten halbwegs menschlich zu behandeln. Obgleich ihm daran lag, diese mit Nahrungsmitteln, Unterkünften, Medikamenten usw. zu versorgen und er alle Anstrengungen unternahm, war es im Chaos der ersten Tage faktisch unmöglich, das zu bewerkstelligen.

Natürlich ist Vorsicht geboten, aber Hosenfelds Haltung zu den Polen, auf die er mit einer gewissen paternalistischen und sehr deutschen Kultur-Überheblichkeit blickte, war geprägt von Achtung, Respekt und Menschlichkeit. Er meinte beispielsweise, die polnische Nation wäre verloren, das polnische Volk werde bestehen; ihm gefiel etwa die nationalstolze polnische Hilfskraft mit ihrer unverhohlenen Ablehnung gegenüber den Deutschen.

Wie gern bin ich Soldat gewesen, aber heute möchte ich den grauen Rock in Fetzen reißen. (10.11.1939)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass innerhalb einiger Monate die Stimmung Hosenfelds ins Negative kippte. Die Zustände im besetzten Polen, die Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung, die so genannten Umsiedlungen, die mitleidlos umgesetzt wurden und für großes Leid sorgten, haben ihn erschüttert. Aber Führerglaube und die Empfänglichkeit gegenüber der Propaganda blieben trotzdem!

Schon für die letzten Friedensmonate wirkt die Naivität Hosenfelds oft erstaunlich. Er ging der Propaganda buchstäblich auf den Leim. Ein Grund lag sicher in der Ablehnung des Versailler Vertrages, der die außenpolitischen Maßnahmen Hitlers als große Erfolge erscheinen ließ. Das öffnete der völlig falschen Ansicht, Hitler stehe zum Frieden, Tür und Tor. Noch drei Tage vor Kriegsausbruch dachte Hosenfeld, Hitler werde »jede Verhandlungsmöglichkeit ergreifen«.

Hosenfeld rechtfertigte den Krieg gegen Polen in einigen Schreiben. Auch als er bereits harsche Kritik am Besatzungsregime äußerte, stand er dem Krieg an sich und seinen propagandistisch orchestrierten Motiven aufgeschlossen gegenüber.

Das Leben des Soldaten Wilm Hosenfeld ist geprägt von seiner grundsätzlichen Offenheit gegenüber den Umständen und Menschen, seinem tiefen katholischen Glauben, der unstillbaren Sehnsucht nach seinem Zuhause, seiner Frau und seinen Kindern. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Briefe, auch die Unzufriedenheit mit seiner eigenen Situation und dem Versuch, sich irgendwie einzurichten.

Hitler hat selten eine so überzeugende Rede gehalten wie die vom 9. November. Er ist doch ein fabelhafter Mensch. (15. 11. 1940)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Hosenfeld war als Offizier – selbstverständlich – am Kriegsgeschehen und den außenpolitischen Aktivitäten in Europa interessiert. Er gab Kommentare ab, mit denen er zunächst oft völlig falsch lag. Das ist insofern sehr interessant, weil ein Zivilist wie Hermann Stresau in seinen Tagebüchern Als lebe man unter Vorbehalt neben einigen Irrtümern oft verblüffend stimmige Einschätzungen zu der Entwicklung abgab. Im Verlauf des Krieges wurden die Einschätzungen Hosenfelds viel realistischer, etwa 1942, als er die Chancen der neuen Ost-Offensive bemerkenswert illusionslos sah.

Die Kriegserklärung an die USA im Dezember wertete der Autor glockenklar als Menetekel für eine Niederlage Deutschlands. Er sprach von »Untergangsstimmung« und, dass er »in einer Ecke sitzen und die Wand anstieren« könne. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung: Bei einer Einigkeit wie 1914 wäre es seiner Ansicht nach vielleicht möglich, zu bestehen; doch bestehe diese Einigkeit im NS-Deutschland nicht.

Verblüffend klar hob sich diese Meinung von der NS-Propaganda einer »Volksgemeinschaft« ab. Hosenfeld empfand diese angebliche Gemeinschaft nie , im Gegenteil machte er an vielen einzelnen Stellen klare Brüche aus. Wie das nachfolgende Zitat zeigt, übte er auf spektakuläre Weise Kritik am System, denn der Begriff »Abschaum« umfasst die Partei und ihre Gliederungen sowie sämtliche Formationen, die nicht an der Front kämpfen.

Amerika im Krieg mit der Achse. Die neue Welt hat den vorigen Krieg entschieden. Sie wird ihn auch diesesmal zu unserm Unglück entscheiden. […] Dieser Krieg ist für D[eutschland] eine gewaltige Gegenauslese: Die besten Männer bleiben auf dem Schlachtfeld, der Abschaum wird erhalten; damit wird das Gegenteil erreicht, was der Nationalsozialismus mit seiner Rassenlehre erreichen wollte. (Dezember 1941)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Nicht minder überraschend sind die zum Teil absurd naiv wirkenden Ansichten, etwa, dass die Geschichte »eben doch von einzelnen Genies gemacht« werde. Damit meinte er auch Hitler, obwohl Hosenfeld sehr genau wusste, was im Schatten dieses »Genies« an Verbrechen verübt wurde. Auschwitz war etwa im April 1942 bereits bekannt als »ein gefürchtetes Lager im Osten«, in dem die Gestapo die Menschen zu Tode quäle oder sie im Schnellverfahren in »Gaszellen« mit Gas töte.

