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Schlagwort: Coming of Age (Seite 1 von 2)

David Hewson: Garten der Engel

Venedig ist der Ort dramatischer Ereignisse im Herbst 1943, als die Deutschen die Macht im Norden Italiens an sich gerissen haben. Cover Folio Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit ich zwölf Jahre alt bin, beschäftigt mich der Krieg. Dabei steht »der Krieg« vor allem für den Zweiten Weltkrieg. Es ist ein – etwas seltsames – Vermächtnis, das mich bis an mein Lebensende beschäftigen wird, aber so etwas kann man sich nicht aussuchen. Garten der Engel von David Hewson dreht sich neben allem anderen auch um ein ungewolltes Vermächtnis, auf ganz verschiedenen Ebenen: persönlich, familiär, aber auch ein wenig historiographisch.

David Hewson ist das Kunststück geglückt, dieses Vermächtnis in eine sehr spannende, ja dramatische Geschichte einzuweben; kein zufällig gewähltes Verb, spielt doch das Weben eine wichtige Rolle in der Handlung. Der Ort ist ebenfalls klug gewählt. Venedig, vom Festland abgeschnitten, eine kleine, in sich geschlossene Welt für sich; zumindest können sich das ihre Bewohner einreden.

Es ist 1943, Italien hat nach drei Jahren – äußerst glücklosen Krieges – mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und das Bündnis mit Deutschland verlassen. Praktisch ist das Land zweigeteilt, denn die amerikanischen und englischen Truppen kommen nur sehr langsam voran, der gesamte Norden ist in deutscher Hand.

Mussolinis Faschisten haben dort unter Nazifuchtel weiterhin das Sagen, es tobt ein blutiger Partisanenkampf im Land. Für jene, die laut Nazi-Ideologie als Juden gelten, brechen schwere Zeiten an, denn jetzt geraten auch sie ins Visier der deutschen Vernichtungskrieger, die Verfolgungen werden wie im übrigen Europa verschärft, Züge voller italienischer Juden rollen Richtung Konzentrationslager.

Wenn die Welt sich verdunkelt, bleibst du dann in deinem Versteck und wartest ab, bis es wieder hell wird? Oder versuchst du selbst, eine kleine Flamme zu entzünden?

David Hewson: Garten der Engel

Das alles schwappt nach Venedig, wo sich die Deutschen eingerichtet haben und auf Mussolinis treue Schwarze Brigaden und Kollaborateure stützen. Man schlägt sich durch, auch der just von alliierten Bomben zum Waisen gemachte Paolo Uccello müht sich, das ins Straucheln geratene Familienunternehmen, eine Seidenweberei, am Leben zu erhalten.

Eine ganze Reihe von Personen gerät durch das Auftauchen zweier jüdischer Partisanenflüchtlinge in eine Lage, Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen zu müssen. Hewson ist es gelungen, die meisten dieser Personen vielschichtig zu gestalten, sie mit ihren Widersprüchen und Schwächen, hanebüchenen Ideen und Ansichten aufeinander loszulassen. Eine Ausnahme bilden die eher schablonenhaften deutschen Besatzern; daran ist nichts auszusetzen, um die geht es in diesem Roman nämlich nicht in erster Linie.

Im Mittelpunkt steht zum Beispiel der Kollaborateur Luca Alberti, ein ehemaliger Polizist, der sprachkundig für die Deutschen in Venedig Ermittlungsarbeiten durchführt. Er versucht sich in der hohen Kunst des Lavierens, redet sich ein, nur das zu tun, was irgendjemand tun müsse und durch sein Handeln das eine oder andere Leben retten zu können. Alberti ist andererseits völlig illusionslos über sein Schicksal, sollte der Krieg für die Achsenmächte verlorengehen. Eine ganz wunderbar widersprüchliche Person.

Ich erledige eine Aufgabe, die irgendjemand erledigen muss.

David Hewson: Garten der Engel

Das gilt auch für viele andere Figuren, die in Garten der Engel ins Geschehen eingreifen und durch ihre Torheiten und klugen Entscheidungen einen Prozess in Gang setzen, der sich immer mehr beschleunigt und auf eine geradezu klassische Tat zuzusteuern scheint – doch Hewson hält für den Leser einige handfeste Überraschungen und Wendungen bereit; man kann das Buch irgendwann nur schwer aus den Händen legen.

