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Schlagwort: Armenier

Boston Teran: Gärten der Trauer

Der herausragende historische Thriller erzählt von einer geheimen Mission eines Special Agents im Osmanischen Reich, mitten im Ersten Weltkrieg. Spannend, dramatisch, atmosphärisch wie ein Abenteuerroman mit Szenen, die aus einem Western stammen könnten, widmet sich der Roman einem fürchterlichen Thema: dem Genozid an den Armeniern. Cover Elsinor, Bild mit Canva erstellt.

›Freiheit verlangt nach Widerstand.‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Wenn Heroen der fiktiven Geheimdienst-Welt wie James Bond oder Ethan Hunt zu ihren Missionen aufbrechen, wirken die dräuenden Gefahren nicht selten ein wenig konstruiert. So recht will man der Story nicht abnehmen, dass die ganze Welt bedroht ist und nur durch den Helden gerettet werden kann. Gleiches gilt für die Beweggründe der Gegenspieler, die mitunter etwas Banales und Vorgeschobenes haben. Schwülstige Pychospielchen übertünchen notdürftig den Mangel und am Ende, da ist alles gut.

Wenn Special Agent John Lourdes im Jahr 1915 aus den USA nach Europa aufbricht, ist gar nichts gut. Zu diesem Zeitpunkt tobte in der historischen Wirklichkeit ein Krieg, er war noch auf Europa beschränkt, weitete sich durch den Eintritt Italiens und des Osmanischen Reiches schon aus. Ein Brand auf Messers Schneide, der schließlich globale Ausmaße annehmen sollte und so lange loderte, dass die Verluste allzu gewaltig waren, um noch einen tragfähigen Frieden zu schließen.

Boston Teran hat den historischen Agenten-Thriller Gärten der Trauer in das Kriegsgeschehen eingeflochten. Konstruieren musste er weder Drama noch Drohung, dafür sorgten schon die Umstände. John Lourdes ist im Auftrag des State Departments unterwegs, sein Ziel ist das Osmanische Reich. Was er dort soll, bleibt zunächst einmal im Dunkeln. Schon bei seiner Ankunft wird er mit etwas konfrontiert, das die gesamte Handlung des Romans bestimmt: die Auslöschung der armenischen Bevölkerung durch die Türken.

Die Behandlung der armenischen Bevölkerung ist barbarisch und unmenschlich. John Lourdes wird Zeuge von ungeheurlichen Grausamkeiten, die im Roman schonungslos geschildert werden. Der Autor verzichtet auf jede Form von Weichzeichnung, aber auch darauf, die Armenier zu bloßen Opfern zu degradieren. Sie leisten Widerstand, wehren sich, wo immer sie können.

Franz Werfel hat in seinem großen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh dem heldenhaften Versuch einer Gruppe Armenier, dem Tod zu entgehen, ein literarisches Denkmal gesetzt. Gärten der Trauer leistet das auch, auf eine andere Weise, dem Thriller-Genre entsprechend ist der Roman rasant und hochspannend erzählt. Zugleich weist er weit über den Genozid an den Armeniern hinaus, indem er diese Untaten an den Anfang einer neuen, Menschen und Völker verschlingenden Barbarei stellt.

Obwohl er die Bedeutung dessen, was er am Kai mitangesehen hatte, nicht vollständig erfassen und bewerten konnte, ahnte John Lourdes, dass die brutale Unmenschlichkeit dieser Geschehnisse von einer ganz neuen Schändlichkeit zeugte, wie sie die Welt bislang nicht kannte.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Im ersten Moment wirkt es etwas befremdlich, wenn nicht etwa ein türkischer, sondern ein deutscher Offizier in die Handlung eintritt und sich als Gegenspieler von John Lourdes entpuppt. Doch ist die Anwesenheit von Rittmeister Bodo Franke keineswegs weit hergeholt, denn deutsche Truppen kämpften tatsächlich im Osmanischen Reich. Franke kommandiert eine halb irreguläre Truppe aus freigelassenen Verbrechern, die an die SS-Sondereinheit Dirlewanger erinnert.