Er wusste von den Foltermethoden, wusste von den vielen Unschuldigen, die dem ausgesetzt sind, wusste von der sinnlosen, kontraproduktiven Gewalt der Besatzungsmacht in Polen, mit der die Einheimischen immer stärker in den gewaltsamen Widerstand getrieben werden. In einem Tagebucheintrag am 17. April 1942 führte Hosenfeld eine Reihe von recht aktuellen Vorgängen in Warschau auf, die verdeutlichen, wie verheerend das alltägliche Wirken der Deutschen in Polen war.

Seine allgemein pessimistische Einschätzung gipfelte in einem hoffnungslosen Blick auf die militärische Lage, überhaupt erweist sich Hosenfeld zunehmend als realistisch, was die Kriegsaussichten anbelangt. Für den Leser erscheint es rätselhaft, warum Hosenfeld trotz derartiger Einsichten von Hitler als »Genie« spricht. Wenn dieser die Weltgeschichte bestimmte, wäre er eben für die von Hosenfeld beklagten Zustände verantwortlich und nicht nur der »Abschaum«, der sein Unwesen treibt. Auch dieser faktisch unauflösliche Widerspruch erscheint lehrreich.

Menschen sind widersprüchlich, inkonsequent und wechselhaft und möglicherweise gar nicht so hehr, wie oft dargestellt oder gewünscht. Hosenfeld war ein Schwärmer, ein Idealist, der seine in der osthessischen Provinz zusammengemaltes Bild an der harschen Realität zerschellen sah. Solche Wendungen vollziehen sich nur im Trivial-Roman bzw. -Film stringent, die historische (und gegenwärtige) Wirklichkeit ist anders, vielschichtiger, komplizierter, in sich durchaus gegenläufig.

Was hier in Warschau mit den Juden geschieht, das kannst du Dir nicht denken. Das ist, solange die Erde von Menschen bevölkert ist, sicher noch nicht dagewesen. Da verliert man jeden Glauben und jede Hoffnung. Wie tief sind wir gesunken. (1. August 1942 [Brief an die Ehefrau])

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

An manchen Stellen beklagte sich Hosenfeld über sich selbst, seine Untätigkeit, seine Ohnmacht, seine fehlende Courage. So sehr er mit sich ins Gericht ging, so wenig traf das auf die Realitäten zu. Das belegt bereits seine 1944 erfolgte Rettungstat, die Szpilman vor dem Tod bewahrte. Doch das war keineswegs die einzige Tat in dieser Weise. Wie aus dem begleitenden Text zu sehen, nutzte Hosenfeld seine Tätigkeit als Sport-Offizier, um für verschiedene Polen eine Art Schutzraum zu schaffen, die sie vor der Verfolgung bewahrte.

Es versteht sich von selbst, dass Hosenfeld davon in seinen Aufzeichnungen nichts berichtete. Das gilt erst recht für die Briefe, die der Zensur unterlagen. Zum Glück gibt es andere Quellen für dieses Wirken. Die Aufzeichnungen und Briefe zeigen eher, wer der Mensch hinter diesen Taten war. Eine unheroische Person, die den Leser mit ihren Schwankungen, Depressionen, Schwärmereien und manchmal auch hochfliegendem Pathos vor einige Zumutungen stellt.

Diese Herausforderung ist allerdings das Spektakuläre an diesem Buch. Eine historische Person tritt dem Leser in einer ganz ungewohnten Mehrdimensionalität entgegen, ohne die verzerrenden Reduzierungen und Fokussierungen. Hosenfeld war kein »Retter« per Geburt, er wurde dazu, peu á peu und aus ganz verschiedenen, durchaus widersprüchlichen Quellen gespeist.

Hosenfelds Sterben in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ist ebenso tragisch wie passend, der rettende Deutsche wird Opfer des Stalinismus, des zweiten, menschenverachtenden  Gewaltregimes des zwanzigsten Jahrhunderts. Sehr positiv an der Ausgabe sind die umfangreichen Anmerkungen, die auch Laien die Texte Hosenfelds verständlich machen, außerdem hilft der einführende Beitrag zum Leben, sich in der Fülle der Aufzeichnungen zurechtzufinden.

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern
Hrsg. von Thomas Vogel
DVA 2004
Gebunden, 1.194 Seiten
ISBN: 978-3-42105776-1

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion

Andrej Kurkows Aufzeichnungen gehen weit über ein gewöhnliches Tagebuch hinaus, sie bringen dem Leser den Krieg auf nachdrückliche Weise näher, lassen ihn die ungeheuren Verluste spüren, die Russlands Angriffskrieg zeitigt. Cover Haymon Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Gleich mehrere Sätze aus diesem Tagebuch einer Invasion haben mich lange beschäftigt. Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow bringt an einer Stelle auf den Punkt , was ein Frieden á la Putin für die Ukraine bedeuten würde. Ein Frieden, von dem in Deutschland Briefeschreiber und Petitions-Signierer sprechen, über die Köpfe der Betroffenen hinweg, die – man muss es so deutlich sagen – die Friedensbewegten kein Stück interessieren.

Statt [der Ukraine] wird es hier einen Friedhof geben mit einer Friedhofswärterhütte, in der eine Art Generalgouverneur hocken wird, den man aus Russland geschickt hat, um die Gräber zu bewachen. 08.03. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Das ungeheuerliche Bild, das Andrej Kurkow hier malt, ist erschütternd, hellsichtig und leider nicht überzogen, wie man spätestens seit Butscha wissen müsste. Russland führt gegen die Ukraine einen Vernichtungskrieg und ein Frieden mit dem Segen des Kreml gibt es nur, wenn die Auslöschung von Staat und Volk vollendet wäre. Es wäre ein Siegfrieden, dem Friedhofsruhe folgen würde. Alle anderen Annahmen sind bloße Augenwischerei.