Angesichts der zahlreichen, ansprechenden Personen fallen ausgerechnet die beiden Partisanen ab. Insbesondere die handlungsaktive Mika Artom hat bei mir für Stirnrunzeln gesorgt – ganz bewusst formuliere ich etwas gewunden, denn aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Krieg weiß ich, dass in dieser Zeit viele Menschen Dinge getan haben, die im Grunde undenkbar waren.

So verhält es sich vielleicht auch mit Mika, die wie ein menschlicher Katalysator für einen wesentlichen Teil der Handlungsdynamik verantwortlich ist. Wie sie geschildert wird, wäre sie – mit Vorbehalt – längst tot, umgebracht von den Deutschen, italienischen Faschisten oder aber den eigenen Leuten, für die sie aufgrund ihrer Querschlägerei eine immense Gefahr darstellt. Kurz hatte ich sogar die Befürchtung, Mika würde mir das Buch insgesamt verleiden – zum Glück unbegründet.

Hewson hat nämlich en passant mit dem Partisanenmythos ein wenig aufgeräumt. Partisanenkrieg wird oft immer noch verherrlicht, dabei handelt es sich um eine brutale, ja oft menschenverachtende asymmetrische Kriegführung, die ganz bewusst die Zivilbevölkerung in die Feuerlinie bringt. Für jeden getöteten Deutschen wird eine Handvoll Zivilisten erschossen – als abschreckende Terrormaßnahme. Auch einige handelnde Figuren fragen sich, ob das Agieren der Partisanen militärisch gerechtfertigt und moralisch gedeckt ist.

Es wird alles zu einer Geschichte. Einem Märchen. Gut und schlecht. Schwarz und Weiß. Nichts dazwischen. Dabei ist es das Dazwischen, auf das es ankommt.

David Hewson: Garten der Engel

Garten der Engel erzählt die Geschichte im Rahmen eines klassischen Sterbebett-Bekenntnisses. Fünf Teile umfasst das, was der verlöschende nonno Paolo seinem Enkel Nico mitgibt, fünf Manuskripte, die jene Ereignisse aus dem Jahr 1943 erzählen. Es ist – wie sich herausstellt – ein echtes Vermächtnis, über das Leser wie Enkel bis zum Ende nicht recht im Bilde sind. Die langsam sich anbahnende Auflösung vieler Fragen gehört wiederum zu den großen Stärken dieses ganz wunderbaren Romans.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

David Hewson: Garten der Engel 
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Folio Verlag 2023
Hardcover 394 Seiten
ISBN: 978-3-85256-876-8

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Autor Andreas Fischer ist ein ganz besonderes Buch gelungen, kein Roman im eigentlichen Sinne, aber ein großer Wurf aus meiner Sicht. Cover eschen4verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vier Wochen brauchte es nur, um von »Heil unserem herrlichen Führer« zu »Es ist grauenhaft.« zu gelangen. Zwei Zitate aus Feldpostbriefen, jene Schreiben, die von den Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges an ihre Lieben daheim geschrieben wurden. Günther heißt der Urheber, der Anfang Dezember 1941 voller begeisterter Erwartung endlich Richtung Ostfront in Marsch gesetzt wird, um dort von der Kriegsrealität blitzartig ernüchtert zu werden. Zwei Tage später ist er schon tot.

Diese beiden Schreiben finden sich in der Mitte des grandiosen Buches Die Königin von Troisdorf, sie bilden das Gravitationszentrum des gesamten Themas, das Andreas Fischer aufarbeitet. Er hat sein Werk als Roman bezeichnet, tatsächlich finden sich auch fiktionale, erzählende Passagen inmitten der vielfältigen Erinnerungsimpressionen und Dokumenten wie Briefen und Postkarten; Fotos spielen im Text eine besondere Rolle, abgebildet sind keine – das geniale Cover-Motiv bleibt solitär.

