Ein tolles Thema mit einer großartigen Perspektive und vielen interessanten Figuren; leider überwiegen am Ende doch die Schwächen dieser historischen Dystopie. Cover Heyne-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Das Genre lese ich selten, aber gern: eine historische Dystopie, in der das so genannte »Dritte Reich« den Zweiten Weltkrieg nicht verloren hat. Diese Formulierung ist mit Bedacht gewählt, denn Hitler wollte zwar Krieg, aber nicht unbedingt einen Sieg im Sinne eines neuen Friedens. In seinen Wahnvorstellungen sollte der Deutsche im Osten an einer stetig fechtenden Front sich stählen (sehr verkürzt dargestellt).
Der Roman von C.J. Sansom, der hierzulande unter dem Titel Feindesland vermarktet wird (im Original ein treffenderes Dominion), greift das Motiv ebenso auf wie etwa der brillante Thriller Vaterland von Robert Harris. Die Ostfront ist statt eines Stahlbads zu einer schwärenden Wunde des Reiches geworden, das zwar ganz Europa besiegt, mit England einen Frieden geschlossen und sein rassistisches Vernichtungsprogramm fast ganz durchgeführt hat, aber unter dem Dauerkrieg ächzt.
Mit dem Reich darbt auch ganz Europa, beste Voraussetzungen für das Aufkeimen von Widerstand, zumindest in der Welt, die C.J. Sansom erdacht hat. Auch in England gärt es, Botschafter Erwin Rommel wird anlässlich eines Gedenktages attackiert. Das ist der Ausgangspunkt für eine im Kern spannende und abenteuerliche Geschichte, die bevölkert ist mit vielen sehr interessanten Figuren.
Diese tummeln sich in einem England, das seine eigenen rechten Vorstellungen ebenso verwirklicht hat und in der Ideenwelt eines eigenständigen, mit Nazi-Deutschland verbündeten Großbritannien lebt: Das Empire gibt es Anfang der 1950er Jahre noch, diese Konstruktion ist ein verdeckter Kommentar zu den wirtschaftlichen Ideen eines auf den eigenen Herrschaftsbereich (Dominion!) beschränkten Landes auch in der Brexit-Gegenwart.
Diese Perspektive ist gut gewählt und bietet einen Ausblick auf eine düstere Welt, in der sich die USA dem Isolationismus verpflichtet, Japan in China in einem endlosen Krieg verbissen hat und England seine Kolonien brutal ausbeutet. Auch die durchaus vielschichtigen politischen und diplomatischen Manöver, die Teil des aktiven, d.h. auf das Geschehen einwirkenden Kulissen zählen, sind ein klarer Pluspunkt, sie verleihen dem Roman einen großen Mehrwert. Vor allem aber wird die unfassbare Monstrosität sicht- und fühlbar, die sich hinter bürokratischen Wortschleiern á la „Generalplan Ost“ verbirgt.
Weniger gelungen sind viele Kurzschlüsse in der Thriller-Handlung, allzu oft begreifen Figuren aller Seiten plötzlich etwas auf sehr kurzem Wege, wenn es gerade in den Handlungsverlauf passt; das mindert die Glaubwürdigkeit beträchtlich. Der Dynamik hätten eine konsequente Straffung gutgetan, viele Dialoge sind zu lang, redundant oder einfach unnötig. Manchmal flirren die Konturen der Figuren, wenn sie plötzlich aus der Rolle fallen oder in unangemessene Rührseligkeit ausbrechen – schade, denn die Persönlichkeiten sind grundsätzlich ansprechend.
Leider werden die Schattenseiten des Romans im Verlauf immer dichter, bis es zum Showdown kommt, schleppt sich die Handlung einige Zeit dahin wie ein Fußkranker, ehe der Leser ein groteskes Spektakel und ein fürchterlich naives Ende in Form eines Epilogs präsentiert bekommt. Das ist sehr schade, denn anfangs ist Feindesland ein großer Lesespaß, denn die Welt, die starr und dunkel zu sein scheint, gerät ganz erheblich ins Wanken.
Adolf Hitler ist schwerkrank, seine Umgebung scharrt mit den Füßen, den Machtkampf um die Nachfolge notfalls in einem selbstvernichtenden Bürgerkrieg auszufechten, eng verbunden mit der umstrittenen Frage, wie die Politik fortgeführt werden soll. Und über allem baumelt ein Alptraum namens Atombombe und eröffent eine vorzügliche Aussicht auf eine globale Selbstvernichtung.