Kurkows Satz ist entlarvend. Jene, die im friedlichen Deutschland sitzen, und ihre »Vorschläge« unterbreiten, tun dies in einer kolonialistischen, menschenfeindlichen Haltung, es geht um ihren eigenen Frieden, den hilflosen Versuch, ein Weltbild zu retten, das Schiffbruch erlitten hat, und ihre eigene Ohnmacht zu überdecken. Es ist durchaus menschlich, das Überwältigende wegzudrücken, aber nicht auf Kosten anderer, die ihren Kopf dafür hinhalten müssen. Das wird durch Kurkows Tagebuch deutlich.

Zu den unangenehmsten Passagen des Buches gehören jene, in denen Kurkow von westlichen, vor allem deutschen Journalisten und ihre dummen Fragen spricht, Fragen, die selbst jene leeren, formelhaften Interviews von Fußballern nach Ligaspielen unterbieten. Ob man bereit wäre, für die Ukraine zu sterben – die wohl dümmste von allen, denn sie stellt sich jenen nicht, für die es keine Wahl gibt. Fragen, als hätte es Mariupol nicht gegeben.

Umso seltsamer ist es, dass man in einer solchen Situation Fragen wie diese von ausländischen, häufig deutschen Journalisten hört: »Sprechen Sie bereits mit Ihren russischen Schriftstellerkollegen darüber, wie Sie einander nach dem Krieg begegnen werden?« 23. März 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Das ist von atemberaubend ideologischer Verbohrtheit und nicht untypisch für deutsche Medien aller Couleur. An diesem Tag, dem 23. März 2022, hat Kurkow notiert, dass sich alles langsam nach einem »versuchten Völkermord« anfühle. Europa, so seine Diagnose, habe noch nicht das Ausmaß des Schreckens erfasst; viele wollen das nicht, bis heute nicht und stürzen sich in groteske Verschwörungserzählungen.

Der Schriftsteller Kurkow ist von diesem Krieg aus der Bahn geworfen worden, von einem Tag auf den nächsten ist sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, seine Existenz in mehrfacher Hinsicht bedroht und die Zukunft ungewiss. Vor allem aber ging es ihm so, wie es mit Sicherheit vielen anderen in der Ukraine ebenfalls erging: Er habe es »einfach nicht wahrhaben« wollen, dass tatsächlich ein Krieg ausgebrochen war.

Es sind die Tage der Fassungslosigkeit, der Versuch, die neuen Realitäten zu sortieren, jene Bedingungen, unter denen lebenswichtige Entscheidungen  getroffen werden müssen, vor allem jene: Kyjiw verlassen oder nicht. Heute ist die Stadt nicht mehr von russischen Truppen bedroht, wird aber unverändert mit Raketen und Drohnen beschossen. Damals aber dräute eine Einkesselung der ukrainischen Hauptstadt, was das Leben von Millionen in Gefahr gebracht hätte.

Die neue Realität in der Ukraine übertrifft meine schriftstellerische Vorstellungskraft bei Weitem. 23.02. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Wie Millionen andere Ukrainer geht auch der Schriftsteller mit seiner Frau wenige Tage nach dem Angriffsbeginn in den Westen des Landes und kommt dort so lange unter, bis er nach Kyjiw zurückkehren kann. Im Exil angekommen, versucht er, wieder zu schreiben – eigentlich stünde die Arbeit an einem Roman an, doch ging das nicht. Bei einer Lesung hat Kurkow das auch damit in Zusammenhang gebracht, dass er auf Russisch schreibt, der Gebrauch der Sprache des Angreifers im  Vernichtungskrieg aber für einige Zeit unmöglich war.

Stattdessen informiert er sich, folgt dem Geschehen in den Sozialen und herkömmlichen Medien und beginnt selbst, Artikel und Beiträge zu verfassen, Interviews zu geben, zu erklären, erläutern und berichten, insbesondere dem Westen deutlich zu machen, was in der Ukraine tatsächlich geschieht. Sein Tagebuch einer Invasion geht weit über das hinaus, was ein gewöhnliches Tagebuch leistet – es enthält lange, ausgearbeitete Streifzüge und Betrachtungen durch historische Zusammenhänge und Ereignisse, die Gegenwärtiges im richtigen Licht erscheinen lassen.

Da wären zum Beispiel die Deportationen von Ukrainern, die in den von Russland besetzten Gebieten seit Kriegsbeginn wieder im großen Stil durchgeführt werden. Vom Staatsgebiet der Ukraine wurden in der Stalinzeit nicht nur die Krimtataren deportiert, sondern auch viele ukrainische Bauern. Kurkow schildert, dass Stalin zum einen unliebsame Elemente aus der Ukraine entfernen ließ, andererseits das menschenleere und wenig attraktive Sibirien mit dringend benötigten Arbeitskräften versorgte.

In dieser neuen Epoche erleben wir nun, wie sich die Geschichte wiederholt. 05.03. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Je länger man das Tagebuch liest, desto eindrücklicher wird das Bild vom Krieg, von seinen Widersprüchen, Überraschungen, der unglaublichen Kraft einer Zivilgesellschaft, die sich organisiert und den Widerstand gegen die Invasoren von der Graswurzel aus führt – was im Westen von den selbst ernannten Friedensbewegten überhaupt nicht wahrgenommen wird.

