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Schlagwort: Frauen

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Wegen der dürftigen Quellenlage ist die Beschäftigung mit dem Thema Wikinger gernerell schwierig, im Falle der Frauen dank der patriarchalischen Gesellschaft noch problematischer. Doch treten dem modernen Leser spektakuläre Frauen gegenüber, die ihre Handlungsspielräume genutzt haben.

Ist die Annahme übertrieben, dass fiktionale Werke, vor allem Filme und Serien, das Geschichtsbild stärker beeinflussen als es Schule oder Sachbücher jemals könnten? Im Falle der Wikinger war die Serie Vikings sicherlich prägend. Das merkt man nicht zuletzt daran, dass Sachbücher zu dem Thema darauf Bezug nehmen, um etwa richtigzustellen oder zu verdeutlichen. So fließen auch in Walküren von Johanna Katrin Friðriksdóttir Hinweise auf Vikings ein, aber auch auf Game of Thrones.

Insbesondere die Darstellung von Lagertha in Vikings hat für Aufsehen gesorgt. Allein die Frage, ob es Schildmaiden gab, bewegte die Öffentlichkeit. Frauen mit Schild und Schwert auf einem für die Wikinger so typischen Raub- und Kriegszug? Ist das reine Fiktion oder war das  Wirklichkeit? Die Filmfigur Lagertha schlüpft sogar in die Rolle eines Jarl, sie steigt zu einer selbstständigen Herrscherin auf. Die Frage nach historischen Frauen in diesen Rollen wird von Friðriksdóttir wird im Falle der Kriegerin mit einem zurückhaltenden »Nein« beantwortet.

Das mag enttäuschen, ein Empfinden, das jenen blüht, die mit überzogenen Erwartungen an die Lektüre von Walküren gehen. Tatsächlich legt die Autorin manche Überlieferung als Beleg protofeministischer Handlungs- und Sichtweisen aus, doch sucht man nach der starken, unabhängigen Wikingerfrau in der patriarchalischen Welt der Nordmänner vergeblich. Die Spielräume für Frauen waren sehr eng, aber es gab Ausnahmen. Gelegenheit schafft Möglichkeiten (und auch den Zwang) zur Verwirklichung eigener Ideen und Absichten.

Es gab zwar nur wenige unabhängige Siedlerinnen, aber die Quellen legen nahe, dass ihre Unabhängigkeit häufig eher den Umständen als einer subversiven Natur geschuldet war.

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Aus der Wikingerzeit dringt dröhnendes Schweigen zu uns. Die Quellenlage ist problematisch, von einer historischen »Wirklichkeit« zu sprechen, ist in diesem Fall besonders schwierig. Die Wikinger haben faktisch keine zeitgenössischen Schriften hinterlassen, die Forschung ist auf wortkarge Runensteine, Archäologie, Quellen von Reisenden & Opfern sowie Jahrhunderte später niedergeschriebenen Sagas angewiesen.

Friðriksdóttir widmet sich diesem Problem, ohne den Leser mit den fachtypisch oft spröden Abhandlungen zu quälen. Die größere Lesbarkeit verschleiert nicht den Vorbehalt, unter dem viele Aussagen zwangsläufig stehen müssen. Die Sagas können – wie viele andere mittelalterliche Quellen auch – nicht wörtlich genommen werden. Sie sind aber in manchen Gesichtspunkten Spiegel einer vielfältigen und natürlich auch widersprüchlichen Lebenswirklichkeit. Bestimmte (Alltags-)Muster zu identifizieren ist eine der Absichten von Walküren.

Aus den Sagas lassen sich mittelbar Erkenntnisse ableiten, insbesondere wenn diese sich durch archäologische Funde oder Informationen von Runensteinen stützen lassen. Eine der spannendsten Überlieferungen ist die über eine verwitwete Frau, die Straßen und Brücken »erbaut«, also aus ihrem Vermögen finanziert hat. Sie war keineswegs singulär, von dieser spektakulären Tätigkeit (und dem erstaunlichen Handlungsspielraum) erfährt die Nachwelt von einem Runenstein und aus Sagas.