Vor allem aber lässt die Wortwahl des Deutschen keinen Zweifel daran, dass alles in dunkle Zukunft des nahenden Verhängnisses verweist: Franke korrigiert das Wort »Ausrottung« durch »Umsiedlung«, jene verbale Verschleierung der Massentötungen im Vernichtungskrieg des Hitlerreiches. Das ist kein Zufall, an anderer Stelle ist von »Endlösung« die Rede. Der Genozid an den Armeniern ist Teil von etwas Größerem, des späteren Zivilisationsbruchs, der ausgerechnet von den hochkultivierten Deutschen begangen wurde.

›Reden können Sie ja gut‹, sagte Rittmeister Franke.
Miss Temple deutet auf eine Tisch, an dem zwei weitere deutsche Offiziere saßen, gemeinsam mit drei Angehörigen des türkischen Militärs, die der Geheimorganisation angehörten.
›Sie und diese Männer haben über die Ausrottung …‹
›… Umsiedlung der armenischen Volksgruppe innerhalb des osmanischen Staatsgebiets.‹
›Warum sind die Deutschen eigentlich hier? Zum Beaufsichtigen …?‹
›Um die Souveränität der osmanischen Regierung gegen internationale Agitatoren und ausländische Agressoren zu verteidigen.[…]‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran hat seinem Roman den Charakter eines Agenten-Thrillers gegeben, Dynamik und Spannung wachsen, je weiter sich Special Agent John Lourdes in das Land hineinbegibt und in das Geschehen verwickelt wird. Angesichts des Krieges handelt es sich bei seinem Auftrag um eine verdeckte Geheimoperation. Diese dient erklärtermaßen nicht dem Ziel, die Armenier oder andere Völker zu befreien oder vor dem massenhaften Tod zu bewahren. Es geht um die Kontrolle über die reichhaltigen Ölvorkommen im Zweistromland (Basra) und am Kaspischen Meer (Baku).

Lourdes Auftrag und die geostrategischen Interessen der Auftraggeber kollidieren mit moralischen Erwägungen. Der Special-Agent steht vor der Wahl, seine Entscheidung geht auf seine eigene Herkunft zurück, wird aber auch durch die schockierenden Erlebnisse und Bekanntschaften mit Armeniern und ihren westlichen Unterstützern motiviert. Da wäre jene Aktivistin Alev Temple, die sich in exponierter Weise für die Verfolgten und Gejagten engagiert, vor allem dafür sorgt, dass die Vernichtung eines ganzen Volkes nicht im Nebel des Krieges verborgen bleibt.

Mit diesen Aspekten verweist der Roman auf eine Entwicklung, die bis in die Gegenwart reicht und vermutlich auch die Zukunft bestimmen wird. Moral und Interesse werden weiterhin kollidieren, die Versuche, Schandtaten zu verbergen, gibt es immer noch, auch wenn sie eine andere Gestalt angenommen haben. Aktivisten und Journalisten mit Mut und Courage können dagegen angehen oder sich zum Sprachrohr von Propaganda und Desinformation machen.

Doch weist Gärten der Trauer auch in die Vergangenheit. An einigen Stellen schimmert eine gewisse Zeitlosigkeit durch, außerdem werden die tiefen Wurzeln der Gegenwart sichtbar, wie das schöne Zitat zeigt. An einer anderen Stelle ist von »Straßen und Gassen dieser zeitlosen Welt« die Rede, ein Aquädukt bezeugt die schöpferische Hochkultur der Römer und als Lourdes den Tigris erreicht, ist ihm bewusst, an der Wiege der menschlichen Zivilisation zu stehen.

Seit den Tagen der Seleukiden und Parther kreuzten sich hier die Wege der Gewalt.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran ist das Kunststück geglückt, sein Thema in das Gewand eines hochspannenden, dramatischen, wendungsreichen Thrillers zu kleiden. Manchmal erinnern Szenen an Western, wenn etwa eine Befreiungsaktion unternommen wird. Die Atmosphäre gemahnt an einen Abenteuerroman mit Niveau. Wie es sich für einen Thriller gehört, mündet die Handlung in einen furiosen Showdown, der in diesem Fall sehr passend apokalyptische Züge trägt. Chapeau!

Abgerundet wird der großartige Roman von einem sehr informativen Nachwort von Martin Compart, der auch die Klassiker-Reihe des Elsinor-Verlages mit seinen einordnenden Worten bereichert. Lange Passagen mit Äußerungen des Autors sind sehr aufschlussreich über die Motivation zur Auseinandersetzung mit diesem ungewöhnliche Thema im Rahmen eines Thrillers. Auch über Boston Teran selbst erfährt der Leser eine Menge, denn wer das eigentlich ist, liegt noch im Nebel des Pseudonyms verborgen.