C. J. Sansom: Feindesland Aus dem Englischen von Christine Naegele Heyne Verlag 2020 Taschenbuch 768 Seiten ISBN: 978-3-453-43942-9
Ein fabelhafter Roman über einen Film-Regisseur, der sich nolens volens in den Abgrund des nationalsozialistisch beherrschten Europas begibt und der Verlockung folgt, unter Zuhilfenahme der Nazi-Ressourcen Meisterwerke zu drehen. Cover Rowohlt-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
›Eigentlich hat nicht Hitler regiert. Und auch nicht Goebbels oder Göring oder wie sie alle heißen. Eigentlich war es immer er.‹
Daniel Kehlmann: Lichtspiel
»Er«? Wer ist »er«? Bei diesem Zitat drängt sich diese Frage auf. Wenn der Leser von Daniel Kehlmanns Roman Lichtspiel diese Worte liest, hat er die letzten Meter schon erreicht, das Ende ist zum Greifen nahe. Die Hauptfigur, der Regisseur W.G.Pabst, und seine Frau Trude befinden sich tief unter der Erde in einer Höhle und betrachten eine uralte Wandmalerei.
»Er« ist dort abgebildet, zwischen »anstürmenden Tieren« und »Männchen mit Speeren«, die sich vor einem »verkrümmten Wesen« beugen, ihm »Opfergaben hinstrecken«. Der Rücken dieses Wesens ist schief, ein paar rote Flecken ersetzen den Kopf, der auf einer schiefen Schulter sitzt; zwei »starr glotzende Augen« sind zu sehen, ein »brutales und böses Geschöpf«, das nicht zu den Menschen und Tieren gehört.
Das ist »er«, der immer schon das Szepter geschwungen hat, die Personifikation des Bösen – der Teufel vielleicht?
Mehrfach berührt die Romanhandlung jene Grenze, an der die Konturen der Wirklichkeit verwischen. Kehlmann lässt in diesen Passagen seine Figuren die fassbare Wirklichkeit verlassen, es bleibt unklar, ob es sich um Albträume, Visionen oder tatsächlich übersinnliche Dinge handelt. Das verstärkt den Schauder ebenso wie die Irritation.
So entsteht eine der stärksten und eindrücklichsten Szenen des Romans, wenn der aus dem Exil ins Nationalsozialistische Deutschland (nolens volens) zurückgekehrte W.G. Pabst bei »dem Minister«, also Dr. Joseph Goebbels, vorspricht. Eigentlich hat dieser ihn zu sich zitiert, was so jedoch nicht sein darf, denn es muss den Anschein erwecken, als handele es sich um den Canossa-Gang eines reumütigen Regisseurs.
Kehlmann spielt mit dem Leser, er überzeichnet die Szene ins Groteske, lässt den Raum (und die Macht) endlos erscheinen, wodurch der Regisseur schrumpft; er überspitzt den Dialog zwischen Goebbels und Pabst, lässt die Adjutanten auftreten, als handelte es sich Kleindarsteller aus einem Marx-Brothers- oder Chaplin-Film, dann aber plötzlich betritt Goebbels den Raum ein zweites Mal und verschmilzt mit dem bereits sitzenden zu einer einzigen Figur.
Das also ist »er«.
Pabst wird auf den ersten Blick die Wahl gelassen, eigentlich hat er längst keine mehr. Die hatte er, so lange er außerhalb des Machtbereiches der Nazis war. Eigentlich. Denn in Hollywood ist Pabst, der auf einer Höhe mit den Regie-Weltberühmtheiten Friedrich Wilhelm Murnau und Fritz Lang stand, nicht angekommen, er prallt an den ungeschriebenen Gesetzen ab wie eine Arkebusenkugel am Harnisch eines Kürassiers.
›Metropolis ist der beste Film, der je gedreht wurde‹, sagte Pabst. ›Ich weiß‹, sagte Lang. Beide schwiegen.
Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Pabst hätte bleiben können, wäre Pabst eben nicht Pabst. Die Sucht, die ihn bis zum Äußersten und ein Stück darüber hinaus treibt, ist der Film, das ewige Meisterwerk. In Hollywood wird er das nach seinem anfänglichen Scheitern nicht mehr schaffen, also geht er zurück nach Europa und dann auch ins Reich: vorgeblich wegen seiner kranken Mutter, aber auch, weil er in Frankreich ebenfalls nicht reüssieren kann.
Der Grenzübertritt ist beklemmend und gespenstisch, die Ankunft im Zuhause Schloss Dreiturm nicht minder, der Regimewechsel macht sich mit brutaler Gewalt und verkehrten sozialen Verhältnissen bemerkbar, die ehemaligen Hausmeister sind die neuen Herren. Pabst sitzt mit Frau und Sohn in der Falle, Dreiturm hat sich in ein Spukschloss mit ruchlosem SA-Gespenst verwandelt. Hat er in dieser Lage eine Wahl, als den Kotau zu unternehmen? Kann man dem Teufel etwas abschlagen?
Die Antwort darauf ist unklar, unscharf. Selbstverständlich kann man, wenn man die Konsequenzen in Kauf nimmt; doch die scheute Pabst schon in den USA und da wurden weder Verhaftung und Konzentrationslager (Peitsche) noch unbegrenzte Ressourcen zum Filmedrehen sowie die Aussicht, Meisterwerke zu drehen (Zuckerbrot) ins Spiel gebracht.
›Mann verkrümmt sich Tausende Male, aber man stirbt nur einmal‹, sagte Wegener fröhlich. ›Es lohnt sich einfach nicht.‹
Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Pabst will Meisterwerke, auch wenn die Kosten hoch sind; er verkrümmt sich, um im Bild zu bleiben, die Stärke und Distanz zu sich selbst, wie Wegener, hat er nicht. Wie hoch der Preis ist, wird nicht verraten, der Roman eskaliert über hunderte von Seiten wie auch der Zweite Weltkrieg sich immer weiter aufschaukelte zu einem von grenzenloser Zerstörungswut orchestrierten Massenmord. Pabst und seine Angehörigen können sie dem nicht entziehen.
Parallel erzählt Lichtspiel auch die Geschichte des Filmedrehens. Kehlmann wählt den langen Weg, streut hier und da bereits Informationen ein, erklärt, erläutert das Wie, Warum und Was, beiläufig an positiven wie negativen Beispielen und das so authentisch, dass ich mich an ein Interview mit Christoph Waltz erinnerte, der einige Einblicke in das Filmgeschäft und seine Mechaniken gewährte.
Ganz am Ende erst, als das Reich nach langem Todeskampf endlich zusammenbricht, lässt Kehlmann auch Pabst seinen Film drehen, ein sehr langer Spannungsbogen geht seinem Ende entgegen und ist in mehrfacher Weise dramatisiert und zugespitzt. Die Szenen in Prag, dem letzten Ort im Reich, in dem noch halbwegs unbehelligt von Bombenangriffen gedreht werden konnte, sind eine groteske Götterdämmerung im Kleinformat.
›Du hast recht. Aber nur halb. denn das alles geht vorbei. Aber die Kunst bleibt.‹
Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Was bleibt, wenn der Staub des Untergangs sich legt? Die Selbstbeschwichtigung, die Pabst vorbringt, ist nicht trotz ihrer rechtfertigenden Verwendung eben auch nicht von der Hand zu weisen. Kehlmann hat einen wirklich großartigen Weg gefunden, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Dabei greift er ganz am Ende noch einmal auf den Anfang zurück und schließt sein Lichtspiel mit einem Kniff, der tragisch zu nennen wäre. Oder komisch. Oder beides – ambivalent im besten Sinne, wie dieser ganze Roman und seine Hauptfigur.
Anlässlich des Göttinger Literaturherbstes 2023 hat Daniel Kehlmann aus seinem Roman gelesen und eine ganze Reihe von Dingen geäußert, die sehr spannend und erhellend gewesen sind. Wer während der Lektüre einen szenischen Charakter erkannt haben will, liegt nicht falsch; Kehlmann hat in den vorangegangenen Jahren Drehbücher geschrieben – nebenbei eine Art Recherche in Action. Die Verschränkung dieser Tätigkeit mit seinem Roman liegt auf der Hand.