Fischer lässt seine Passagen munter durch die Zeit springen, er wählt einen nüchternen, sachlichen Rahmen, indem er jeden Abschnitt mit Jahreszahl beginnt, oft gefolgt von einer Ortsangabe und einem oder mehreren kleinen Sätzen. Bei den Dokumenten geht der Autor noch einen Schritt weiter, beschreibt Papier, Form, Poststempel, Briefmarke, Schrift und gibt weitere Erläuterungen zu dem, was folgt. Schreiben als Sezieren.

1961.
Troisdorf.
Ich bin einige Wochen alt.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Diese Form ist eine brillante Entscheidung. Sie distanziert das Geschilderte und verhindert, dass Inhalt und Thema in einem überemotionalen, gefühlstriefenden Morast versinken. Der Leser wird auch genug durchgerüttelt, denn was Andreas Fischer zu berichten hat, führt in ein finsteres Tal, das er als Kind durchschreiten musste. Die Verlierer des Verwüstungskrieges haben ihre Wut an der nächsten Generation ausgelassen; und der übernächsten – unmittelbar oder mittelbar.

Der Vater des Autors ist selbst Soldat gewesen, er hat im Gegensatz zu dem zitierten Günther und dem eigenen Bruder Herbert das große Schlachten überlebt, obwohl es ihn am Ende sogar noch in den Strudel der Ardennenoffensive gerissen hat. Die Person, die abends von der Arbeit ausgelaugt am Küchentisch sitzt, raucht und säuft, den alten Ideologien, Verschwörungserzählungen und Feindbildern treu geblieben ist, lässt sich kaum in Einklang bringen mit dem, was an anderer Stelle über ihn zu lesen ist: charmant, wissbegierig, sprachgewandt, freundlich, offen. Frauentyp.

Was hat diesen krassen Wandel bewirkt? Was diese unsäglich Ehe initiiert? Vater Reinhold verhält sich höchst befremdlich und wechselhaft gegenüber Andreas, Mutter und Großmutter, die er »Hindenburg und Ludendorff« oder »Kaltmamsellen« nennt, sind ihm gegenüber von einer gleichbleibenden Kälte. Ein ungeliebtes, verachtetes, unerwünschtes Kind, einer »von seiner Sorte« reiche, heißt es. Es wirkt keineswegs übertrieben, wenn Andreas glaubt, in ihren Augen wäre er ein »Drecksack« und seine (Un-)Taten wären «Verbrechen«.

Jeder Protest, jedes Aufbegehren verhallt.
Hindenburg und Ludendorff kennen keine Gnade.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Wie kann man in einer solchen Umgebung aufwachsen? Wie überleben? Eine weitere, große Stärke des Buches liegt darin, dass es – auch dank der Form – nicht in eine rauschhafte Abrechnung oder gar einen rasenden Amoklauf des erinnerten Schmerzes abgleitet, sondern den Lichtblicken Raum gibt. Andreas hat seine Tante Hilde, und – vom haltlosen Jähzorn abgesehen – durchaus auch seinen Onkel Bruno, der ihn zwar einmal fürchterlich verprügelt, aber im Grunde auch respektiert.

Es gibt in der Kälte durchaus wärmende Momente, auch sein Vater hat einige positive Erinnerungen hinterlassen. Das väterliche Meisterstück bestand darin, seinem fünfzehn Jahre alten Sohn den Auszug in eine Art Schutzraum zu gestatten – mit seiner Hilfe baut sich dieser den Dachstuhl in jenem Haus aus, in dem das familieneigene, gut laufende Fotoatelier untergebracht ist. Dort verbringt er seine Tage, irgendwann auch die Nächte und entzieht sich dem kontrollierenden Zugriff von Oma und Mutter.

Vater Reinhold hat Andreas’ »Testament« gefunden, eine achtseitige Abrechnung, verfasst anlässlich aufkeimender Suizid-Gedanken, und aus diesem alarmierenden Fund eine bemerkenswerte Schlussfolgerung gezogen. Sie steht in Kontrast zu jenem alltäglichen Wüten, zum Beispiel als der Sohn in der Schule mit den Abgründen des Vernichtungskrieges konfrontiert wird: Reinhold leugnet die Fakten rundherum ab, diffamiert sie als alliierte Propaganda und stellt eine rechtsextreme Verschwörungserzählung dagegen.