Ein einzelnes Wort aus einer einzigen Handschrift aus dem 14. Jahrhundert kann jedoch nicht als hinreichender Beleg für die Teilnahme an Schlachten durch Frauen in der Wikingerzeit angesehen werden.

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Besonders gut hat mir die Entscheidung der Autorin gefallen, ihr Buch entlang des Lebenszyklus einer Frau in der Wikingerzeit zu strukturieren. In sechs Kapiteln werden die Lebensabschnitte von Säuglingsalter und der Kindheit bis zu Alter und Tod geschildert, eine ebenso einfache wie für dem Leser nahestehende Vorgehensweise. Friðriksdóttirs Ziel besteht darin, die (Handlungs-) Spielräume von Frauen in der Wikingerzeit auszuloten.

Den Anfang bildet eine tolle Einleitung über die titelgebenden „Walküren“ sowie die Göttin Freya. Mir war bis zu dem großartigen Buch Die wahre Geschichte der Wikinger von Neil Price unbekannt, dass es neben Odins Walhalla auch noch eine zweite Halle für gefallene Krieger gab: Freyas Sessrumnir. Das ist ein typischer Vorgang, dass der Referenzrahmen der historischen Forschung (Das Geschenk des Orest) zwangsläufig eine Vorauswahl trifft, was gesehen wird und was nicht.

Zumutungen inhaltlicher Art bleiben nicht aus. Wenn es etwa um das Thema Kindertötung geht, wird dem modernen Leser mulmig. Es liegt auf der Hand, dass die Verhältnisse des Aufwachsens vor mehr als eintausend Jahren dramatisch von denen in einer hochtechnisierten Welt verschieden waren. Die bisweilen brutale Fremdheit der Zeit trifft den Leser mit großer Wucht.

Es ist schlichtweg ausgeschlossen, ein Schwert zur Hand zu nehmen und damit auf Anhieb umgehen zu können.

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Und wie steht es nun mit Kriegerinnen? Fridriksdóttir behandelt das Thema vielschichtig und differenziert. Wenn es etwa um das berühmte und in der breiten Öffentlichkeit diskutierte Grab in Birka geht, das bis zu einer genetischen Untersuchung wegen der Grabbeigaben als „Kriegergrab“ ausgelegt wurde, wird deutlich, wie schwer eine Einschätzung fällt. Die Person in dem Grab war weiblichen Geschlechts. Der Kurzschluss, es handele sich damit um den Beweis für die Existenz einer „Kriegerin“, liegt durchaus nahe.

Die Autorin hegt diese Auslegung auf mehrfache Weise ein. Da wäre zum einen die verschwindend geringe Zahl an Gräbern, die Frauen mit der Beigabe von Schwertern (drei) und anderen Waffen (siebzehn) beinhalten. Die Interpretation der Grabbeigaben hat sich in jüngster Zeit so weit gewandelt, dass man nicht mehr einfach von der Beigabe auf die Persönlichkeit, Tätigkeit des Bestatteten und seine soziale Stellung schließen kann.

An anderer Stelle geschieht das in Walküren sehr wohl, was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt. Doch sind »Waagen, Textilwerkzeuge und Nähkästchen« sehr viel gewöhnlicher und verbreiteter als ein Schwert (eine seltene Waffe bei den Wikingern), zweitens ist Textilverarbeitung anderweitig hinlänglich bezeugt. Schwieriger wird es bei den mysteriösen Stäben in manchen Frauengräbern, aus denen geschlossen wird, dass es sich um ein »emblematisches Symbol ihrer Rolle und Autorität« als Seherin handelt. Sollte man also analog dazu doch von der Grabbeigabe Schwert auf eine Leben der Toten als Kriegerin schließen?

