Spät erst, auf Seite 88 von knapp 120 dieser Erzählung, rollt der Ball. In Bern, Schweiz, den Nachgeborenen vielleicht nicht geläufig als jener Ort der Wiederauferstehung des durch verheerenden Vernichtungskrieg und schulderdrückte Niederlage zermalmten Deutschland. Dort ereignet sich etwas, das als Wunder von Bern in die Geschichte eingehen wird, ein banales Fußballspiel, zwar um die Weltmeisterkrone, aber eben doch ein Spiel, das überhöht wurde zu einem befreienden Akt eines ganzen Landes.
Der 2022 verstorbene Schriftsteller Friedrich Christian Delius hat mit seiner Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, dieses kollektive Wunder für eine einzelne Person in Anspruch genommen und eine ganz wunderbare Geschichte um eine ganz besondere Form der Emanzipation gestrickt. Denn an diesem Tag ereignet sich in einem Pastoren-Arbeitszimmer auch ein Wunder – ganz anderer Art, versteht sich.
Der Ich-Erzähler, ein Junge im dumpf-drückenden Nachkriegsdeutschland, geplagt vom Pastoren-Elternhaus, persönlichen Maleschen á la Stottern und Hautkrankheit, notorischen Schul- und Sportversagens im Stile des Hochbegabten, eingesperrt im »Vaterkäfig« und leidend unter der Gefühlskälte des Großvaters, eines ehemaligen U-Boot-Kapitäns, konvertiert von »Kaisertum zu Christentum«, vor allem aber unter der Zuchtrute des »Foltergottes«, erlebt knapp zwei Stunden der Befreiung.
Früh um sieben wurde der Sonntag eingeläutet, fünfzehn lange Minuten war ich den Glocken ausgeliefert.
Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Der Sonntag beginnt übergriffig. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, begleitet den Ich-Erzähler täglich, sonntags jedoch ganz besonders. Dem »alles überragenden, allgegenwärtigen Auge Gottes« kann er nicht entkommen. Es ist eine hoffnungslose Lage, Glaube und Kirche des frömmelnden Konvertiten-Opas, des Pastoren-Vaters und der gutmütigen Mutter lassen ihn von Lebensmitteln träumen, die »nicht von Gottes Gnade vergiftet waren«.
Delius hält für seinen Leser jedoch eine Überraschung bereit. Anders als in vielen anderen Büchern mit ähnlichem Grundansatz geht es dem Ich-Erzähler im Dorf, also außerhalb des Elternhauses, durchaus gut. Er mag die Leute, die einfachen Bauern mit ihrem derb-freundlichen Humor, hat schöne Erlebnisse und Freunde.
Als Sohn und Enkel im eigenen Haus musste ich stottern und bangen, als Kind des Dorfes litt ich nicht.
Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Geradezu brillant wird der Kirchgang geschildert. Hier darf ich selbst einmal einmischen, denn das Gefühl zwischen den dicken Kirchenmauern dem Schauspiel des Gottesdienstes mit gedankenfliegendem Interesse und einer gewissen inneren Wärme zu folgen, ohne selbst auch nur im Entferntesten an einen Gott zu glauben, ist mir aus meiner eigenen Kindheit vertraut. Genauso die alberne Fremdheit der Erzählungen, mit denen man im Schul- und Konfirmandenunterricht behelligt wurden.
Diese Bibelgeschichten erscheinen als eine elende, billige, schwer erträgliche und vor allem sterbenslangweilige Ausgeburt von mythengeschwängerter Einfalt, denn »anders als in Märchen siegte das Gute sofort«. Der Ich-Erzähler durchschaut die Masche, die den Religionsunterricht in jeder Form zur Tortur macht, denn man kann sich tatsächlich »nicht in den biblischen Geschichten und Deutungen verlieren wie in einem Buch, sie waren nur der sprachkräftige Ausschmuck einer Vorschrift«.
[…] wenn er das belebende Glück des Lesenden fühlte: im Text eines anderen so viel Eigenes zu finden, sogar auf der Sportseite.
Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Es geht auch anders, selbst in einer Zeitung – im Grunde genommen ein vernichtendes Urteil über die Bibel und ihre textauslegenden Apologeten. In diesem Motiv fängt Delius jeden Leser, möchte ich jedenfalls behaupten, denn diese Erzählung bietet mit ziemlicher Sicherheit jedem eine Möglichkeit zur Identifikation. Dieser kleine Satz reicht weit über die konkrete Situation hinaus ins Allgemeingültige.