Lichtspiel ist daher auch ein Spotlight-Roman, der wichtige Stationen auf dem Weg des W.G. Pabst durch die Dunkelheit der Naziherrschaft schlaglichtartig beleuchtet. Auch in dieser Hinsicht also ein Lichtspiel.
Fünf Bücher kann ich ohne Bedenken empfehlen, eines interessiert mich nicht und eines war eine Enttäuschung. Ein wenig Festspielatmosphäre, tolle Veranstaltungsorte, gute Lesungen mit interessanten Autoren und überwiegend guten Gesprächspartnern.
Der Applaus klingt noch im Ohr: Gerade erst habe ich die Veranstaltung mit Bonnie Garmus verlassen, die mit ihrem Roman Eine Frage der Chemie einen Bestseller gelandet hat. Das Buch kenne ich nicht und werde es auch nicht lesen, mich hat vor allem interessiert, wie eine Lesung verläuft, wie die Kommunikation funktioniert, Moderatorin und Vorleserin ihre Aufgabe lösen und das Publikum reagiert. Das war sehr aufschlussreich.
Ich bin zu insgesamt acht Veranstaltungen gegangen, was den Festival-Charakter des Göttinger Literaturherbst in Spurenelementen erlebbar machte. Das gilt besonders für den Freitagabend vorletzte Woche, als ich zunächst Daniel Kehlmann für Lichtspiel und direkt im Anschluss Andrej Kurkow mit Samson und das gestohlene Herz erleben durfte. Zwei Lesungen direkt nacheinander – geht das? Ja, ganz prima sogar.
Zweimal bin ich unvorbereitet zu einer Lesung aufgebrochen, im Falle von Ralf Rothmann an seinem Buch Die Therorie des Regens durchaus interessiert, was sich nach der Lesung jedoch erledigt hatte. Einen Roman werde ich von dem Autor sicher lesen, Im Frühling sterben steht schon im Regal bereit. Die Lesung war dennoch alles andere als eine Enttäuschung, Gespräch und Vortrag haben unterhalten, es gab kluge Fragen seitens des Gesprächspartners und aus dem Publikum.
Das ist ein gutes Stichwort, denn bei der Lesung von Andrej Kurkow wirkte der Gesprächspartner – nun, sagen wir: indisponiert. Das Gespräch versandete im Nebel des Ungewissen – glücklicherweise hatte das Publikum Fragen, die wie ein kommunikativer Rettungsring wirkten. Die Nachfragen erlaubten dem sehr sympathischen und gut Deutsch sprechenden Autor viel zu erzählen – auch zu anderen Romanen, von denen ich mir gleich einen gekauft habe. Graue Bienen, die wenigen Worte, die Kurkow darüber verloren hat, klangen sehr interessant.
Leichtigkeit heißt nicht oberflächlich
Leichtigkeit prägen Kurkows Samson-Romane wie auch Kehlmanns Lichtspiel, in Steffen Schroeders Planck – oder wie das Licht seine Leichtigkeit verlor, ist das Wort sogar Teil des Titels. Ganz besonders trifft es auch auf den Roman Aufklärung von Angela Steidele zu, wenngleich der Titel auf sperrige Kost schließen lässt. Mehrfach wurde thematisiert, wie die Schriftsteller ganz planmäßig versucht haben, die Lesbarkeit durch Elemente der Leichtigkeit zu erhöhen.
Aber Leichtigkeit ist nicht mit oberflächlich zu verwechseln! Leider habe ich bei mehreren Besprechungen und Rückmeldungen zu einigen Romanen schon merken müssen, dass zu leichtfertig, vielleicht auch zu flüchtig gelesen wurde. Das ist schade, denn die Leichtigkeit gibt dem Leser den nötigen Raum, um über die schweren Dinge der Handlung nachzudenken – das gilt für dieses Quartett, das ich nachdrücklich zur Lektüre empfehlen möchte.
Das gilt auch für den Brocken von einem Buch namens Der Frühling der Revolution von Christopher Clark. Der Historiker beleuchtet die Revolution von 1848/49 aus einer gesamteuropäischen Sicht, was eine Menge neuer Sichtweisen und Erkenntnisse öffnet, darunter einige hochspannende, die Revolutionsträumer wie eine kalte Dusche ernüchtern sollte. Sklavenbefreiung – eine gute Sache, aber mehr als ein Teufel steckt im Detail, zum Beispiel, wenn die Sklavenhalter gar keine Weißen sind, sondern Schwarze bzw. Angehörige einer Mischbevölkerung.