Besonders beeindruckend ist Kurkows Schreib- und Erzählweise, mit der es ihm gelingt, den Leser die verheerenden Seiten des Krieges nachempfinden zu lassen. Ein schönes Beispiel ist das Kapitel »Brot mit Blut«. Brot ist etwas Alltägliches, was jeder kennt. Zunächst schildert Kurkow das Verhältnis seiner Familie zum Brot, auf dem Dorf habe er mehr davon gegessen als in der Stadt, denn »Dorfbrot war schon immer leckerer als das in der Stadt«.

Die Kinder lieben das Brot, insbesondere das der Lieblingsbrotmarke Makariw, ein »weiches Kastenweißbrot«, das in der Makariw-Bäckerei im Ort gleichen Namens gebacken wurde. In Kyjiw gebe es diese Kostbarkeit nur vereinzelt in kleinen Läden, nicht im Supermarkt. Die Erinnerung an den Geschmack ist jedoch von dem nach Blut unterlegt, als habe ihm jemand die Lippe blutig geschlagen. Denn:

Am Montag wurde die Makariw-Bäckerei von Russlands Truppen bombardiert. Die Bäcker waren bei der Arbeit. Ich kann mir den Duft vorstellen, der sie in dem Moment umgab, als der Angriff stattfand. Von einem Augenblick zum nächsten wurden dreizehn Bäckereimitarbeiter getötet und neun weitere verletzt. Die Bäckerei gibt es nun nicht mehr. Makariw-Brot gehört der Vergangenheit an. 08.03. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Eine Bäckerei, ein Lieblingsbrot kennt jeder. Wer könnte diesen Verlust nicht nachempfinden, wer nicht das brillante und nahegehende Bild des nach Backstube duftenden Ortes, der von einer Rakete in einen Ort des Todes verwandelt wurde? Solche Passagen bringen den Kriegschrecken dem Leser näher, sie verbinden ihn mit dem Denken und Fühlen, reißen ihn aus der Grauzone des Abstrakten.

Kurkow macht auf diese Weise deutlich, was Sätze, wie etwa jene über die Kriegsziele Putins in der Ukraine in der Lebenswirklichkeit der Menschen bedeuten – nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, wenige Flugstunden von Deutschland entfernt. Es ist ein abstraktes Ziel, die UdSSR oder das Zarenreich wieder errichten zu wollen, dessen versuchte Verwirklichung durch Krieg sehr blutige, schmerzhafte und irreversible Folgen in der Realität der Menschen zeitigt.

Zu den Kuriositäten, ja grotesken Dingen des Krieges gehört, dass zerstört wird, was angeblich geschützt werden soll. Die vorgeschobene Begründung Putins, die Russen und ihre Sprache schützen zu wollen, ist eine Lüge. Das Gegenteil ist der Fall, wie Kurkow am eigenen Leib erfahren muss, denn er ist ethnischer Russe mit Russisch als Muttersprache, die ebenfalls unter Feuer gerät.

Putin zerstört nicht nur die Ukraine, er zerstört Russland und damit auch die russische Sprache. 13.03. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Wer es im Westen einfach mag, und das gilt durch alle Bevölkerungs- und Bildungsschichten, ordnet gern zu: Russischsprachig ist gleichzusetzen mit »nach Russland orientiert«. Der Osten der Ukraine wäre demnach eher russlandfreundlich, der Westen eher Europa zugeneigt. Das entpuppt sich bei näherem Hinsehen als naseweiser Nonsens, der Sprachgebrauch ist viel flexibler gewesen, als es diese Zweiteilung nahelegt, vor allem hat die Sprache nichts mit der politischen Orientierung gemein.

Von den Anfängen des Krieges folgt das Tagebuch einer Invasion dem Lauf der Ereignisse bis in den Sommer hinein und hinterlässt ein sehr eindrückliches Bild von dem, was Kurkow wahrnimmt und einordnet. Deutschland kommt dabei nicht gut weg, es hat vielmehr einen verheerenden Eindruck hinterlassen, der angesichts der zögerlichen, aber dann doch umfangreichen Hilfe auch in militärischer Hinsicht nicht ganz fair ist. Die Kommunikation, das wird auch in diesem Fall deutlich, ist ein einziges Desaster gewesen.

Viele hoch interessante Themen berührt der Autor in seinen Beiträgen, darunter auch wenig rühmliche, die aber zu jedem Krieg gehören. Kollaboration etwa oder auch Verbrecher, die aus der Kriegssituation Kapital schlagen wollen. In manchen Dingen irrt Kurkow, etwa in der Annahme, Russland würde den Informationskrieg in Europa verlieren – das wäre schön, entspricht aber nicht den Realitäten. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, in denen jene ausführlich zu Wort kommen, die von Putins Vernichtungskrieg betroffen sind und um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen müssen.

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
Haymon-Verlag 2022
Klappenbroschur 352 Seiten
ISBN 978-3-7099-8179-5

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Wie erlebt jemand im Land des Aggressor den russländischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine? Antworten gibt es in diesem Tagebuch. Cover Suhrkamp Verlag, Bild mit Canva erstellt.

In Russland ist der Zweite Weltkrieg bis in die Gegenwart sehr präsent. Die russländische Version des Zweiten Weltkrieges, sollte man sagen, in der dieser erst im Juni 1941 beginnt, in der es keinen sowjetischen Angriffskrieg gegen Finnland, keine Annexion des Baltikums und Bessarabiens und erst recht keine Eroberung Ostpolens gibt, Hand in Hand mit den Nationalsozialisten.

Diese geschichtlichen Erzählungen dienen nur der Propaganda; aber natürlich gibt es auch die Erinnerungen Einzelner, mündlich, in Berichten, Tagebüchern, Briefen oder Romanen, die von den Kriegserlebnissen erzählen. Der erste Kriegstag nimmt dabei eine besondere Rolle ein, wenn die Welt aus den Angeln gehoben wird und alles umstürzt.