Moderne Welt- und Menschensichten fließen in die Überlegungen von Fridriksdóttir mit ein. Die klugen Rückschlüsse werden dabei zwangsläufig ein wenig unscharf. Auch wenn die Zeitgenossen nicht das Konzept der „Kriegerin“ kannten, kann man den Begriff heute verwenden, sonst wäre der Begriff Wikinger auch problematisch. Die Frage ist jedoch, nach was wird eigentlich gesucht? Es ist ein Unterschied, ob eine Frau in einer Notlage zur Waffe greift, an einem Raubzug oder einer Landnahme teilnimmt oder gesellschaftlich als „Kriegerin“ auftrat und akzeptiert wurde.

Unsere Kultur ist seit jeher geneigt, Stärke mit Körperkraft und der Fähigkeit zur Unterwerfung anderer zu assoziieren – zumindest in Kontexten wie der Wikingerzeit. Statt unser Verständnis entsprechend anzupassen und zu erweitern, schwärmen wir von Frauen, die „so stark wie Männer“ waren.

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren

Interessanter sind andere Gesichtspunkte, wie das ausführliche Zitat zeigt. Bernhard Jussen hat in seinem Buch Das Geschenk des Orest auf die Bedeutung des Referenzrahmens für die historische Forschung hingewiesen, die zum Beispiel für die Auswahl und Einordnung von historischen Quellen entscheidend sei. Wie das Zitat zeigt, gilt das auch für die Fragen, die an die Vergangenheit gerichtet werden, die darüber bestimmen, was gesucht wird. Wer nach „männlicher“ Stärke bei Frauen sucht, grenzt andere Formen der „Stärke“ aus.

Ganz praktisch wäre zu diskutieren, ob der Rückschluss vom eher zierlichen Körperbau der Toten im berühmten Grab von Birka den Gebrauch eines Schwertes in der Schlacht ausschließt oder nicht. Völlig zurecht verweist Friðriksdóttir darauf, dass man nicht einfach ein Schwert in die Hand nehmen und kämpfen kann – jedenfalls nicht im Sinne eines ausgebildeten Kämpfers.

Das gilt auch für das Schild und besonders für Kampftaktiken á la Schildwall. Die Ausbildung kostete Zeit, die Frauen nicht hatten. Sie hatten in der Welt der Wikinger allein durch ihre Fruchtbarkeit wesentlich schlechtere Voraussetzungen, eine Ausbildung zur Kriegerin zu durchlaufen. Allerdings sollten die Schildmaiden laut Sagas unverheiratet sein, was dem Argument etwas Durchschlagskraft entzieht.

Für die überwältigende Mehrzahl der Männer der damaligen Zeit galt auch, dass sie keine »Zeit« zur Kampfausbildung hatten. Diese Männer waren demnach auch keine Krieger in sozialer Hinsicht, was nicht heißt, dass sie nicht gekämpft haben. Zu allen Zeiten haben unausgebildete und schlecht bewaffnete Kämpfer auf den Schlachtfeldern gefochten. Kämpfen allein macht noch keinen Krieger oder Kriegerin im Sinne eines sozialen Status. 

Das ausführliche Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeiten, mit denen die historische Forschung beim Thema Frauen in der Welt der Wikinger zu kämpfen hat. Einfache Antworten verbieten sich, der Leser muss letztlich aushalten, dass viele Dinge ungeklärt und widersprüchlich bleiben. Das allein macht das Buch wertvoll, gerade in einer Gegenwart, die von Weltverschlichtern geradezu überrannt wird. Walküren zeigt aber auch spektakuläre Frauengestalten, etwa die im berühmten Oseberg-Schiffsgrab bestatteten Frauen, die ein geheimnisvoller Schleier der Ungewissheit um gibt.

