Ein großer Roman über die Zeit, als man im Westen noch von Minsk und eingefrorenem Konflikt schwadronierte. Für die Menschen vor Ort war es Krieg. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Der harmlos klingende Buchtitel täuscht. Mit dem Öffnen des Romans Internat von Serhij Zhadan verlässt der Leser seine friedliche Existenz in Mitteleuropa und tritt ein in eine acht lange Jahre weitgehend ignorierte Wirklichkeit im Osten der Ukraine. Auch wenn Orte und Namen, Personen und Uniformen im Ungefähren bleiben, weiß man bald, dass die Erzählung unweit der unruhigen Front zwischen den russischen Truppen mit ihren Verbündeten und den Ukrainern stattfindet.

Muss man erläutern, was seit 2014 im Osten der Ukraine vor sich geht? Ich hoffe, nicht.

Gleich zu Beginn des Romans macht der Leser Bekanntschaft mit Zhadans krautigem Humor sowie seiner Fähigkeit, sehr treffende Bilder zu malen. Manchmal geht das ein bisschen zu weit, die Erzählung trippelt in den ersten Passagen recht dicht entlang der Grenze sprachlicher Selbstverliebtheit. Angesichts der großen Stärken des Romans, ist das aber zu verschmerzen, zumal es auf den Anfang beschränkt bleibt. Im Verlauf entfaltet sich zunehmend ein bestaunenswertes sprachmächtiges Kunstwerk.

Aus der Ferne ähnelt das Krankenhaus einem Ozeanriesen, der ganz langsam, ohne Eile auf den Grund sinkt.

Serhij Zhadan: Internat

Mit der Hauptfigur, Pascha, begibt sich der Leser auf eine Tour durch den Wahnsinn des Frontgebietes in einem Krieg, der keiner sein soll. Es mutet etwas nach Dreißigjährigem Krieg an, denn Freund und Feind sind oft nicht recht zu unterscheiden, während die Hauptfigur versucht, sich zum titelgebenden Internat in der namenlosen Stadt durchzuschlagen. Die Begegnungen auf diesem Weg sind hanebüchen, grotesk, lebensgefährlich und kafkaesk.

Mal wird Pascha von einem wildfremden Mann, der sich als Journalist ausgibt, mitgenommen und gerät an einen Ort, an dem ihm finstere Milizionäre filzen und die Papiere kontrollieren – sie haben, wie alle Waffenträger in dem Gebiet, das Recht des Stärkeren und das tiefsitzende Misstrauen des Frontschweins auf ihrer Seite. Mal eilt der Protagonist mit einer Gruppe, geführt von einem Schlepper, durch die Frontlinie, gerät unter Feuer und irrt inmitten schwarzer Nacht durch die namenlose Stadt, wo sein Ziel liegt.

Pascha will seinen Neffen aus dem Internat holen, ein Vorhaben, das angesichts der Umstände mehr als heikel ist. Immer wieder macht er sich Vorwürfe, nicht schon früher auf die Idee gekommen und aufgebrochen zu sein, denn die Fronten sind in Bewegung geraten. Die eine Seite zieht sich zurück, die anderen rücken nach. Dabei kommt es zu gruseligen Gewaltakten, die nicht explizit beschrieben werden – wozu auch? Wenn Zhadan von dem spricht, was übrig bleibt, reicht es dem Leser vollauf.

Er musste erst hierher geraten, ins Zentrum der Hölle, um zu spüren, wie viel er besaß und wie viel er verloren hat.

Serhij Zhadan: Internat

Zhadan lässt den Leser an der Geschichte seiner Hauptfigur teilhaben. Pascha ist Lehrer, in weiten Rückblenden erfährt man einiges über seinen Weg bis zu diesem Tag, über seine Versuche, sich aus dem Krieg und den politischen Wirren herauszuhalten. Er unterrichtet „die Sprache“, ohne dass bis zum Ende klarwerden würde, ob es sich um Ukrainisch oder Russisch handelt. Die generelle Unschärfe, der sich der Autor bedient, verstärkt das Gefühl der Unwirklichkeit, ein großartiger Kniff des Zhadans, den dieser bis zum Ende konsequent exekutiert.

Apropos Exekution. Ich habe nicht mitgezählt, wie oft die Hauptfigur, sein Neffe oder irgendwelche Bewaffneten bzw. Zivilisten davon gesprochen haben, dass man ihn, Pascha, erschießen könne / müsse / solle. Angesichts der Umstände, der Toten, Verwundeten, der aggressiven Waffenträger, ist das keine leere Drohung, sondern eine ganz reale Möglichkeit, wie der Lebensweg der Hauptfigur jäh enden könnte. Wie ein schwärzlicher Nebel umwallt die stete Gefahr eines gewaltsamen Todes aus dem Nichts heraus die gesamte Handlung.

Noch einmal sei darauf verwiesen, dass der Inhalt des Romans auf die Zeit vor Putins Vernichtungskries in der Ukraine zurückgeht. Hier ist die Rede von dem, was im Westen Europas vielstimmig als stabiler Waffenstillstand bezeichnet wurde und von eifrigen salonlinken Briefeschreibern als wünschenswerter Zustand nach Friedensgesprächen bezeichnet wird. Frieden würden wohl nur ihre realitätsfernen Ideologenseelen gewinnen.

Er würde sich gerne hinsetzen und ausruhen, niemanden sehen, niemanden hören, alle diese Laute und Gerüche vergessen, den Bahnhof, den Bus, die kaputte Straße, die Mondlandschaften hinter dem Fenster, die unseligen Wanderer, die durch die Januarfelder stapfen, den schwarzen, zerschossenen Wald, die dunklen Häuser, die verängstigten Stimmen, die Fenster, hinter es kein Leben gibt, die Straßenkreuzungen, hinter denen überall der Tod auf dich lauern kann. Das alles hat sich in ihm festgesetzt wie Blei.

Serhij Zhadan: Internat

Die Personen in Zhadans Roman werden dagegen durch sehr reale, apokalyptische Verhältnisse getrieben, die an einen Endzeitfilm gemahnen. Unsicherheit, Hunger, Kälte und Furcht, vor allem aber Ohnmacht sind ihre ständigen Begleiter; sie rumpeln und grollen wie der ferne Artilleriedonner, klirren wie die Ketten der Panzer und knallen, knattern, bellen wie das Kleinwaffenfeuer, das durch die Straßen der Städte hallt.

Ein sehr eindrücklicher Roman des ukrainischen Schriftstellers, der dankenswerterweise mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Man wünscht dem Roman Internat viele Leser, keineswegs nur wegen des Krieges, aber auch. Große Leseempfehlung.

Serhij Zhadan: Internat
aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr und Juri Durkot
Suhrkamp 2018
Gebunden 300 Seiten
ISNB: 978-3-518-42805-4