Das sollte man beachten, wenn man jenen Satz liest:

Ich hatte nie gedacht, dass es auch in meinem Leben einmal einen ersten Kriegstag geben würde.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Natalja Kljutscharjowa schreibt diesen Satz in ihrem Tagebuch vom Ende der Welt, angesichts der nicht abreißenden Kette an größeren und kleineren Kriegen rund um den Erdball, den nicht enden wollenden Bürgerkriegen und Kämpfen zwischen Kriegsherren und Machtgruppen in zerfallenden Staaten, wirkt er zunächst einmal etwas seltsam.

Doch auf Russland bezogen, auf das durch die spezifisch russländischen Erinnerungen (ich weigere mich, das Kultur zu nennen) an den Zweiten Weltkrieg gefütterte Selbstbild und die darin beschworene Rolle als Opfer, heroischen Zentrum des Widerstands und letztlich auch des einzigen echten Siegers entfaltet dieser Satz seine ganze Wirkung: Russlands erster Kriegstag als verbrecherischer Aggressor.

Irgendwann später im Tagebuch findet sich eine Stelle, in der die Autorin das explizit so schreibt; man kann darüber ein wenig die Nase rümpfen, an Tschetschenien, Georgien, Syrien denken oder an die hybride Kriegführung gegen den Westen, doch unterscheidet sich der russländische Angriffskrieg gegen die Ukraine allein durch Umfang und Ziel, vor allem aber Offenheit von allen anderen. Es ist ein – verlogener, propagandistisch vernebelter Krieg, aber eben auch ein unübersehbarer.

Es ist also ein erster Kriegstag mit allen niederschmetternden Folgen, die nicht nur jene betreffen, die seinen direkten Auswirkungen ausgesetzt sind (wie zum Beispiel in der ukrainischen Frontstadt Charkiw bei Zhadan, Skalietska, Gerassimow), sondern auch fern von der Front, von allem Geschützdonner, dem Brüllen und Toben der Kampfhandlungen.

Ich dachte immer, jemand, der aus eigener Erfahrung weiß, was Krieg bedeutet, würde ihn nie unterstützen. Wie sich nun herausstellt, weiß ich sehr vieles nicht über die Menschen.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Die Reaktionen vieler Mitmenschen auf den Kriegsausbruch sind für Natalja Kljutscharjowa oft schwer erträglich, die eigene Ohnmacht ist noch schlimmer. Fragen umschwirren sie wie garstige Moskitos. Was hätte man tun können? Was kann man tun? Die Anti-Kriegsdemos sind auf eine niederschmetternde Weise geschildert, nach innen hatte das Putin-Regime seinen Angriffskrieg bestens vorbereitet.

Die Erschütterung angesichts des Unheils, die der Krieg heraufbeschwört, ist ein Motiv, das in vielen älteren Kriegstagebüchern auftritt; die Worte, die Hermann Stresau im September 1939 findet, klingen so vertraut; auch die Zerrissenheit, sich weder Sieg noch Niederlage wünschen zu können, das fürchterliche Unheil aber vorauszuahnen, ist spürbar.

Was das Tagebuch vom Ende der Welt besonders macht, ist die Offenheit, mit der Natalja Kljutscharjowa von ihrer Scham spricht, die sie empfindet, Teil Russlands zu sein. Das Bedürfnis nach Flucht aus dem Land, dem viele nachgeben (müssen) und das schlechte Gewissen, wenn der Druck etwas nachlässt. Sie wird zum Nachrichten-Junkie, als könnte ein dauerhafter Strom an Informationen etwas ändern, eine Ersatzhandlung, um die Hilflosigkeit zu überdecken.

Die Scham macht ein Häkchen: gut, alles okay, sie weint. Weinen ist erlaubt.

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt

Wie sehr der Krieg das Leben zumindest Einzelner aus den Angeln hebt, sie tief verstört, wird deutlich als die Autorin schreibt, sie habe die Bedeutung der berühmten Worte, dass die Lebenden die Toten beneiden würden, begriffen. Babi Jar ist von einer russländischen Rakete getroffen worden. Jene Verstorbenen, die gegen die Nationalsozialisten gekämpft und geglaubt haben, sie stünden auf der Seite des Guten, ist es besser, das nicht erlebt zu haben.

Eine besondere Angst der Autorin gilt jenen, die aus dem Krieg zurückkehren und das, was sie gelernt haben, in der Heimat fortsetzen. Das geschieht bereits, Wagner-Söldner, ehemalige Verbrecher aus Gefängnissen, die ihren Dienst in der Ukraine überlebt haben, führen ihr Tun in Russland weiter.

Die Morde bei Butscha lassen sie fürchten, »der nie vertriebene Dämon von 1937« würde zurückkehren, eine finstere, apokalyptische Vision. Wie begegnet man derlei? Mit einem Zitat aus Dune von Frank Herbert: »Ich darf keine Angst haben. Angst tötet das Bewusstsein. Angst ist der kleine Tod.«

[Rezensionsexemplar]

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Suhrkamp 2023
Broschur, 167 Seiten
ISBN: 978-3-518-12781-0

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist

Ein besonderes Tagebuch aus der Ukraine, in dem eine Zwölfjährige über ihre ersten Tage in Charkiw während des russländischen Angriffskrieges berichte. Cover Kaur, Bild mit Canva erstellt.