Eine Enttäuschung gab es auch: Felicitas Moklers Vortrag über das hochspannende Thema Kosmologie schöpfte wie ihr Buch nicht aus, was möglich wäre. Kurioserweise fehlt es an sprachlicher Präzision, didaktisch ansprechender Struktur und thematischer Verflechtung. Ich lese ihr Buch trotzdem, denn für meine Intention ist es durchaus geeignet: Ausloten, wo die Grenzen meines Verstehens sind.
Alles in allem bin ich sehr zufrieden und hoffe auf ein ähnlich gutes Programm im kommenden Jahr.
Meine glorreichen Sieben – das sind die Veranstaltungen des Göttinger Literaturherbstes 2023, auf die ich mich am meisten freue. Das Programm ist in diesem Jahr großartig, vielleicht schaue ich mir noch die eine oder andere Sache zusätzlich an, denn – von der ewig-hässlichen Stadthalle (brrr) einmal abgesehen – gibt es viele sehr schöne, atmosphärische Veranstaltungsräume.
Heute beginnt für mich der Göttinger Literaturherbst 2023 mit einer zweifellos großartigen Veranstaltung: Der Historiker Christopher Clark spricht über die Revolution von 1848/49 in Europa – womit das Thema aus seinen nationalen Brutkästen geholt wird. Clark hat ein voluminöses Buch zu dem Thema verfasst, das Frühling der Revolution betitelt ist. Wie in seinen berühmten und diskutierten Die Schlafwandler wird der Leser mit neuen Perspektiven konfrontiert, los geht es mit der Revolution in – nein, nicht Paris – Palermo (nach einem Vorspiel in der Schweiz).
Es ist das einzige historische Sachbuch meines persönlichen Programms, das – wie man sieht – vier Romane, ein historisches und ein naturwissenschaftliches Sachbuch sowie ein Kompendium mit einem sehr persönlichen Zugang zum Thema Schreiben umfasst.
Thematisch geht es historisch-politisch zu. Aufklärung von Angela Steidele ist zum Glück kein Buch über die Abgründe des Sexualkundeunterrichts, sondern führt den Leser ins 18. Jahrhundert, ein Historischer Roman, auf den ich mich sehr freue (danke noch einmal an Marius Müller von Buch-Haltung für die schöne Besprechung).
Andrej Kurkow lässt seine Helden Samson und Nadjeschda durch die blutigen Wirren des »Bürgerkriegs« im Gefolge des Ersten Weltkrieges in Kyjiw (Kiew), Ukraine, taumeln. Dabei ist es ihm in seinem ersten Teil gelungen, die Gewalt anklingen zu lassen, ohne in Voyeurismus zu verfallen; stattdessen wählt er einen plüschigen Ton, was die Ereignisse nicht weniger grausam, aber erträglicher gestaltet. Auf den zweiten Teil bin ich sehr gespannt – den werde ich allerdings erst im Anschluss lesen können.
Der Roman Lichtspiel von Daniel Kehlmann lässt den Leser am bewegten Leben des Regisseurs W.G. Pabst und zahlreichen anderen Zeitgenossen teilhaben. Schon das erste Viertel des Romans zeigt, was Kehlmann gelungen ist: Er hat eine leicht lesbare (laut Wolfgang Herrndorf eine unterschätzte literarische Qualität) und wirksame sowie angemessene Erzählform gefunden, ohne ins Seichte abzugleiten.
Das lässt sich auch über Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder sagen, der den Leser in die Zeit führt, zu der das Hitlerreich in den Todeskampf eintrat und sich seine Monstrosität nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs nur noch durch einen Sieg der alliierten Truppen beenden ließ. Plancks Sohn ist ihm Mahlwerk der Gestapo und SS gefangen, der Tonfall der Erzählung bleibt dabei in einer gewissen Weise lakonisch, sarkastisch, boshaft-heiter.