[Rezensionsexemplar]

Johanna Katrin Friðriksdóttir: Walküren
Frauen in der Welt der Wikinger
Aus dem Englischen von Franka Reinhart und Viktoria Topalova
C.H.Beck 2024
Gebunden 306 Seiten
ISBN: 978-3-406-81754-0

Angela Steidele: Aufklärung

Ein Historischer Roman aus der Sicht einer Tochter Johann Sebastian Bachs, stimmungsvoll, atmosphärisch und in besten Sinne aufklärerisch. Cover Insel-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ein literarisches Gegenspiel, eine Gegenbiographie, die aufklärt darüber, wie es nach Ansicht des erzählenden Ichs tatsächlich gewesen ist. Das weicht erheblich von dem ab, was aus Männerfedern auf Papier geflossen ist und die Überlieferung geprägt hat. Doch geht die Autorin noch – mindestens – einen Schritt weiter und lässt ihre Erzählstimme keineswegs unangefochten berichten – sie wird immer wieder infrage gestellt, unterbrochen, korrigiert, während sie schreibt. Kleine Sätze der Rechtfertigung sind hier und da in Klammern eingeflochten.

Im besten Sinne der Aufklärung bleibt es also am Ende beim Leser, wem und was er Glauben schenken will. Aufklärung ist ein großer Lesespaß! Man muss sich ein wenig einlesen, in den Stil, den die Autorin Angela Steidele sanft koloriert hat und etwas zeithistorisch klingen lässt, was den Lesefluss befördert sowie lustig und einfach schön ist, ohne diese träge, staubige Schwere alter Grammatik.

Die Geschichte ist in der Ich-Form präsentiert, die Erzählerin ist Dorothea Bach, eine Tochter von Johann Sebastian Bach, von der nahezu nichts überliefert ist. Ein gefundenes Fressen für eine Autorin von einem Historischen Roman, denn diese Leerstellen wollen gefüllt werden – mit Fiktion. Steidele widmet sich dieser Aufgabe mit Hingabe, Leichtigkeit, Humor, bisweilen bissigem Sarkasmus und lässt eine ganz wundervolle Welt vor den Augen der Leser entstehen.

Sie ist voller Musik, Herzenswärme, Literatur, gelehrten Gesprächen, Spott, Neid, Eifersucht, Streit – aber auch berührt von den Unbilden der Zeit. Der Macht des Todes, der Krankheit, der Armut, die Verheerungen der Kriege Friedrichs II. und die Zudringlichkeiten einer unaufgeklärten Welt. Dabei gelingt es Steidele, den leichten Tonfall beizubehalten, hier wird nicht stiefeltrampelig einer Wahrheit Bahn gebrochen, der Leser wird geradezu aufgefordert, selbst zu denken.

Ganz besonders atmosphärisch sind die kleinen Anmerkungen unten auf der Seite, die auf die Werke Johann Sebastian Bachs verweisen, von denen in der Erzählung die Rede ist. Man kann sie problemlos anhören und mit dem vergleichen, was die Erzählstimme und andere Zeitgenossen zu sagen haben. Aber auch Literatur ist aufgeführt, Dramen, Theaterstücke, Romane, Sachbücher aller Art, in die ohne große Schwierigkeiten ein Blick geworfen werden kann, denn diese zeitgenössische Literatur steht im Internet zumeist zur Verfügung.

Apropos Internet. Anlässlich einer Lesung beim Göttinger Literaturherbst hat Angela Steidele neben vielen anderen sehr aufschlussreichen Bemerkungen auch gesagt, sie habe heimlich etwas über die Gegenwart erzählen wollen. Das wollen – gute – Historische Romane ja oft. Und so darf man sich fragen, ob Lautentius Gugl nur zufällig diesen Namen trägt oder die Zwitscherblättchen, die – weil gedruckt – anonym über andere Zeitgenossen herziehen, vielleicht auf eine moderne Kommunikationserscheinung anspielen.

Angela Steidele macht sich zudem ein großes Vergnügen daraus, große Männer von ihren Sockeln zu holen. Gotthold Ephraim Lessing etwa kommt nicht gerade gut weg, Friedrich II., der so genannte „Große“, verdiente sich ganz andere Beinamen. 

