Prag – das weckt Assoziationen. Einige davon finden sich in den stimmungsvollen Illustrationen diesen schönen Büchleins wieder, von anderen Begebenheiten wird der Leser überrascht. Cover Luchterhand Literaturverlag, Bild mit Canva erstellt.

Ich irrlichtere ein wenig, um nicht zu viel zu verraten aus dem Weihnachten in Prag, von dem Jaroslav Rudiš in diesem schönen Büchlein erzählt. Man sagt ja so oft, dieses oder jenes Buch gehöre unter den Weihnachtsbaum, hier aber passt es nun wirklich. Das kleine Bändchen, sehr stimmungsvoll illustriert von Jaromir 99, kann man nach der Bescherung schmökern, in einem Zug, vielfach unterbrochen durch die Wirklichkeit oder lange Gedankenflüge, ganz wie es beliebt.

Schon der Anfangssatz eröffnet, worum es sich bei dieser Erzählung dreht: Verlorengehen. In Prag wäre der Ich-Erzähler zum ersten Mal in seinem Leben verloren gegangen. Nicht irgendwo in der Stadt an der Moldau, sondern am Hauptbahnhof, wo die Geschichte ihren Anfang und – soviel darf doch verraten werden – ihr Ende findet.

Der Autor hat eine familienbedingte Affinität zur Schiene, sein Roman Winterbergs letzte Reise quert und kreuzt in Zügen das von Geschichte überquellende Zentraleuropa, Rudiš hat eine literarische Handreichung zum Zugfahren verfasst und sich so verbunden mit dieser Form des Reisens geäußert, dass man vermuten möchte, er wäre noch nie mit der Deutschen Bahn gefahren. Ist er aber, die Zumutungen des Zugfahrens empfindet er als Teil des Reisens.

Das ist direkt in die Erzählung eingeflossen, denn der Ich-Erzähler, Jára, verlässt gleich zu Beginn den Hauptbahnhof, von dem es später heißt, es wäre die schönste Kirche Prags. Wieder geht er verloren. Seine Freunde, mit denen er verabredet ist, kann er nicht erreichen – in Zeiten der Immer-und-ewigen-Erreichbarkeit eine Ausnahme, die jedoch das Tor aufstößt zu einem ausgedehnten Gang durch die weihnachtlich-winterliche Stadt.

Wer verloren geht, trifft auf andere Verlorene. Kavka, der Briefe sortiert, einen „König von Prag“, ausgestattet mit allen Schlüsseln der Stadt, und eine Italienerin, deren verstorbener Mann eine sensationelle Leidenschaft für Prag besaß. Es sind diese leichten Verschrobenheiten, die dem verirrten, verlorenen Erzählen eine besondere Note verleihen.

Jára sucht allein und mit seinen zufälligen Bekanntschaften Kneipen auf, was sonst in der Stadt des Bieres, gute Kneipen, in denen das Getränk vor dem Gast steht, bevor der überhaupt ordern muss. Die Perspektive ist für eine Schmonzette ungeeignet; sie ist aber sehr stimmungsvoll und in gewisser Hinsicht auch heimelig, allein wegen der schönen Illustrationen, aber eben aus einer Kartoffelsalat-Karpfen-Bier-Sicht verfasst.

Jaroslaw Rudiš wäre nicht er selbst, wenn er den Leser so einfach entlassen würde aus seiner Weihnachtsgeschichte, ohne noch eine Volte zu schlagen. Über die kann man dann nachdenken, Heiligabend, zufrieden und satt auf dem Sofa, in aller Ruhe mit Blick auf den Baum, vielleicht ein Glas Pils in der Hand, nicht allzu tief, nicht allzu schwermütig oder gar traurig, sondern eben weihnachtlich.

[Rezensionsexemplar]

Jaroslaw Rudiš: Weihnachten in Prag
Mit Illustrationen von Jaromir 99
Luchterhand Literaturverlag 2023
Gebunden, 98 Seiten
ISBN: 978-3-630-87754-9