Bei Lichtspiel und Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor wird ganz nebenbei immer auch deutlich, was Deutschland bzw. die deutschsprachige Welt der 1920er Jahre verloren hat, als das braune Pack die Macht übertragen bekam. Ich weigere mich jedoch, diese Romane als »wichtig« zu bezeichnen, weil sie »uns« etwas für unsere eigene Zeit zu sagen hätten oder eine Warnung bereithielten. »Wir« haben »uns« noch nie davon beeindrucken lassen.
Ralf Rothmann hat mit seiner Theorie des Regens ein Kompendium seiner Notizen aus vielen Jahrzehnten zusammengestellt. Hier werde ich ganz ohne vorherige Lektüre an der Veranstaltung teilnehmen, von Rothmann habe ich noch kein einziges Wort gelesen. Ich bin voller Neugier, auf das Gespräch und darauf, wie es ist, völlig unbedarft zuzuhören.
Schließlich noch eine Form des wissenschaftlichen Eskapismus. Felicitas Mokler hat ein Buch veröffentlich, dessen Titel für sich selbst spricht: Die Evolution des Universums: Vom Urknall bis in die Ewigkeit. Als alter Science Fiction-Leser und Teleskop-Sternegucker (es ist kalt in klaren Herbst- und Winternächten) lasse ich mich gern auf den neuesten Stand der Kosmologie bringen. Wobei – verstehen werde ich sicherlich nicht alles, doch darum geht es gar nicht. Die eigenen Grenzen des Verständnisses kennenzulernen, ist meines Erachtens oft genauso wertvoll, wie das Verstehen selbst.
Das wohl wichtigste politische Buch, das ich 2023 gelesen habe. Die Textsammlung bietet eine fabelhafte Möglichkeit, kompetenten Osteuropa-Kennern und vor allem -Bewohnern zuzuhören. Es gibt einen Menge zu lernen, gerade auch für den eigenen Standpunkt, die eigene Weltsicht. Cover edition fotoTAPETA, Bild mit Canva erstellt.
Das ganze Elend westlicher Gesinnungsethik und blinder Russophilie wird am Beitrag von Jens Herlth deutlich, der sich gegen einen pointierten Essay der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko zu russischer Literatur und Kriegsverbrechen richtet. Slawist Herlth unternimmt einen hilflosen Versuch, zu verteidigen, was nicht zu verteidigen ist.
In dem fabelhaften Sammelband »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« gibt es – zum Glück – mehrere weitere Beiträge, die Herlth entschieden widersprechen und widerlegen. Das alles muss hier nicht wiederholt werden, stattdessen seien die Aspekte genannt, die am Beispiel eines Einzelnen zeigen, worauf der gesamte Band abzielt.
Bemerkenswert ist vor allem die Argumentationslinie Herlths, die ungewollt jene blinden Flecken offenbart, mit denen viele westliche Blicke gen Osten behaftet sind. Einmal nur gebraucht Herlth in seiner Replik das Wort »menschenverachtend«. Butscha? Folterlager? Kindesentführungen? Terrorangriffe? Vergewaltigungen? Die genozidale Propaganda des Putin-Regimes?
Keineswegs. Herlth empört sich darüber, dass für russländische Soldaten der Begriff »Ork« verwendet wird und – in den sozialen Medien, also keineswegs offiziell (!) – der Wunsch geäußert wird, die Invasoren mögen Dünger für ukrainische Felder werden. Wäre Slawist Herlth auf der Höhe der Zeit, wüsste er, dass selbst russische Regime- und Kriegskritiker ihr Land als »Mordor« bezeichnen.
Das ist in einer erschütternden Weise erbärmlich und bezeichnend: Herlth argumentiert »als ob«: Als ob Russland keinen Angriffskrieg führen würde; als ob es keinen Unterschied zwischen dem Angreifer und dem Angegriffenen gäbe; als ob die Herabwürdigung von Angriffskriegern gleichwertig mit deren verabscheuungswürdigen Verbrechen an Zivilisten und Kriegsgefangenen wäre.
Der moralische Kompass scheint bei Herlth ein wenig durcheinandergeraten, und wer die Welt so verzerrt betrachtet, gerät recht schnell selbst in Ork-Verdacht. Dabei gäbe es an der scharfen Attacke, die Sabuschko gegen die russische Literatur reitet, einiges zu besprechen, wie die Beiträge von Karlolina Kolpak & Aleksandra Konarzewska sowie Mathew Omolesky zeigen: Man müsste nur offen zuhören, statt schnappatmig zurückzukeifen.