Andreas hat das große Glück, dass er an eine vernünftige Lehrerin gerät, die ihn zunächst den Unsinn vortragen lässt, ehe sie ihm ruhig widerspricht; eine Bibliothekarin, die ihn mit der nötigen Literatur über den Holocaust versorgt, sodass er sich selbst ein Bild machen kann; einen Geistlichen, der ihm eine Erklärung dafür liefert, warum sein Vater eine Lüge der Wahrheit vorzieht. Am Ende steht eine eigene Meinung, die im Gegensatz zu dem väterlichen Nonsens steht. So geschieht Bildung, gedeihen Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, das Pendant zum emotionalen Rettungsanker.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestand ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind gestört und im Grunde kaputt. Andreas Fischer stellt viele Fragen, ohne unbedingt eine Antwort zu geben oder auch nur zu versuchen. Was für ein Glück, denn so bleibt es dem Leser überlassen, selbst nach welchen zu suchen – oder auch nur zu lesen. Dankbarerweise verzichtet der Autor auch auf die Niederungen jeder Gut/Böse-Verschlichtung, die Widersprüche sind klar und bleiben unaufgelöst.

Dieses Buch ist auch ein ganz wunderbares Beispiel dafür, wie ein Inhalt seine passende Form gefunden hat. Man kann fast dankbar sein, dass der Autor keinen Verlag gefunden hat, der ihn möglicherweise genötigt hätte, seine Lese-Kost zu einem gefälligen, leicht verschlingbaren Literaturbrei zu pürieren; der Inhalt verlangt geradezu nach einer sperrigen Form. So ist Die Königin von Troisdorf ein großer, geradezu royaler Wurf.

Wer eine Zweitmeinung zu dem Roman einholen möchte, den verweise ich gern auf die sehr gelungene, ausführliche und etwas anders fokussierte Buchbesprechung auf dem generell empfehlenswerten Blog: Horatio-Bücher.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf
eschen 4 verlag 2022
Hardcover 473 Seiten
ISBN: 978-3-00070-369-0

Colson Whitehead: Die Nickel Boys

Ein sehr guter Roman, dessen Inhalt manchmal schwer erträglich ist. Cover Hanser Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Nach dem grandiosen und völlig zurecht gefeierten Roman Underground Railroad wollte ich unbedingt noch ein weiteres Buch aus der Feder Colson Whiteheads lesen. Die Wahl fiel auf Die Nickel Boys. Schon der Anfang ist schauderhaft, er zeichnet den Weg vor, der hineinführt in eine Hölle aus Rassismus, Erniedrigung und brutalster Gewalt.

Mir kamen Bilder in den Sinn, die auf dem Balkan oder – aktueller – in der Ukraine aufgenommen wurde. Bilder von Exhumierungen rasch und lieblos verscharrter Getöteter, zumeist nach unmenschlichen Folterqualen. Kriegsgebiete. Doch handelt der Roman von Whitehead in den USA, in der Vergangenheit zwar, doch nicht so weit in der Vergangenheit, um das Geschilderte in einen Zusammenhang mit Kriegshandlungen zu setzen.

Oder etwa doch? Der amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 liegt noch einmal zehn Jahrzehnte gegenüber der Zeit zurück, in der die Handlung von Die Nickel Boys stattfindet. Ein wesentlicher Anlass bildete die Frage der Sklaverei, die – neben anderen – blutig auf den Schlachtfeldern entschieden wurde. Verfassungsrechtlich mochte die rassistische Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung beendet sein, sozial nicht.

Insofern ist die Frage durchaus berechtigt: Zählt das, was Whitehead in seinem Roman schildert, wie ein Echo oder gar eine Fortsetzung dessen, was der Krieg zwischen Norden und Süden der USA eigentlich ausgefochten und entschieden haben sollte? Der Roman zwingt dem Leser diese Frage regelrecht auf und das gehört für mich zu seinen großen Vorzügen.

In der Anstalt namens Nickel werden nicht nur Schwarze auf unmenschliche Weise traktiert, sondern auch die weißen Insassen, doch gehen die Grausamkeiten gegenüber den Schwarzen weit über das hinaus, was die Weißen zu erdulden haben. Whitehead hat eine großartige Erzählhaltung und -weise gefunden, um die Geschichte zu erzählen, spannend und überraschend in ihren Wendungen ist sie ohnehin. Großartig.