Der Ich-Erzähler pöbelt dabei nicht gegen den »Foltergott«, sondern stellt ihn bloß, seine frommen Eltern und den frömmelnden Großvater gleich mit. Er attestiert Gott eine »Quällust« und fußt dieses dramatische Urteil auf der Geschichte von Abraham, dem dumpf-gehorsamen Erfüllungsgehilfen göttlichen Willens, und seines Sohnes Isaak, der geopfert werden soll – ein blutiges Treue-Spektakel des angeblich gütigen Gottes.
An dieser Stelle bleibt der gedankliche Sprung neun Jahre von der Handlungszeit zurück nicht aus, als der blutigste Krieg der Menschheitsgeschichte endete, ausgetragen von Heerscharen treuer Erfüllungsgehilfen, die weite Teile Europa in Bloodlands verwandelten. Delius spart diesen Part keineswegs aus, lässt jedoch bei der Gelegenheit seinen bissigen Humor von der Leine.
In vielen guten Stuben nistete etwas Dunkles und Dumpfes, […] immer stand da ein gefallener Sohn oder Vater oder Bruder in einer peinlich gewordenen Uniform gerahmt auf einem Häkeldeckchen und schaute den Hinterbliebenen, Besuchern vorwurfsvoll auf den Streuselkuchen.
Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Und dann – endlich – rollt der Ball. Der Ich-Erzähler verfolgt das Endspiel vor dem Radio. Auch hier erhöht eigenes Erleben den Lesegenuss, denn wer einmal gegen Saisonende, als die Bayern der sterbenslangweiligen Dauermeisterschaft noch fern und letzte Spieltage hochspannend waren, die Konferenzschaltung im Radio verfolgen durfte, in andächtig stiller Gemeinschaft kaffeetrinkender Mitleidender, weiß um die Macht des Wortes ohne Bild.
Es ist ein Sog, der auch den Ich-Erzähler erfasst und mitten in das Spiel hineinzieht, mit ihm verschmelzen lässt. Das Geniale an Delius Erzählung ist die sprachlich-erzählerische Umsetzung, die bei einem im TV erlebten Spiel unmöglich wäre (bei einem Buch aber nicht). Originale Brocken, Sätze aus der Radio-Übertragung montiert der Autor mit dem Erleben des Hörers, seinen Assoziationen, Gedanken, Bildern, Hoffnungen, Ängsten usw.
Aus! Aus! Aus! – Aus! – Das Spiel ist aus! – Deutschland ist Weltmeister
Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Die Intensität ist ungeheuerlich, gerade weil man vor dem Radio nichts sieht, sondern die Gedanken unter dem Druck der Ereignisse ihre eigenen Bilder malen müssen.
Man erlebt hautnah mit, wie der Ich-Erzähler aus seiner Situation fortgetragen wird, hinaus aus dem Pfarrer-Arbeitszimmer, in dem die Bibel »schwarz wie ein Kindergrabstein« liegt und alles an den alltäglichen, unentrinnbaren Schrecken gemahnt, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Bis der Foltergott Konkurrenz bekommt, von einem Götzen, der – sprachlich, rhetorisch – Teufel(-skerl) und (Fußball-)Gott zugleich ist und die Tür weit aufreißt für den großen Schritt der Emanzipation.
Ich fand von Minute zu Minute mehr Gefallen daran, einen heimlichen Gott, einen Fußballgott neben dem Herrgott zu haben. […] In diesen Minuten rückte ich ab von der dreieinigen Besatzungsmacht Gott, Jesus und Heiliger Geist […]
Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Die Erzählung spielt mit den christlichen und von der Alltagswelt gnadenlos übertragenen Begriffen. Das Wunder von Bern ist eben auch eine ganz wundervolle Gotteslästerung, in diesem Fall für die Lossagung einer gequälten Seele von seinen Peinigern. Von wegen: nur ein Spiel. Wer in der Gegenwart lebt, kann auf so ein Wunder lange warten, der FIFA-Fußball hat sich nicht erst mit der Vergabe der WM an den Wüstenstaat ins Abseits verdribbelt.
Wer wissen will, wohin das führt, kann Die Göttliche Komödie von Dante, insbesondere den ersten Teil, Inferno, zu Rate ziehen – da findet sich bestimmt ein passendes Plätzchen.
Man kann aber auch Delius Erzählung lesen und den Gedanken freien Lauf lassen, Erinnern oder Erträumen, einen Götterfunken-Moment im Stadion, etwa auf der Südtribüne des Westfalenstadions, wenn ganz am Ende, jenseits aller Hoffnung, wie aus dem Nichts zwei Treffer erzielt werden – und man emporgeschleudert wird inmitten eines gewaltigen Bebens, ein einziger wogender, donnernder, tobender Rausch.
Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Erzählung
Taschenbuch 120 Seiten
rororo 9. Auflage 2011
ISBN 978 3 499 23659 4
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