Rousseau? „Ein armes Irrlicht aus Genf, der sich mit allen verkracht“, lässt sie den Leser aus dem Munde Luise Gottscheds wissen, verbunden mit einem didaktischen Hinweis für die Gegenwart: „Weil sich jeder über ihn aufregt, erhält er so viel Resonanz. Da müssen wir seine absurden Ansichten nicht auch noch ventilieren.“  Don´t feed the troll, würde man heute sagen.

Das Ende ist ganz fabelhaft gelungen. Vier Zeilen eines Gedichtes machen noch einmal deutlich, worum es in dem Roman Aufklärung eigentlich geht: Jene ins richtige Licht rücken, die bislang im Schatten standen, dorthin das Licht leuchten lassen, wo Dunkelheit, (Ver-)Schweigen und Vergessen bis heute Vieles verborgen hat, was ans Licht gehört.

Mit großem Vergnügen verweise ich auf eine ebenso vorzügliche wie ausführliche Buchvorstellung von Marius Müller, der durch seinen sehr anregenden Text verantwortlich dafür ist, dass ich diesen wunderbaren Roman gelesen habe.

Angela Steidele: Aufklärung
Insel Verlag 2022
Gebunden 602 Seiten
ISBN: 978-3-458-64340-1

Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum

Hedy Lamarr, geborene Kiesler, ist eine faszinierende Person, deren Spuren die amerikanische Schiftstellerin in ihrem Roman folgt. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.

Hedy Lamarr ist eine faszinierende Persönlichkeit. Schönheit und hohe Intelligenz, ein bewegtes Leben voller Brüche, Rückschläge und Erfolge, umflort von Tragik – es gibt eine Reihe von Gründen, sie aus dem Schatten treten zu lassen. Vor Jahren habe ich einmal eine Dokumentation gesehen, die den sehr treffenden Titel »Geniale Göttin« trug; entsprechend gespannt war ich darauf, wie die Schriftstellerin Marie Benedict versucht, sich ihr zu nähern.

Der Roman Die einzige Frau im Raum stellte die solitäre Erscheinung Hedy Kieslers, wie die Protagonisten bürgerlich hieß, schön heraus. Als die Handlung einsetzt, ist Hedy Schauspielerin und verkörpert auf der Bühne Elisabeth von Österreich, Sissy. Sie hat bereits einen skandalumwitterten Film (»Ekstase«) gedreht, die Nacktszenen darin werden für Hedy zu einem Problem.

Zunächst erzählt der Roman, wie die schöne, kluge und selbstbewusste Hedy in die Ehe mit einem mächtigen Verehrer hineingerät, der sie mit Übermaß umwirbt und den Eindruck erweckt, er würde sie als Person, ihre Eigenständigkeit respektieren. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich herausstellt, denn die Ehe erweist sich als Falle.

Etwas bemüht wirkt, dass die Heirat auch eine Art Schutzschild gegen mögliche Repressalien sein soll, vor denen sich Hedys Familie wegen ihrer jüdischen Herkunft fürchtet. Das ist durchaus schade, denn gerade die historisch-politischen Hintergründe, mit denen das Leben der Protagonistin wegen der rührigen Tätigkeiten ihres Mannes (Waffenhändler, Mussolini-Vertrauter) verwoben ist, sind sehr interessant.

Richtig in Fahrt kommt Die einzige Frau im Raum, als Hedy in den USA ankommt und ihre Karriere als Schauspielerin fortsetzt. Die Erfahrungen, die sie macht, wirken einerseits wie ein anachronistisches Echo auf MeToo, andererseits entlarven sie die völlige Missachtung von Frauen ihres Formats außerhalb ihres Erscheinungsbildes. Das vorletzte Kapitel lässt wohl jeden Leser mit einer gewissen Fassungslosigkeit zurück.