Am Dritten Tag des Krieges hat die zwölfjährige Yeva bereits gelernt, die Entfernung von Explosionen anhand des Knall-Lautes abzuschätzen. Da ist sie schon nicht mehr in ihrer Wohnung in Charkiw, sondern mit ihrer Oma bei einer Freundin untergekommen. Zum Glück, denn schon einige Tage später trifft ein russländisches Geschoss die alte Unterkunft, reißt ein Loch in die Hauswand, den Balkon ab und zerstört die Küche.

Dank Smartphone gibt es davon auch ein Foto – es ist in ihrem Tagebuch Ihr wisst nicht, was Krieg ist, abgebildet. Für Yeva ist der Verlust mehr als nur ein materieller, es fühlt sich an, als wäre ein Teil ihrer Kindheit und damit von ihr selbst zerstört worden. Noch später, als sie bereits auf der Flucht nach Westen sind, hört sie, dass vom Wohnblock noch mehr zerstört wurde.

Wenn die Medien davon berichten, dass die Frontstadt Charkiw immer mehr zur Geisterstadt werde, stecken solche Geschichten dahinter; viele davon erahnt der Leser von Yeva Skalietskas Tagebuch aus den Kurznachrichten, die sie mit ihren Mitschülern austauscht. Die Ängste, die Unsicherheit und Verzweiflung, aber auch die Erleichterung, herausgekommen und in Sicherheit zu sein, sind spürbar.

Panikattacken lernt Yeva auch kennen, in Charkiw unter dem Eindruck des russländischen Beschusses, aber auch ganz im Westen der Ukraine, als sie in Uschorod an der ukrainisch-ungarischen Grenze angekommen sind. Statt Freude überfallen sie Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ein Leben ist innerhalb weniger Tage völlig aus den Angeln gehoben worden. Die Intensität der Aufzeichnungen ist bedrückend, das Geschwafel selbst ernannter Pazifisten dagegen dosenhohl.

Yeva gelangt über Ungarn nach Irland, davon berichtet ein Teil ihres Tagebuches. Das ist übrigens sehr gelungen aufgemacht, drei schön gestaltete Karten informieren den Leser über den Fluchtweg Yevas, die Ukraine und Charkiw. Gerade auch junge Menschen können hier einen Einblick bekommen, wie es ist, wenn ein verbrecherischer Angriffskrieg den Frieden vertreibt. Das Vorwort von Marina Weisband ist sehr informativ – es spricht nichts dagegen, das Buch auch in der Schule zu lesen.

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist
Übersetzt von Dr. Alexandra Berlina
Knaur 2022
Hardcover 192 Seiten
ISBN: 978-3-426-28622-7

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Die Hellsichtigkeit des Tagebuchschreibers Stresau ist frappierend, besonders, weil er seine Rückschlüsse auf der Basis von propagandatriefenden Presseberichten gezogen hat. Seine Äußerungen stellen einen Kontrapunkt zu dem dar, was an propagandistischem Getöse bis heute das Bild der Zeit prägt – etwa zur berühmt-berüchtigten Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels im Februar 1943. Cover Klett-Cotta, Bild mit Canva erstellt.

Ist es mutig oder töricht, Adolf Hitler in einem Tagebuch als »Oberidioten« zu bezeichnen? Hermann Stresau hat das getan, am 31.01.1944, dem Jahrestag der so genannten »Machtergreifung«. Als ich diese Passage las, war ich froh, dass niemand die Aufzeichnungen vorzeitig in die Finger bekommen hat, das hätte fatale Folgen für Stresau gehabt. Uns Nachgeborenen wäre ein kleiner Schatz entgangen, denn nicht anderes sich die Tagebücher Als lebe man nur unter Vorbehalt.

Der Autor Hermann Stresau eignet sich nicht als Heldenfigur des Widerstands, wie etwa Sophie Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Er ist konservativ, wenn die Rede auf die Rolle der Frau (»Weiber«) kommt, muss der moderne Leser tapfer sein; seine Haltung zur Weimarer Republik ist bestenfalls kühl, mit der Parteiendemokratie kann er so wenig anfangen wie mit linken Schriftstellern und dem Vertrag von Versailles.

Und doch hat er 1933 den Kotau gegenüber dem Regime verweigert, erhebliche wirtschaftliche Einbußen inkauf genommen, um sich eine innere Distanz zu wahren gegenüber dem Nazi-Regime. Das ist die Voraussetzung für seinen scharfen, analytischen und oft hellsichtigen Blick auf die Dinge, die schon seine Tagebücher 1933 – 1939 Von den Nazis trennt mich eine Welt auszeichnen. Den Kriegsausbruch 1939 hat er wenigstens befürchtet und doch ist er wie ein Hammerschlag auf ihn niedergegangen.

Morgens müssen wir uns eine Zentnerlast vom Herzen schieben, um aufstehen zu können. Wir erheben uns sonst immer frisch und munter um 6 Uhr, selten später, aber jetzt ist’s das Gegenteil: ein furchtbares Gefühl nach dem Erwachen, ein unbeschreibliches Grauen, ein Alpdruck, man möchte die Welt verfluchen. 05.09.1939

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Das bleibt der Grundtenor während der kommenden fünfeinhalb Jahre, bis das so genannte »Dritte Reich« im Mai 1945 in Schutt und Asche gesunken war und Millionen elendig verreckt, vertrieben oder versehrt waren. Selbst während der Phase, in der die Wehrmacht Sieg an Sieg reihte und auch Stresau mit einer militärischen Eroberung Englands oder der Niederwerfung der UdSSR rechnete, hat er sich von der Siegespropaganda nie anstecken lassen.