Ukrainische Leben sind weniger wertvoll. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine ethische Wahl. (Kateryna Mishchenko)
Eine der wesentlichen, in diesem Band immer wiederkehrenden Fragen ist: Soll man trotz des russländischen Angriffskrieges noch russische Literatur lesen oder wegen ihrer imperialen DNA boykottieren? Recht einheitlich ist die Ablehnung, gemeinsam mit russländischen Künstlern aufzutreten, auch wenn sich diese gegen Putin aussprechen.
Das sorgt in kultur- und ausgleichsbeflissenen westlichen Kreisen für Naserümpfen, ein gutes Zeichen dafür, dass diese Kreise noch immer nicht begriffen haben. Auf die Frage, ob, was und wie man russische Literatur lesen sollte, gibt es vielfältige Antworten; tatsächlich spricht einiges dafür, vor allem ukrainische Literatur zu lesen, weil sie gut ist und es ein Akt kultureller Dekolonisation sein kann.
Damit ist das Feld bereitet: »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« bietet dank der Fülle an Beiträgen eine Menge an Themen und Sichtweisen, über die man nachdenken kann, ja sollte, muss. Da wäre jener von Timothy Snyder, der sich mit der fehlgeleiteten, verheuchelten deutschen Erinnerungskultur auseinandersetzt, welche die Ukraine Hand in Hand mit (Sowjet-)Russland ausblendet.
Man reiste nach Moskau, um dort Absolution (und Erdgas) zu bekommen. (Timothy Snyder)
Noch wichtiger sind aus meiner Sicht jene wütenden, schonungslosen Auslassungen von Szczepan Twardoch, der gleich zweimal zu Wort kommt. Seine Zeilen sind nicht angenehm zu lesen, aber ungeheuer wichtig, denn für die im Westen Geborenen, die in der komfortablen Bequemlichkeit ihrer Wachstums-Demokratie aufgewachsen sind, ist es unangebracht, Osteuropa zu belehren.
Es geschieht dennoch, insbesondere mit Blick auf Russland. Twardoch beschreibt das sehr passend als paternalistisch-herablassend, was bereits vor dem 24. Februar 2022 zu dramatischen Verwerfungen in osteuropäischen Staaten geführt hat. Der Schock über den russländischen Angriffs- und Vernichtungskrieg war dort nicht so groß, weil man sich keinen grotesken Illusionen und Schönrednereien hingegeben hat.
Twardoch ist gnadenlos. Mit Vevre, aber keineswegs blindwütig zieht er in die Schlacht und unternimmt einen Streifzug durch die russländische Gewaltgeschichte. Dabei macht er auch nicht von Säulenheiligen á la Alexander Solschenizyn halt, der im Westen dank seines »Archipel Gulag« einen besonderen Ruf genießt und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Liebe westeuropäische Intellektuelle: Ihr habe keine Ahnung von Russland. (Szczepan Twardoch)
Für Twardoch verbindet sich die Gräuel von Butscha mit dem Gesicht Solschenizyns und zwar mit dem des jungen Artilleriehauptmanns, der beim Einmarsch in Ostpreußen dabei gewesen war und – als kommandierender Offizier – zwar nicht an den Vergewaltigungen von Zivilistinnen teilnahm, aber diese eben auch nicht unterbunden hat.
Vor diesen »Befreiern« ist die halbwüchsige Großmutter Twardochs geflohen, der Großvater musste im Januar als desertierter Volkssturmler mit ansehen, wie der sowjetische NKWD wahllos Erschießungen vornahm. Davon zieht Twardoch eine Linie zur Gegenwart und stellt die Frage, was nach Putins Abgang geschehen werde. Tauwetter statt Morgethau-Plan, fürchtet er.
Klingt brutal? Wer Witold Jurasz’ Beitrag liest, in dem er schonungslos aufzeigt, wie die Hörigkeit gerade deutscher Eliten gegenüber Russlandmythen Europa zerstört, wird eines Besseren belehrt. Das Kind namens europäische Integration liegt tief im Brunnen und wenn man auf das kommunikative Desaster (!) um die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine schaut, versinkt es Tag für Tag weiter.