Kritisch ist allerdings die Wahl der Perspektive, denn trotz der Ich-Erzählhaltung bleibt das Buch recht distanziert. Dagegen ist grundsätzlich überhaupt nichts einzuwenden, wenn eine passende Erzählform gewählt wird; so entsteht gerade im ersten Teil manchmal Eindruck einer formel- und phrasenhaften Oberflächlichkeit. Es ist eine Sache, die Hauptperson von sich behaupten zu lassen, sie wäre stark, eigenständig und klug, eine ganz andere, es zu zeigen – wie es im zweiten Teil auch geschieht.

Trotz dieses Mankos ist Die einzige Frau im Raum lesenswert, wann hat schon eine Film-Diva eine Hochleistungs-Waffentechnologie entwickelt und gleichzeitig die bornierte Engstirnigkeit einer von Männern dominierten Welt entlarvt?

[Rezensionsexemplar]

Marie Benedict: Die einzige Frau im Raum
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
KiWi-Paperback 2023
Paperback 304 Seiten
ISBN: 978-3-462-00492-2

James Baldwin: Von dieser Welt

Der Roman eines »wiederentdeckten« Autors hat mich in die befremdliche Welt ostentativen Glaubens geführt. Er thematisiert abe rauch den endlosen Rassismus in den USA. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Mit diesem Roman aus der Feder des jüngst wieder »entdeckten« Autors James Baldwin reist der Leser in das Harlem der 1930er Jahre. Die Hauptfigur, ein kluger, unsicherer Heranwachsender namens John, lebt im Schatten seines sich überaus fromm gebenden, gewalttätigen und die Familie beherrschenden Vaters, mit dem er sich in einem dauerhaften Konflikt befindet.

Baldwins Sprache und Fabulierkunst sind beeindruckend, auch in der deutschen Übersetzung. Bemerkenswert und oft beklemmend sind die Passagen über die Kirche und die ostentativ zu Schau getragene Frömmigkeit, die wie ein zu eng geschnürtes Korsett im Leben der Gläubigen wirkt. Ein menschliches Schwein bleibt auch dann ein Schwein, auch wenn es inbrünstig den Herrn anruft.

Nach einer Bluttat versammeln sich die Familienmitglieder zum Gottesdienst. Baldwin widmet einigen von ihnen einen langen, persönlichen Abschnitt, den er mit »Gebet« überschreibt, Gedanken voller Erinnerungen und Assoziationen. Ihr Weg, den sie zu diesem Moment zurückgelegt haben, wird erzählt. Jeder hat seine Geschichte, die erklärt, woraus die haarsträubenden (Miss-)Handlungen der Mitmenschen, oft begangen im Namen des »Herrn«, herrühren. 

Natürlich spielt auch die Hautfarbe eine Rolle, Rassismus, wie er bis in die Gegenwart nicht wesentlich besser geworden ist, schlägt den Schwarzen entgegen, was wiederum in psychischer und physischer Gewalt gegenüber den eigenen Leuten münden kann. Ein wenig hat mich Von dieser Welt das an Die Farbe Lila erinnert, jene saufenden, hurenden Tunichtgute, die den Druck der weißen Gesellschaft an ihre Frauen und Kinder weitergaben.

Ein lesenswerter Roman, der zum Glück nichts verschweigt, eben auch nicht, wenn die Schwarzen einander als »Nigger« bezeichnen, verhöhnend, verspottend oder einfach nur achtlos hingeworfen. Manche Abschnitte, in denen Baldwin wortmächtig die religiöse Verzückung seiner Protagonisten nachzeichnet, empfand ich schwer erträglich, denn mein beherrschender Gedanke war, dass auf diese Weise fanatische Gotteskrieger geboren werden.

James Baldwin: Von dieser Welt
aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
dtv 2018
Taschenbuch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-43413-3

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Ein vielschichtiger Roman, der das MeToo-Thema mit anderen sozialen und politischen Themen gekonnt verknüpft, vor allem dem der Migration. Cover S.Fischer, Bild mit Canva erstellt.