Colson Whitehead: Die Nickel Boys
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser Verlag 2019
Gebunden 224 Seiten
ISBN: 978-3-446-26276-8

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Lesenswerter Roman, inhaltlich nicht in meiner Komfortzone. Cover diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Der Autor Benedict Wells ist für mich ein spezieller Fall. Zwei- oder drei Mal habe ich einen Roman von ihm begonnen, einer davon war Becks letzter Sommer, den ich nach wenigen Seiten abgebrochen habe. Der Autor erschien bereits verbrannt. Trotzdem habe ich wegen Empfehlungen von mir geschätzter Blogs weitere Anläufe unternommen – erfolglos.

Der Roman Vom Ende der Einsamkeit ist mir so dringend nahegelegt worden, dass es mir nachgehangen hätte, wäre ich dem nicht nachgekommen. Es hat sich durchaus gelohnt, auch wenn der der Stoff ein gutes Stück außerhalb meiner Komfortzone liegt. Was mir besonders gut gefallen hat, ist der Schreibstil, denn Wells erzählt.

Unaufgeregt lässt er den Ich-Erzähler Jules von seinem Schicksalsweg berichten. Der hat es in sich, es ist eine lange Suche nach sich selbst, bei der er durch ein tiefes Tal gehen muss. Die Unbilden des Internatslebens, eine schier endlose, vergebliche Liebe, Orientierungslosigkeit und Scheintätigkeiten aus Schuldgefühlen, gefolgt von einer viel zu knappen Phase des Glücks – Jules wird vom Leben durch die Mangel gedreht.

Er und seine beiden Geschwister bilden ein Spannungsdreieck, völlig voneinander verschieden und doch einander verbunden, ziehen sie durch ihre Leben, die trotz aller Unterschiede geprägt sind von dem frühen, tragischen Tod ihrer Eltern. Wie ein dunkler Schatten liegt das Ereignis über ihnen, auch wenn er augenscheinlich zu verblassen scheint.

Das Trio schreitet auf sehr unterschiedlichen Wegen durchs Leben und findet immer wieder zueinander. Manche Passagen wirken etwas redundant und lassen den Leser ratlos zurück, einige Motive sind allbekannt und die ganze Geschichte wirkt ab einem gewissen Punkt ein wenig konstruiert, doch darüber kann man getrost und flott hinweglesen.

Da der Roman inhaltlich jenseits meines literarischen Tellerands liegt, verweise ich gern auf weitere Rezensionen: positiv bei Buchhaltung, Zeilentänzer; offenherzig kritisch: Literaturreich.

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit
Taschenbuch 368 Seiten
Diogenes 2018
ISBN: 978-3-257-24444-1

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Das ist keine Erzählung über den Fußball, obwohl ihm eine große Rolle zukommt. Mein Lesetipp anlässlich der der schwer erträglichen WM unserer Tage. Titel Rowohlt, Bild mit Canva erstellt.

Spät erst, auf Seite 88 von knapp 120 dieser Erzählung, rollt der Ball. In Bern, Schweiz, den Nachgeborenen vielleicht nicht geläufig als jener Ort der Wiederauferstehung des durch verheerenden Vernichtungskrieg und schulderdrückte Niederlage zermalmten Deutschland. Dort ereignet sich etwas, das als Wunder von Bern in die Geschichte eingehen wird, ein banales Fußballspiel, zwar um die Weltmeisterkrone, aber eben doch ein Spiel, das überhöht wurde zu einem befreienden Akt eines ganzen Landes.

Der 2022 verstorbene Schriftsteller Friedrich Christian Delius hat mit seiner Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, dieses kollektive Wunder für eine einzelne Person in Anspruch genommen und eine ganz wunderbare Geschichte um eine ganz besondere Form der Emanzipation gestrickt. Denn an diesem Tag ereignet sich in einem Pastoren-Arbeitszimmer auch ein Wunder – ganz anderer Art, versteht sich.

