Les Enfants du désastre Teil 2
Dem Folgeband des Buches, für das der französische Autor Pierre Lemaitre mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, ist auf den ersten Blick weniger bitter als der Auftakt der Trilogie. In vielen Dingen bleibt sich der Autor bei Die Farben des Feuers treu, zum Glück, denn der Roman ist wie der Auftaktband ein wahres Lesevergnügen.
Der Erste Weltkrieg liegt einige Jahre zurück und wirkt nicht mehr so unmittelbar auf die handelnden Personen, über deren Köpfen sich jedoch bereits die düsteren Wolken von Wirtschaftskrise und Faschismus bzw. Nationalsozialismus zusammenziehen. Sie bilden den Rahmen für offene und lange Zeit verdeckte persönliche, famliäre Katastrophen.
Wurden die Trauerfeierlichkeiten von Marcel Péricourt auch durcheinandergebracht und endeten sie sogar auf eindeutig chaotische Weise, so begannen sie doch pünktlich.
Pierre Lemaitre: Die Farben Des Feuers
Ein Vorzug des Zeitsprungs liegt darin, dass die üblichen Probleme von Mittelbänden in Dreiteilern vermieden werden, während der Leser durch einige bekannte, aber reifere Gesichter die Vorzüge einer Fortsetzung genießen kann. Diesmal tragen Frauen die Hauptlast der Handlung, die Männer kommen insgesamt nicht allzu gut weg.
Die Erzählung setzt an einem neuralgischen Punkt ein, an dem sich die Leben der Protagonisten dramatisch verändern. Der Tod des mächtigen Bankiers Marcel Péricourt setzt eine rasante Entwicklung in Gang. Schon bei seinem Begräbnis gerät das Leben der Hauptpersonen aus den Fugen, im Nachgang sorgt eine Verschwörung dafür, dass ein völlig abgesichert erscheinendes Leben plötzlich abstürzt.
Hierin spiegelt sich viel des Zeitgefühls der damaligen (und gegenwärtigen) Zeit, eine immense Beschleunigung, eine tiefgreifende Verunsicherung und die immerwährende Neigung des Menschen, dem anderen mit Hauen und Stechen zu begegnen.
Die Menschheit war ganz entschieden keine sonderlich schöne Angelegenheit.
Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers
Eine Schlüsselstelle findet sich im Buch, wenn Madeleine, die Tochter des Verstorbenen begreift, dass die Zeit, in der sie lebt, geprägt ist von Gewalt. Sie zieht daraus ihre Schlüsse und setzt diese mit einer überraschenden Konsequenz um.
Nicht alles, was Lemaitre schreibt, ist ohne Stirnrunzeln hinzunehmen. Wenn es um Aktientransaktionen im Zusammenhang mit dem »Rumänischen Erdöl« geht, kann man getrost abwinken – das wirkt einigermaßen unrealistisch.
Natürlich kann man an der Börse ein Vermögen verlieren, wenn man sich verspekuliert, und Gerüchte haben eine immense Macht, wenn sie den Herdentrieb von Anlegern befeuern. Doch Lemaitre schummelt sich hier ein wenig hindurch.
Dem Desaster schließt sich ein Rachefeldzug an, der gnadenlos bis zu seinem bitteren Ende geführt wird. Hierbei spielen die östlichen Nachbarn Frankreichs auch eine Rolle, die Vertreter Hitlerdeutschlands zeichnen sich nicht eben durch besondere geistige Größe aus, um es einmal vorsichtig zu formulieren.
Niemand wusste so recht, was »Düsenflugzeug« bedeuten sollte. Man merkte sich nur eines: Bislang waren Flugzeuge mithilfe von Propellern geflogen, und ein Düsenflugzeug hatte nicht nur keine Propeller, es würde auch viel schneller fliegen.
Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers
Bei diesem Unterfangen spielt die Idee, ein Düsenflugzeug zu bauen, eine besondere Rolle, daher auch das Motiv des Bildes zu Beginn dieses Beitrages, das den wohl ersten Fiegers ohne Propeller-Antrieb zeigt. Lemaitre hat sich sehr frei an der geschichtlichen Realität bedient und seinen Roman mit einer Art historischem Start-Up bereichert und zugleich die Ahnungslosigkeit sowie die Unbesorgtheit gegenüber Versprechungen aufs Korn genommen.
Lemaitre ist ein großartiger Erzähler. Seine Figuren werden vor den Augen des Lesers lebendig, weil er sie nicht bloß beschreibt, sondern auf zum Teil urkomische Weise durch Details ihrer grotesken Erscheinung charakterisiert. Die Sprache ist wunderbar, dankbar für Leser, die auf hastige, stolpernde und oft hilflose Modernismen verzichten können.
Die beiden anderen Teile der Trilogie heißen Wir sehen uns dort oben und Spiegel unseres Schmerzes.
Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Klett-Cotta 2021,
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-608-96338-0
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