Das gehört zu den – ja – Ungeheuerlichkeiten der Tagebucheinträgen. Stresau hat von Anfang an gewusst, dass die USA (»Amerika«) den Ausschlag geben würde und ihm war klar, dass die Entscheidung nicht auf dem Schlachtfeld, sondern danach fallen würde. Frieden gibt es durch Verhandlungen – wohlgemerkt nach der militärischen Entscheidung – und er hat der Reichsführung um Adolf Hitler schlicht und ergreifend die Fähigkeit dazu abgesprochen.

Stresau hat sich von den militärischen Erfolgen beeindrucken, aber nicht blenden lassen; seine Erwartungen an die Wehrmacht waren zu hoch, aber selbst die höchsten Regierungsstellen in England (und den USA) haben es den deutschen Truppen zugetraut, die UdSSR niederzuwerfen und auch deshalb massive Unterstützung geliefert, ohne die die Rote Armee in noch größere Schwierigkeiten geraten wäre. Stresau befand sich also in guter Gesellschaft.

Es ist absolut faszinierend zu lesen, dass jemand derart unabhängig und zutreffende Einschätzungen treffen kann, wenn ihm nur das Propaganda-Geklingel der gleichgeschalteten Presse zur Verfügung steht. Der Schlüssel liegt im Nachdenken über das Geschriebene und Verschwiegene. Wenn berichtet wurde, dass sechzig feindliche Flieger abgeschossen wurden, hat Stresau daraus geschlossen, dass die Zahl der angreifenden Flugzeuge entsprechend hoch sein musste und auf dieser Basis auf die immense, ja übermächtige Leistungsfähigkeit der gegnerischen Wirtschaft rückgeschlossen. Hieß es im Wehrmachtsbericht »planmäßig«, übersetzte er das mit Verlangsamung, Stockung oder Stillstand der Vormarsches.

Lesen allein macht nicht klug, Nachdenken macht klug. Das zeigt sich auch an einer anderen Bemerkung, anlässlich der Feststellung Stresaus, die Zeitungsberichte und Haltung der Zeitgenossen wären unangemessen oberflächlich und unbekümmert. Der Tagebuchschreiber zeigt sich bestürzt darüber, wie Zivilisten begeistert über versenkte Schiffe nach Bombentreffern reden.

Aber wenn man sich da so in Norwegen vorstellt: ein Truppentransporter auf hoher See von schwersten Bombenkalibern getroffen, in Brand geraten, und man denkt an die Scenen, die sich dabei abspielen, und sieht dazu die vergnügten Gesichter auf der Straße – dann merkt man, in welcher Unwirklichkeit der Durchschnittsmensch lebt […], ohne zu spüren, daß dies alles des Teufels ist und vielleicht in einem allgemeinen Grauen enden wird. 30.04.1940

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Der alltäglichen Propaganda begegnet Stresau mit beißendem Spott, insbesondere den wissenschaftlich haarsträubenden, von den Nationalsozialisten zusammenphantasierten Germanenkult nimmt er genüsslich aufs Korn. Er würde gern wissen, warum alle kurze Haare trügen, denn als »alte Germanen müßten wir freien deutschen Männer nicht nur den Hut abnehmen, sondern auch die entsprechenden Locken ums arische Antlitz flattern lassen.«

Doch gibt es noch eine andere Ebene, die Stresaus Tagebücher wertvoll machen. Am 18. Februar 1943 hielt Joseph Goebbels im Sportpalast zu Berlin jene berühmte Rede, in der er die Frage in den Saal rief: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Der Saal echote stürmische Begeisterung, man kann es sich auf Youtube heute noch ansehen – die Propaganda (!), die bis heute unser Bild prägt.

Stresau charakterisiert ähnliche Reden als »fiebrig« und konstatiert nüchtern: »Im Volk doch starke Beunruhigung zu bemerken.« Dieser kühle Kontrapunkt ist gar nicht zu überschätzen. Éric Vuillard hat in seiner mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Schrift Die Tagesordnung nachdrücklich darauf verwiesen, wie sehr die Gegenwart von Propaganda-Bildern aus der NS-Zeit geprägt ist – ein giftiger Nachhall der Vergangenheit. Stresaus klärende Worte bilden eine Art Gegengift dazu.

Ich wünsche nicht, daß wir den Krieg verlieren. Ich wünsche eher, daß wir ihn gewinnen, uns jedenfalls behaupten, und uns unsere verrückt gewordenen Führerbande entledigen. 29.5.43

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Natürlich ist Stresau auch Kind seiner Zeit. Dem Rassenwahn der »Nasolisten« steht er ablehnend gegenüber, die »Rasse« ist für ihn aber eine gewöhnliche Denkkategorie. Man stehe mit Artverwandten (England und Amerika) im Krieg, während die Verbündeten (Italiener, Japaner) einem so fremd wären. Wenn sich Stresau über Juden abfällig äußert, dann nicht wegen der »Rasse«, sondern weil ihm an einer Einzelperson etwas Konkretes missfällt, etwa Stefan Zweigs Essay über Hölderlin.