[Rezensionsexemplar]

Boston Teran: Gärten der Trauer
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Herausgegeben von Martin Compart
Elsinor Verlag 2024
Klappenbroschur 244 Seiten
ISBN 978-3-942788-78-6

Franz Werfel: Die Vierzig Tage des Musa Dagh

Ein besondere Welterfolg ist der epische Roman von Franz Werfel gewesen, mit dem er dem Genozid an den Armeniern ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Cover Fischer, Bild mit Canva erstellt.

Glück? Ja, tatsächlich steht dieser atemberaubende Satz in dem Roman des österreichischen Schriftstellers Franz Werfel, der 1933 erschien. Es ist ein geradezu mustergültiges Beispiel für die politische und gesellschaftliche Wirkkraft, die Literatur entfalten kann und auch für den Gegenwind, der ihrem Autor dann ins Gesicht weht. Werfel kam der gewaltige Erfolg zu Hilfe, den die Übersetzung von Die vierzig Tage des Musa Dagh ins Englische errang, denn auch er teilte das Exil-Schicksal so vieler deutschsprachiger Schriftsteller.

Sein Roman ist eine große, schwere und sehr lange Erzählung über eine heroische Begebenheit während des Ersten Weltkrieges. Der Verbündete des Deutschen Reiches, das Osmanische Reich, beging an der Volksgruppe der Armenier einen Genozid. Hunderttausende wurden 1915 bis 1917 auf Todesmärschen und in Todeslagern via Hunger, Krankheit oder Mord getötet. Die Schätzungen reichen laut Wikipedia von 300.000 bis 1,5 Millionen Opfer. Bis in die Gegenwart sorgt der Völkermord für hitzige Reaktionen aus der Türkei, wenn er offen als solcher bezeichnet wird.

Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass die Ereignisse um den Musa Dagh fast vollständig vergessen sind. Der Roman von Franz Werfel schildert äußerst geschickt nicht nur den tapferen Überlebenskampf einer recht kleinen Gruppe von Armeniern auf diesem Berg namens Musa Dagh, sondern flicht auch die Gräuel der Deportationen geschickt in den Erzählfluss ein. Der Leser bekommt ein anschauliches Bild von den grausamen Maßnahmen der türkischen Machthaber.

Dabei zeichnet Werfel ein sehr vielschichtiges und differenziertes Bild der Ereignisse. Bewundernswert ist die präzise und lebendige Schilderung der Entscheidungen und Verhaltensweisen der Beteiligten, ihrer Motive, die sie zum Handeln bewegen. So gerät der Widerstand auf dem Berg kurioserweise nicht durch die Türken in größte Bedrängnis, sondern wegen innerer Aufwühlungen.

Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen im Rahmen seiner sozialen Verflechtung und Persönlichkeit werden großartig aufgezeigt. Gut und Böse, die gruseligen Kategorien ideologisch bewegter Menschen, sucht man hier vergebens. Das gilt auch für die Hauptfigur des Romans, die Werfel während des Schaffensprozesses überraschend spät in die Erzählung einfügte: eine völlig fiktive Person namens Gabriel Bagradian, der wesentlichen Anteil am Musa Dagh hat.

Mich hat besonders bewegt, wie Werfel den Prozess schildert, in dem die Armenier aus ihrem Alltag herausgerissen und in einen Strudel aus Entmenschlichung und erbarmungsloser Gewalt gesogen werden. Trotz jahrzehntelanger Bedrückung haben sich viele sicher gefühlt und wie andere nach ihnen, nicht glauben können, dass man sie in Massen töten wollte. Die Menschen gehen mit einer zerbrechenden Welt auf sehr unterschiedlicher Art um und Werfel hat in seinem Roman nicht nur den Widerständlern Raum gegeben.

Wie es sich für einen großartigen Roman gehört, hat Werfel ein wunderbares Ende verfasst. Der viert- und drittletzte Satz des Werkes lauten: »Gabriel Bagradian hatte Glück. Die zweite Türkenkugel durchschmetterte ihm die Schläfe.«

Wer wissen will, warum das so ist, muss den Roman lesen.

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Fischer Verlag 2011
TB 1040 Seiten
ISBN: 978-3-596-90362-7

© 2024 Alexander Preuße

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