Der Ich-Erzähler, ein Junge im dumpf-drückenden Nachkriegsdeutschland, geplagt vom Pastoren-Elternhaus, persönlichen Maleschen á la Stottern und Hautkrankheit, notorischen Schul- und Sportversagens im Stile des Hochbegabten, eingesperrt im »Vaterkäfig« und leidend unter der Gefühlskälte des Großvaters, eines ehemaligen U-Boot-Kapitäns, konvertiert von »Kaisertum zu Christentum«, vor allem aber unter der Zuchtrute des »Foltergottes«, erlebt knapp zwei Stunden der Befreiung.

Früh um sieben wurde der Sonntag eingeläutet, fünfzehn lange Minuten war ich den Glocken ausgeliefert.

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag beginnt übergriffig. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, begleitet den Ich-Erzähler täglich, sonntags jedoch ganz besonders. Dem »alles überragenden, allgegenwärtigen Auge Gottes« kann er nicht entkommen. Es ist eine hoffnungslose Lage, Glaube und Kirche des frömmelnden Konvertiten-Opas, des Pastoren-Vaters und der gutmütigen Mutter lassen ihn von Lebensmitteln träumen, die »nicht von Gottes Gnade vergiftet waren«.

Delius hält für seinen Leser jedoch eine Überraschung bereit. Anders als in vielen anderen Büchern mit ähnlichem Grundansatz geht es dem Ich-Erzähler im Dorf, also außerhalb des Elternhauses, durchaus gut. Er mag die Leute, die einfachen Bauern mit ihrem derb-freundlichen Humor, hat schöne Erlebnisse und Freunde.

Als Sohn und Enkel im eigenen Haus musste ich stottern und bangen, als Kind des Dorfes litt ich nicht.

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Geradezu brillant wird der Kirchgang geschildert. Hier darf ich selbst einmal einmischen, denn das Gefühl zwischen den dicken Kirchenmauern dem Schauspiel des Gottesdienstes mit gedankenfliegendem Interesse und einer gewissen inneren Wärme zu folgen, ohne selbst auch nur im Entferntesten an einen Gott zu glauben, ist mir aus meiner eigenen Kindheit vertraut. Genauso die alberne Fremdheit der Erzählungen, mit denen man im Schul- und Konfirmandenunterricht behelligt wurden.

Diese Bibelgeschichten erscheinen als eine elende, billige, schwer erträgliche und vor allem sterbenslangweilige Ausgeburt von mythengeschwängerter Einfalt, denn »anders als in Märchen siegte das Gute sofort«. Der Ich-Erzähler durchschaut die Masche, die den Religionsunterricht in jeder Form zur Tortur macht, denn man kann sich tatsächlich »nicht in den biblischen Geschichten und Deutungen verlieren wie in einem Buch, sie waren nur der sprachkräftige Ausschmuck einer Vorschrift«.

[…] wenn er das belebende Glück des Lesenden fühlte: im Text eines anderen so viel Eigenes zu finden, sogar auf der Sportseite.

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Es geht auch anders, selbst in einer Zeitung – im Grunde genommen ein vernichtendes Urteil über die Bibel und ihre textauslegenden Apologeten. In diesem Motiv fängt Delius jeden Leser, möchte ich jedenfalls behaupten, denn diese Erzählung bietet mit ziemlicher Sicherheit jedem eine Möglichkeit zur Identifikation. Dieser kleine Satz reicht weit über die konkrete Situation hinaus ins Allgemeingültige.

Der Ich-Erzähler pöbelt dabei nicht gegen den »Foltergott«, sondern stellt ihn bloß, seine frommen Eltern und den frömmelnden Großvater gleich mit. Er attestiert Gott eine »Quällust« und fußt dieses dramatische Urteil auf der Geschichte von Abraham, dem dumpf-gehorsamen Erfüllungsgehilfen göttlichen Willens, und seines Sohnes Isaak, der geopfert werden soll – ein blutiges Treue-Spektakel des angeblich gütigen Gottes.

