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Schlagwort: Freikorps

Volker Kutscher: Marlow

Ein großartiger Kriminalroman vor einer bedrückenden historischen Kulisse ist Volker Kutscher mit »Marlow« gelungen, dem siebten Fall von Gereon Rath. Cover Piper, Bild mit Canva erstellt.

Den Lesern der Romanreihe um den Kriminalkommissar Gereon Rath ist der Name Marlow natürlich bekannt. Dr. M, Unterweltboss in Berlin, undurchsichtig, durchtrieben, gnaden- und gewissenlos agierend, wobei er sich korrupter Polizisten bedient, um seine Ziele zu erreichen. Eines seiner besonderen Kennzeichen ist jener Chinese, der ihm als Chauffeur dient.

Wenn der siebte Teil der Reihe nun den Namen des Gangsters als Titel trägt, weckt das einige Erwartungen. Aus dem Vorgängerband klingt noch das Echo der Ereignisse nach, die Rath an und über seine Grenzen gebracht haben, ein erbarmungsloses und brutales Machtspiel hat ihn in die Enge getrieben, aus der er nur mit Mühe herausgekommen ist.

Rath hat beruflich und privat Federn gelassen und feststellen müssen, dass seine Beziehungen zur Unterwelt mindestens ebenso problematisch sind wie die neuen Spielregeln unter dem Hitler-Regime. Andere kommen mit den politischen Umwälzungen unter den Nazis besser zurecht. Johann Marlow beispielsweise scheint tatsächlich noch nicht aus dem Spiel zu sein.

Ist er auch nicht, so viel darf an dieser Stelle wohl verraten werden. Um den Namen „Marlow“ hat Kutscher eine wirklich schöne Geschichte gesponnen, die zurückreicht in den Ersten Weltkrieg und die koloniale Zeit davor, als Deutschland in Afrika, dem Pazifik und eben auch China koloniale Gebiete besaß. Der Chinese in Marlows Fahrdienst ist nicht vom Himmel gefallen, das „Doktor“ vor dem »M« auch nicht.

Bei den Sanitätern kennt man den Tod nur als den der anderen.

Volker Kutscher: Marlow

Jeder habe seine Geschichte, heißt es immer, wenn es darum geht, eine Erklärung für Verhaltensweisen von Menschen zu finden. Das gilt auch für Romanfiguren wie Marlow, dessen Härte auf Zeiten zurückgeht, die im historischen Bewusstsein der Gegenwart gar keine Rolle mehr spielen. Wer weiß denn noch, wie deutsche Freikorps im Baltikum nach 1918 wüteten?

Es gehört zu den wunderbaren Eigenschaften der Romane um Gereon Rath, dass der Leser immer wieder mit diesen halb vergessenen historischen Umständen konfrontiert wird, ohne dass der Kriminalroman zu einer drögen Geschichtsstunde ausartet. Marlow erzählt davon, wie jemand in der Schmiede aus Krieg, Landsknechtdasein, grausamer Disziplin und emotionaler Kälte zu einem brutalen Ganoven wird.

Aus den vielschichtigen Spiel und Gegenspiel des Vorgängerbandes Lunapark ist die Hauptfigur Rath nicht unbeschadet hervorgegangen, das gilt auch für seine Frau Charlotte und in gewisser Hinsicht auch für ihren Pflegesohn Friedrich. Erfreulicherweise ist es Kutscher gelungen, das fortzuschreiben.

Ein subalterner Kollege blafft Rath ungewohnt offen wegen seiner Art an, seine Sekretärin sagt ihm daraufhin die Meinung, was bislang vor allem seine eigene Frau getan hat. Das setzt sich in Marlow auch fort, allerdings nimmt die Schärfe zu. Deutschland ist ein Unrechtsstaat, gelenkt von Verbrechern, viele suchen das Weite, andere beginnen, die Möglichkeit zu erwägen, um der sich ausbreitenden Dunkelheit zu entfliehen.

Einer musste es Ihnen ja mal sagen.