Der Autorin Antje Rávik Strubel ist mit ihrem Roman Blaue Frau das Kunststück geglückt, ein individuelles Schicksal mit dem komplexen Netz zu verweben, das die Lebenswege in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts bestimmt. Das macht den preisgekrönten Text zu einem Glücksfall, denn Strubel hätte auch den viel leichteren Weg gehen und sich auf eine einzelne Erzähl-Linie beschränken können. Das hätte Blaue Frau allerdings um einen erheblichen Teil ihres  Wertes beraubt.

Wie an den vielen kritischen, ja wütenden Reaktionen auf den Roman zu sehen, wurden die Erwartungen von Teilen des Lesepublikums verfehlt. Ich spreche hier nicht von den Troll-Horden, die pöbelnd über Blaue Frau herfallen und aus unterschiedlichen Gründen darauf einprügeln. Es geht um jene, die das Buch auf der Suche nach eng begrenzten Motiven gelesen haben: starke Frau, MeToo-Anklage oder (justiziale) Rache.

1968 trugen Demonstranten in Frankfurt und Paris stolz jene Köpfe auf Transparenten durch die Straßen, die dafür verantwortlich waren, dass in Prag auf Demonstranten geschossen wurde.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Diese Dinge finden sich in dem Roman, allerdings eingebettet und verstrickt mit politischen, historischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Aspekten. Nicht wenigen erscheint das offensichtlich als abschweifend, ihre herbeigewünschte Hauptsache von Nebensächlichkeiten erstickt. Dabei gibt es in diesem Buch keine Nebensächlichkeiten, alles hängt miteinander zusammen und beeinflusst sich gegenseitig.

Die Alternative wäre ein eindimensionaler Hollywood-Helden-Schwank gewesen, der die Hauptfigur Adina oder vielleicht Kristiina, die tapfere Aktivistin und Parlamentsabgeordnete, eine Art Rachefeldzug zu einem erfolgreichen Ende führen lässt. Zum Glück ist Strubel dieser Versuchung nicht erlegen, sondern den schwereren Weg gegangen, ihre Personen mit Schwächen, Widersprüchen und Schattenseiten auszustatten. Ihre Hauptfigur ist in vielerlei Hinsicht sperrig. Und das ist auch gut so.

Wir haben zwei Realitäten innerhalb der EU, die auf gegensätzlichen Erinnerungsregimen beruhen.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Adina kämpft nach dem traumatischen Erlebnis eines sexuellen Übergriffs und der abermaligen Begegnung mit ihrem Peiniger mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit. Und doch will sie nicht aussagen vor Gericht, sich nicht auf das Spiel einlassen, das mit der Öffentlichkeit gespielt werden könnte, um dem Übeltäter zu schaden.

Auf  den ersten Blick könnte man annehmen, sie wolle sich nicht helfen lassen, auf den zweiten stellt sich die Frage, ob sie sich nicht einspannen lassen will in die Denk- und Handlungsweise ihrer Helfer, der dritte richtet das Augenmerk auf strukturelle Faktoren, die einen Gang vor Gericht problematisch, wenn nicht sinnlos machen.

Die Autorin geht dabei äußerst geschickt vor. Die Frage, wem das Helfen hilft, wird in anderem Zusammenhang früh im Buch aufgeworfen. Leonides, Vorkämpfer für Menschenrechte, meint, dass eine Gabe immer auch für den Gebenden hilfreich sei. Später wird dieser Zusammenhang immer wieder angedeutet, diejenigen, die sich für Adina einsetzen, tun dies immer auch in eigenem Interesse.

Das wiederum ist ihrem Weltbild, ihren Erfahrungen, ihren Zielen und den Mitteln geschuldet, die sie anwenden, um sie zu erreichen. Und es heißt nicht, dass es schlecht oder unlauter wäre. Derart differenziert und vielschichtig ist „Blaue Frau“.