An dieser Stelle bleibt der gedankliche Sprung neun Jahre von der Handlungszeit zurück nicht aus, als der blutigste Krieg der Menschheitsgeschichte endete, ausgetragen von Heerscharen treuer Erfüllungsgehilfen, die weite Teile Europa in Bloodlands verwandelten. Delius spart diesen Part keineswegs aus, lässt jedoch bei der Gelegenheit seinen bissigen Humor von der Leine.

In vielen guten Stuben nistete etwas Dunkles und Dumpfes, […] immer stand da ein gefallener Sohn oder Vater oder Bruder in einer peinlich gewordenen Uniform gerahmt auf einem Häkeldeckchen und schaute den Hinterbliebenen, Besuchern vorwurfsvoll auf den Streuselkuchen.

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Und dann – endlich – rollt der Ball. Der Ich-Erzähler verfolgt das Endspiel vor dem Radio. Auch hier erhöht eigenes Erleben den Lesegenuss, denn wer einmal gegen Saisonende, als die Bayern der sterbenslangweiligen Dauermeisterschaft noch fern und letzte Spieltage hochspannend waren, die Konferenzschaltung im Radio verfolgen durfte, in andächtig stiller Gemeinschaft kaffeetrinkender Mitleidender, weiß um die Macht des Wortes ohne Bild.

Es ist ein Sog, der auch den Ich-Erzähler erfasst und mitten in das Spiel hineinzieht, mit ihm verschmelzen lässt. Das Geniale an Delius Erzählung ist die sprachlich-erzählerische Umsetzung, die bei einem im TV erlebten Spiel unmöglich wäre (bei einem Buch aber nicht). Originale Brocken, Sätze aus der Radio-Übertragung montiert der Autor mit dem Erleben des Hörers, seinen Assoziationen, Gedanken, Bildern, Hoffnungen, Ängsten usw.

Aus! Aus! Aus! – Aus! – Das Spiel ist aus! – Deutschland ist Weltmeister

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Die Intensität ist ungeheuerlich, gerade weil man vor dem Radio nichts sieht, sondern die Gedanken unter dem Druck der Ereignisse ihre eigenen Bilder malen müssen.

Man erlebt hautnah mit, wie der Ich-Erzähler aus seiner Situation fortgetragen wird, hinaus aus dem Pfarrer-Arbeitszimmer, in dem die Bibel »schwarz wie ein Kindergrabstein« liegt und alles an den alltäglichen, unentrinnbaren Schrecken gemahnt, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Bis der Foltergott Konkurrenz bekommt, von einem Götzen, der – sprachlich, rhetorisch – Teufel(-skerl) und (Fußball-)Gott zugleich ist und die Tür weit aufreißt für den großen Schritt der Emanzipation.

Ich fand von Minute zu Minute mehr Gefallen daran, einen heimlichen Gott, einen Fußballgott neben dem Herrgott zu haben. […] In diesen Minuten rückte ich ab von der dreieinigen Besatzungsmacht Gott, Jesus und Heiliger Geist […]

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Die Erzählung spielt mit den christlichen und von der Alltagswelt gnadenlos übertragenen Begriffen. Das Wunder von Bern ist eben auch eine ganz wundervolle Gotteslästerung, in diesem Fall für die Lossagung einer gequälten Seele von seinen Peinigern. Von wegen: nur ein Spiel. Wer in der Gegenwart lebt, kann auf so ein Wunder lange warten, der FIFA-Fußball hat sich nicht erst mit der Vergabe der WM an den Wüstenstaat ins Abseits verdribbelt.

Wer wissen will, wohin das führt, kann Die Göttliche Komödie von Dante, insbesondere den ersten Teil, Inferno, zu Rate ziehen – da findet sich bestimmt ein passendes Plätzchen.

Man kann aber auch Delius Erzählung lesen und den Gedanken freien Lauf lassen, Erinnern oder Erträumen, einen Götterfunken-Moment im Stadion, etwa auf der Südtribüne des Westfalenstadions, wenn ganz am Ende, jenseits aller Hoffnung, wie aus dem Nichts zwei Treffer erzielt werden – und man emporgeschleudert wird inmitten eines gewaltigen Bebens, ein einziger wogender, donnernder, tobender Rausch.  

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Erzählung
Taschenbuch 120 Seiten
rororo 9. Auflage 2011
ISBN 978 3 499 23659 4

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