Volker Kutscher: Marlow

Rath wird am Anfang der Erzählung zu einem Verkehrsunfall gerufen, eigentlich ein Fall für weniger qualifiziertes Polizeipersonal, doch ein Unfallzeuge behauptet, es habe ein Mordversuch auf ihn stattgefunden. Zur Klärung wird der in Ungnade gefallene Kommissar Rath ausgewählt, eine undankbare Aufgabe.

Dank leichtfertiger Neugier unterläuft ihm jedoch ein Lapsus, denn der angebliche Unfall war keiner, wie der Leser schon im Prolog erfährt, aber auch nicht der vom übereifrigen Zeugen vermutete Mordanschlag, sondern eine gezielte Tötung. Ein Zufallsfund brisanter Dokumente im schrottreifen Auto bringt Rath in eine unschöne Lage, die er zunächst einmal mit einem Trick bereinigen kann.

Ein Irrtum, wie sich zeigt, denn der Kommissar wird immer tiefer in eine lebensgefährliche Auseinandersetzung zwischen Himmlers SS / SD und Göring verwickelt. Bei der Ausschaltung der SA zogen die Kontrahenten noch an einem Strang, doch im NS-Deutschland kämpfen die Ränge hinter Hitler um die Macht, ein Konflikt der neuen Eliten, der ohne jede Gnade mit größter Rücksichtslosigkeit geführt wird.

Die erste Ahnung, etwas falsch gemacht zu haben, überkam ihn, als er den Aufdruck »Geheime Reichssache« auf den beiden Aktenmappen las, die er aus dem braunen Umschlag zog.

Volker Kutscher: Marlow

Rath versucht auch hier lange Zeit, sich durchzulavieren, was jedoch schwieriger wird, weil die Skrupellosigkeit seiner Gegenspieler die Spielräume schrumpfen lässt. Nolens volens muss er  nach Nürnberg fahren, der Stadt der Reichsparteitage und pompösen Aufmärsche, um eine haarsträubende Wiederbeschaffung der Akten durchzuführen, notdürftig getarnt vom Besuch seines Sohnes Friedrich, der mit der Hitlerjugend dorthin marschiert ist.

Dabei macht Rath eine erschütternde Erfahrung, als er Zeuge wird, wie Hitler im Auto an Spalier stehenden Volksmassen vorüberfährt und alles in ekstatischen Jubel ausbricht – der eigentlich unpolitische Kommissar wird davon mitgerissen. Eine gespenstische Szene, die so gut gelungen ist, dass der Leser den gewaltigen Sog zu spüren glaubt, dem sich der Protagonist nicht entziehen kann.

Er reißt wie alle anderen den Arm in die Höhe, immer wieder, »und dann hörte er, wie das Wort »Heil!« aus seinem Mund kam.« Rath versteht die Welt und vor allem sich selbst nicht mehr. Niemand hat ihn dazu gezwungen, den blutigen Gruß zu entbieten, niemand auf ihn geachtet, denn der vorüberfahrende Hitler hat alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie ein Schwarzes Loch im Weltall alles Licht. Trotzdem hat Rath sich hinreißen lassen.

Er, Gereon Rath, der in Berlin den Deutschen Gruß verweigerte und verschlampte, wo immer das nur möglich war, stand hier in Nürnberg am Straßenrand und riss getragen von der Masse und ihrem Rhythmus in einem fort den rechten Arm hoch.

Volker Kutscher: Marlow

Der NS-Staat etabliert sich, durchdringt auf propagandistische oder gewaltsame Weise den Alltag der Deutschen, die sich ihm immer schwerer entziehen können. Das ist möglicherweise die eigentliche Geschichte, die Kutscher en passant erzählt. Dabei sind die Ereignisse schwerwiegende genug, denn auch Charlotte Rath ist als Privatermittlerin und Anwaltsgehilfin mit Fällen befasst, die von der dunklen Zeit bestimmt werden.

Vor allem aber holt Charly die eigene Vergangenheit ein, denn die ist mittelbar mit dem Fall Raths eng verwoben, aber auch mit dem, was der ehemalige Oberkommissar und jetzige Privatermittler Böhm mit sich herumträgt – die „Kellergeister“, Fälle, die Polizisten nicht wieder loslassen wollen. Alles verstrickt sich immer weiter ineinander, dank der Umstände und schrumpfenden Spielräume ist eine „Lösung“ ferner denn je.