[…]eine Politik, deren Tenor von deutschen Politikern bestimmt wird, wie sie jahrelang Nord Stream 2 forcierten und Russlandprognosen trafen, von denen keine einzige eingetreten ist. Die Kompromittierung der deutschen Russlandpolitik ist leider kein Argument für, sondern gegen die vertiefte Integration. (Witold Jurasz)
Jurasz legt den Finger in die Wunde, wenn er die Doppelzüngigkeit und das fehlende Augenmaß von Menschenrechtlern kritisch beleuchtet. Diese übersehen russländische Verbrechen und gestatten Russland Rechte, die man »den Amerikanern niemals zugestanden hätte«. Völlig zurecht weißt er daraufhin, dass US-Journalisten für ihre Berichte über Menschenrechtsverletzungen nicht sterben, russländische von »Unbekannten« ermordet werden.
Aus »Alles ist teurer als ukrainisches Leben« lassen sich spektakuläre Ideen ziehen. Was soll mit der russischen Sprache in der Ukraine geschehen? Zunächst einmal sollte klar sein, dass die Ukraine zweisprachig ist, Gwendoly Sasse hat das »kontextabhängige Bilingualität« genannt. Russisch wird aus dem Alltag nicht komplett verschwinden. Oleksiy Radynski unterbreitet den Vorschlag, sie in Ostukrainisch umzubenennen, was aus unterschiedlichen Gründen eine Menge Charme hat.
Damit verbindet sich eine sehr weitgehende Idee, nämlich die russische Kultur zu dekonstruieren. Radynski meint damit, dass etwa deren »Pantheon« neu gestaltet gehört; statt ihn »Tolstojewski« zu überlassen, sollte man Schriftsteller wie Nikolaj Leskow aufnehmen, der eine ganz andere Perspektive in und aus Russland gibt.
Die russische Sprache gehört uns, wir geben sie Putin nicht her. (Oleksiy Radynski)
»Alles ist teurer als ukrainisches Leben«
Das ist ein schönes Beispiel dafür, auf welch’ eingedampften Niveau im Westen oft Diskussionen geführt werden – die Basis der Argumentation ist dünn, trotzdem werden weitreichende Aussagen getroffen. Dafür gibt es den Begriff des »Westplaining«, der von Aliaksei Kazharski beleuchtet wird. Es ist eben nicht ein geographischer Ausschluss von Meinungen, sondern bezüglich der fachlichen Kompetenz.
Auch in diesem Beitrag geht es differenziert zu, denn Kazharski erweitert »Westplaining« durch »Russosplaining« und »Ukrosplaining«. Der erste Begriff zeigt, wie fatal uninformiertes Urteilen sein kann, denn die russische Sicht vor dem Angriffskrieg projizierte Annahmen und Ideologien auf die Ukraine, wodurch der Blitzkrieg scheiterte.
Klar formulierte Kritik ist zugegebenermaßen unangenehm, doch wann ist es das nicht, wenn einem ein Spiegel vorgehalten wird? Dieser hier hat vielfältige Facetten und ist umso wertvoller. Am Ende nämlich, wenn alle Beiträge gelesen und reflektiert sind, bleibt die Erkenntnis, dass Oksana Sabuschko mit ihrer fulminanten Attacke vielleicht in der Wahl der Worte, doch nicht im Kern ihrer Aussage überzogen hat. Eine Neubewertung des imperialen Russland ist dringend nötig. Bis dahin heißt die Devise: Fack ju, Puschkin.
[Rezensionsexemplar]
»Alles ist teurer als ukrainisches Leben« Aleksandra Konarzewska, Schamma Schahadat, Nina Weller (Hrsg.) edition fotoTAPETA 2023 Broschur 272 Seiten ISBN: 978-3-949262-29-6
EINFACH AUF DAS BANNER KLICKEN! Preisaktion bis 6. Dezember 2023! So günstig wird es nie wieder: Die eBook-Ausgabe der ersten drei Bände meiner Abenteuerreihe Piratenbrüder für je 99 Cent. Mehr Infos gibt es hier.
Aktuelle Lektüre
Das Sachbuch Fünfte Sonne von Camilla Townsend führt in die Welt eines indigenen Volkes in Amerika, das durch die Ankunft der Spanier beinahe vollständig vernichtet wurde. Ich erweitere meinen Horizont und bin sehr gespannt.