Der nächste große Schock ist der Überfall auf die Sowjetunion, in mehrfacher Hinsicht. Der »Alpdruck« der sich anbahnenden Niederlage, weil Deutschland »alles über den Kopf wachsen« werde, weicht bis Kriegsende nicht, allen zwischenzeitlichen Erfolgen zum Trotz. Wie betäubt sei man, angesichts des ins Endlose sich dehnenden, den ganzen Erdball umspannenden Krieges, der nicht – wie von Hitler behauptet – 1941 enden werde, sondern »nach 10 Jahren vielleicht.«

Von den Kriegsverbrechen, dem Genozid, dem sich anbahnenden Holocaust und dem drakonischen Gebahren in den besetzen Gebieten weiß Stresau recht früh. Interessant sind seine Quellen. Ein Arzt berichtet ihm von einem Offizier, der wegen »Kopfschmerzen« behandelt werden will. Es stellt sich heraus: Dieser Offizier hat mehr als 800 Zivilisten, Frauen und Kinder erschossen – das halte er nicht mehr aus. Stresau weiß obendrein um den Hunger der ausgeplünderten Gebiete (auch im Westen), um die »renitente« Bevölkerung und die »Widerspenstigkeit der Besiegten« überall.

Die ›Freiheit‹, die wir bringen, wäre ihnen alles andere als erwünscht.« 6.7.41

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Spektakulär sind die Schlussfolgerungen, die Stresau daraus zieht, die wichtigste: Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Anders als jene Zeitgenossen, die sich von den militärischen Erfolgen in dieser Zeit haben blenden lassen, wusste der Tagebuchschreiber ganz genau, dass selbst bei einem umfassenden Sieg der Wehrmacht der Krieg noch lange nicht siegreich beendet werden könnte – ein Frieden erschien ihm völlig unmöglich.

Doch selbst die militärischen Aussichten beurteilt er nüchtern. Angesichts der größten Kesselschlacht an der Ostfront mit gewaltigen Verlusten für den Gegner macht er eine einfache Rechnung auf: Die Rote Armee habe vier Millionen Mann verloren, blieben noch sechszehn Millionen, die Industrie wäre hinter dem Ural, und die Versenkung alliierter Handelsschiffe im Nordmeer bedeute eine auf massive materielle Unterstützung für die UdSSR. Mit einem Wort: militärisch sei noch lange nichts gewonnen.

Es ist angesichts der Traumtänzerei in den hohen Stäben von Militär und Verwaltung, der braunen Partei und ihren Organisationen, der Presse und Wirtschaft geradezu bestürzend, wie ein Einzelner auf der Basis kümmerlicher, propagandatriefender Informationen durch kluges Nachdenken realitätsnahe Schlussfolgerungen zieht. Vor allem ist ihm klar, dass ein »Sieg« keineswegs glanzvoll ausfallen würde, im Gegenteil.

Grete und ich waren heute zwei Juden begegnet, mit ›Sternchen‹, und hatten uns schämen müssen. Darauf die Frage: wozu das alles, Kriege, Staaten usw., dieser ganze furchtbare Unsinn, wenn das zu nichts führt als solchen Lumpereien. 19.10.41

Was diesem Krieg zur Zeit eine besondere Note gibt, sind die systematischen Judendeportationen mit dem ausgesprochenen Zweck der Vernichtung der Unglücklichen. 18.11.41

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt

Nach der Niederlage bei Stalingrad verändert sich alles. Die Stimmung in der Bevölkerung sinkt drastisch, die Versorgungslage wird schlechter, die Vernichtung der deutschen Städte durch den Bombenkrieg schreitet immer schneller voran, während die gesamte Bevölkerung begleitet von fanatischen Worten in den Dienst des längst verlorenen Krieges gepresst wird.

Stresau muss zwangsweise in einer Fabrik arbeiten. Seine Beobachtungen und Betrachtungen sind erhellend, denn auch hier klaffen Propaganda und Wirklichkeit weit auseinander. Die Produktion leidet unter vielerlei Dingen, Chaos, Materialmangel, unqualifizierten Arbeitern, dem Auftreten des Sicherheitspersonals, das die ausländischen Arbeiter drangsaliert, und den ständigen Alarmen, die jede Nachtruhe über Monate und Jahre unmöglich machen.

Man müsse gar keine Sabotage üben, konzediert der Tagebuchautor, das erledige sich ganz von allein. Doch ist Stresau keineswegs zum Spott zumute, er ist innerlich zerrissen zwischen dem Wunsch, das Desaster möge sich noch abwenden lassen und der Einsicht, dass Deutschland und Europa immer weiter in den Abgrund rutschen. Für eine Zukunft nach dem Kriegsende sieht er schwarz, rechnet mit Jahrzehnten bitterer Lebensverhältnisse.

Ein besonderer Wert der Tagebücher liegt darin, dass sie zeigen, wie sehr sich der Krieg in den Alltag hineindrängt, während sich die Menschen bemühen, ihn zu verdrängen. Die Fluchten sind vielfältig, Literatur, Musik, Gespräche, abendliche Runden mit kulturellen Gesprächen, Affären, Alkohol bieten immer wieder eine Möglichkeit, dem alltäglichen Grauen zu entfliehen, ohne ihm zu entkommen.

Manche Schilderung aus den letzten Kriegsmonaten ist haarsträubend, etwa von Göttingen aus den Rauchturm der im März 1945 zerstörten Stadt Hildesheim zu beobachten: eine »riesige Rauchwolke, wie von einem Vulkan«. Nach der Befreiung Tage später folgen peu á peu die Nachrichten von den NS-Gräueltaten, noch nicht von der Massenvernichtung im Osten, sondern aus dem KZ Sachsenhausen. Diese sind so schauerlich, dass selbst ein kluger, aufmerksamer Beobachter wie Hermann Stresau notiert: »Kaum glaublich, aber es muß wahr sein.«

[Rezensionsexemplar]

Die Tagebücher 1933 – 1939 habe ich auch besprochen:
Von den Nazis trennt mich eine Welt

Herrmann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt
Klett-Cotta 2021
Gebunden 594 Seiten
ISBN 978-3-608-98472-9

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