Auch Gereon Rath hat seine Kellergeister – einer davon ist Johann Marlow, der ihn seit vielen Jahren als nützlichen Polizisten schmiert und für seine Zwecke ausnutzt; davon hat auch Rath etwas, oft war ihm der Kontakt in die Unterwelt hilfreich. Die Nazis haben eigentlich dem Verbrechen den Kampf angesagt, doch kann ein Verbrecherregime, das seine Gegner in Mafia-Manier liquidiert, ernsthaft dieses Ziel verfolgen?

Was Rath da in seinen Händen hielt, war eine akkurat auf den Bügel gehängte SS-Uniform.

Volker Kutscher: Marlow

Das ist die übergeordnete Frage, die sich bei der Lektüre immer wieder stellt. Kann man überhaupt »anständig« bleiben in einem verbrecherischen System? Kann man sich darauf zurückziehen, nur Polizist zu sein, kein Nazi? Rath hat in Nürberg eine erschütternde Antwort bekommen, aber auch Böhm, Gennert und Charlotte müssten sich diese Frage stellen. Geben sie sich nicht einer Illusion hin?

Johann Marlow jedenfalls hat einen sehr konsequenten Weg beschritten, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. Kurioserweise war er bereits außer Landes, doch hat er in den USA nicht reüssieren können und ist zurückgekehrt. Auf seine Weise profitiert er vom Unrechtsstaat, gewissen- und skrupellos, wie er ist. Dabei gerät er mit Gereon Rath aneinander, eine Zweckgemeinschaft zerbricht und es wird für den Protagonisten höchst bedrohlich.

Da noch drei weitere Romane folgen, ist es keine Überraschung, dass Rath am Ende davonkommt. Mit heiler Haut? Wohl kaum. Kutscher inszeniert das Finale von Marlow mit einem tollen erzählerischen Kniff, der diebische Freude aufkommen lässt, bis ganz am Ende das böse Erwachen folgt. Eigentlich möchte man nichts mehr, als sofort in den nächsten Band einzutauchen – doch das ist schon der drittletzte und der letzte lässt wohl noch auf sich warten. Also: Geduld.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Lunapark.
Volker Kutscher: Olympia.
Volker Kutscher: Transatlantik.

Volker Kutscher: Marlow
Piper Verlag 2018
Gebunden 518 Seiten
978-3492055949

Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923

Der Putschversuch Adolf Hitlers am 08. / 09. November 1923 bildete den nach außen sichtbaren Teil einer umfassenden Rechtsverschwörung gegen die Republik. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Manchmal lassen sich die Dinge auf einen einfachen Nenner bringen. »Der Hitler-Putsch war keineswegs nur Hitlers Putsch.« Nach der Lektüre dieses wunderbaren Buches kann man dem nur nachdrücklich zustimmen. Wolfgang Niess legt in seinem spannenden und auch für Laien gut lesbaren Buch Der Hitlerputsch 1923 dar, was für eine umfangreiche, rechte Verschwörung die strauchelnden Republik von Weimar im vierten Jahr ihrer Existenz bedrohte.

Schule und Studium haben bei mir einen etwas anderen Eindruck hinterlassen. Kapp-Lüttwitz-Putsch und Hitler-Putsch sind für mich über lange Jahre eher Randerscheinungen gewesen, die man getrost vernachlässigen konnte. Mehr oder weniger dilettantische Versuche, die noch junge Demokratie auf rabiate Weise in eine Diktatur zu verwandeln. Auch der Mord an Persönlichkeiten wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau gehörten eher in die Rubrik folgenloses Aufbegehren Ewiggestriger.

Ein Irrtum.