Die Frage ist, welche Hände Leonides gewaschen hat, ob er zur Verteidigung der Menschenrechte die Hände derjenigen waschen muss, die diese Rechte verletzen. Auch wenn es sich um eines der elementarsten Rechte handelt, das Recht, über den eigenen Körper selbst zu bestimmen.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Adina könnte auf diese Weise selbst zu einem Mittel werden, mit dem ein Zweck erreicht werden soll, verweigert sich aber. Sie ist keineswegs passiv, sondern tritt trotz ihrer prekären Lage mit Gesten der Stärke auf. Am Ende greift zu einem eigenen, sehr persönlichen Mittel, das im Verlauf des Romans motivisch wunderbar vorbereitet und auf das Finale hingeleitet worden ist.

Auch für Helfer ist das Helfen nicht einfach, weil diejenigen, denen sie helfen wollen, sehr eigene, widersprüchliche Vorstellungen haben. Das kann für den Leser unangenehm sein, wenn er aus seinen bequemen Selbstverständlichkeiten gescheucht wird. Vor allem aber wird klar, wie wenig sich für Opfer sexualisierter Gewalt innerhalb des bestehenden Justizsystems die eigenen Rechte durchsetzen lassen. Ein Sieg vor Gericht würde den Roman zu einer romantisierenden Farce degradieren.

Dabei habe ich mehr und mehr verstanden, wie wenig Fälle überhaupt angezeigt werden, und das liegt daran, dass so wenig verurteilt werden. Aber auch, was es für eine Hürde für eine Frau ist, der so etwas passiert ist, vor Gericht auszusagen.

Antje Ravik Strubel im Interview

Zu den Stärken des Romans gehört seine Struktur. Adinas Weg wird in vielen Erzählschleifen und Rückblenden erzählt, er ist verschlungen und gewunden, die zahlreichen zeitlichen Sprünge machen die Lektüre für meinen Geschmack richtig interessant und lohnenswert, denn so können Aspekte einander gegenübergestellt oder miteinander verknüpft werden, die zeitlich oder geographisch bei einer rein linearen Erzählweise getrennt bleiben müssten.

Aus den Lesermeinungen ist deutlich abzulesen, dass das von vielen als zu komplex empfunden wird. Wie sonst ist es zu erklären, dass wesentliche inhaltliche Teile, politische-historische Aspekte wie die bleierne Besetzung Osteuropas durch die Sowjetunion oder die Ignoranz des Westens gegenüber den Verbrechen gegen die Bevölkerung als Nebensächlichkeiten wahrgenommen werden?

Es geht ums Gehörtwerden, Sichtbarmachen von Schicksalen, die allzu schnell abgetan werden mit Worten wie Wirtschaftsmigranten. Zu diesem Bedürfnis gesellt sich jenes, zur Gesellschaft dazuzugehören und respektiert zu werden. Denn Blaue Frau ist auch eine Migrationsgeschichte, mit weit in die Vergangenheit reichenden Wurzeln.

Und wenn ihr die jungen Frauen mit Schirmkappen auf Deutsch antworteten und nicht auf Englisch, nahm ihr das Glück fast die Luft. Sie merkten nicht, dass Adina keine Einheimische war. Für sie gehörte Adina dazu.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Wer den Klappentext des Romans selektiv gelesen, sich nur von Schlüsselworten wie „unsichtbar gemacht“ oder „aufwühlend“ angesprochen gefühlt oder Blaue Frau als lautes MeToo – Pamphlet gekauft hat, dürfte enttäuscht und vielleicht auch überfordert gewesen sein. Es ist auch nicht angenehm zu lesen, dass Gerichte nicht für Gerechtigkeit existieren, außer in amerikanischen Filmen, mit ihren heroischen Schlachten unter dem Schwert der Justizia. Aber nicht zuletzt das macht den Wert von Blaue Frau aus.

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
S.Fischer Verlag 2021
TB 432 Seiten
ISBN: 978-3-10-397101-9

© 2025 Alexander Preuße

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