Schon 1922 hatte sich eine umfangreiche Verschwörung formiert, die keineswegs aus einer kleinen Schar rückwärtsgewandter Allmachtsträumer bestand. Allein die Organisation Consul bzw. Wiking des Putschisten Herrmann Ehrhardt hätte zehntausende Kämpfer mobilisieren können, hinzu kamen die Alldeutschen, der Bund der Frontsoldaten und der Stahlhelm. In Bayern gab es einen ganzen Strauß an Wehrverbänden, national, monarchistisch, völkisch, nationalistisch und eben auch Hitlers Kampfverbände.

Den Überblick zu behalten, ist nicht einfach, allein wegen der vielfachen Umbenennung, Zusammenlegungen, Trennungen. Natürlich spielten Kriegsveteranen eine zentrale Rolle in allen diesen Verbänden, ebenso die zahllosen Freikorps, die nach dem Krieg eine halbreguläre Parallelarmee neben der Reichswehr bildeten. In den Kämpfen nach innen gegen tatsächliche und erfundene kommunistische Gegner, aber auch nach außen gegen die Rote Armee, Polen usw.

Von Hitler war im Oktober 1923 wenig zu hören. In dieser Zeit wurde das Spiel von anderen bestimmt.

Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923

Hitler hat in diesem rechten, antidemokratischen und gewalttägigen Mahlstrom keineswegs die erste Geige gespielt, auch wenn die Nationalsozialisten nach 1933 eifrig an diesem Bild arbeiteten, während die hauptsächlichen Verschwörerkreise und ihre Unterstützer in den Institutionen und der Gesellschaft nach 1923 versuchten, die eigene Verantwortung loszuwerden, indem sie diese auf Hitler abwältzten und sich wegduckten.

Es gehört zu den großen Vorzügen des Buches, die gewaltige Masse des Umsturzeisberges, von dem Hitler bestenfalls die Spitze war, aufzuzeigen. »Auf nach Berlin!« war im Herbst 1923 keineswegs nur Hitlers Motto, es gab weitreichende Pläne, Auf- und Durchmarschabsichten, um »Mussolinis Marsch auf Rom« im Reich nachzuahmen.

Die Hetze gegen die demokratisch gewählte Regierung in Berlin, die mit der explodierenden Inflation und der Ruhrbesetzung zu kämpfen hatte und über Monate an einem Abgrund entlangtänzelte, war ungeheuerlich. Ausgerechnet jemanden wie Reichskanzler Stresemann als Teil einer »sozialistischen Judenregierung von Landesverrätern« zu diffamieren, ist infamer Hohn, allein dazu gedacht, brutalste Gewaltmaßnahmen zu rechtfertigen.

»Auf nach Berlin!«

Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923

In diesen Aspekten unterschieden sich die Verschwörer kaum, eher in der Frage, wie und unter welchen Bedingungen man den »Marsch auf Berlin!« wagen sollte. Hitler war in diesem Punkt der Ungestüme, der Spieler, der auch mit mäßigen Karten bei hohem Einsatz mitgehen wollte; aber nicht in allen Punkten dilettantisch vorging. Niess stellt einen interessanten Zusammenhang her.

Am 01. Mai 1923 erlitt Hitler schon einmal Schiffbruch mit dem Versuch, sich gegen die Landespolizei und Reichswehr zu stellen. Niess meint, dass er aus dieser Niederlage gelernt und bei seinem Putsch-Versuch im November darauf gesetzt habe, mit von Kahr (Staatskommissar), Gessler (Polizei) und von Lossow (VII. Reichswehrdivision) die für Gelingen oder Scheitern eines Umsturzes entscheidenden Institutionen hinter sich zu bringen.

Hitler wusste wohl genau, dass er gegen die Exekutivkräfte des Reichs chancenlos war, also versuchte er mit einem Manöver aus Gewaltandrohung, Überredung und euphorisierender Propagandarede im Bürgerbräukeller gegenüber den Verantwortlichen die Voraussetzungen für den Erfolg eines Marsches auf Berlin zu schaffen. Der improvisierte Marsch am 09. November diente primär Propagandazwecken und mündete gleichwohl in einem blutigen Fiasko, der Hitler beinahe das Leben gekostet hätte.

Halb Bayern wollte im November 1923, dass der Marsch nach Berlin angetreten wird. Das Schicksal der Republik hing tatsächlich an einem seidenen Faden.

Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923

Es ist in gewisser Hinsicht faszinierend, wie die rivalisierenden Kräfte um den richtigen Weg miteinander rangen, zu denen auch Reichswehrchef Seeckt und sein Streben nach einer nationalen Diktatur gehörten. In dieser für das Reich dramatischen Situation, in der kurioserweise die Inflation gerade erfolgreich überwunden wurde, wird der Leser von den sich überstürzenden Ereignissen regelrecht mitgerissen.

Der Hitlerputsch 1923 – Geschichte eines Hochverrats geht auch ausführlich auf die ungeheuerlichen Ereignisse nach dem Putsch ein. Die groteske Veranstaltung des Hitlerprozesses endete nicht etwa mit der Todesstrafe oder wenigstens der Ausweisung des hochverräterischen Österreichers (!), sondern mit einer Verurteilung zu milder Festungshaft. Die alles verschleiernde »Aufarbeitung«, die helfenden Hände für den Jahre in der Versenkung verschwindenden Hitler und sein Comeback nach 1928 erlebt der Leser mit einem Schaudern.

Ein kleines Fragezeichen habe ich hinter eine Sache gesetzt: Niess meint, Hitler hätte vor dem Leipziger Staatsgerichtshof statt vor einem bayerischen Gericht abgeurteilt werden müssen, was nach Meinung des Autors zu einer angemesseneren Verhandlung geführt hätte. Angesichts der grotesken Prozesse gegen die Mörder Rathenaus, die in Leipzig verhandelt wurden, darf das bezweifelt werden.

Dieser kleine Einwand mindert den rundum positiven Eindruck des Buches keineswegs. Wolfgang Niess Buch über den Hitlerputsch 1923 ist sehr spannend, informativ und bestens geeignet, sich einhundert Jahre danach an die Republik am Abgrund zu erinnern, in dem sie knapp zehn Jahre später versank.

[Rezensionsexemplar]

Wolfgang Niess:Der Hitlerputsch 1923
C.H.Beck 2023
Gebunden 350 Seiten
mit 30 Abbildungen
ISBN: 978-3-406-79917-4

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Manche Kapitel lassen den Leser fassungslos zurück. Martin Sabrows detaillreiche Studie vermeidet glücklicherweise Gleichsetzungen mit der Gegenwart. Cover Wallstein-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

In der vierten Staffel der Spielfilmserie »Babylon Berlin« findet ein Gerichtsprozess statt, der die Veröffentlichung von Details über die geheime, vertragswidrige und das Völkerrecht brechende Aufrüstung Deutschland behandelt. Ein Unrechtsprozess, entwürdigend für die angeklagten Journalisten, empörend für deren Verteidiger und die Zuschauer vor dem Bildschirm; ja, auch ein wenig stiefelig in seiner grobgezeichneten Art.

Die Meinung über die zunächst holzschnittartige Darstellung des Richters und der Prozessumstände relativiert sich auf eine – ja, man kann es nicht anders nennen – dramatische Weise bei der Lektüre von Martin Sabrows ausgezeichnetem Buch Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution. Die historische Wirklichkeit war in monströser Weise grotesk; zugleich wird die Motivation von Zeitgenossen wie dem Film-Richter aus »Babylon Berlin« von dem Vorwurf, nur ein vergröbernder Holzschnitt zu sein, freigesprochen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt stand der Republik ein Gegner gegenüber, der nach Stärke und Taktik für einen neuen Anlauf zum Kampf um die Macht im Land ungleich besser gerüstet war als beim ersten Putschversuch vom März 1920.

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Den Leser von Sabrows detailreicher und umfassender Darstellung beschleicht recht bald ein Frösteln, das sich spätestens bei dem Kapitel über den Prozess gegen die »Organisation Consul« in großes Frieren verwandelt hat. Das, was dort geschildert wird, war kein Justizversagen; es war der gelungene Versuch, über eine Terror- und Umsturzorganisation einen Schleier zu werfen. Die Gegner agierten taktisch und strategisch vor Gericht gut, trotzdem: ohne den Beistand der Anklage (!) hätte auch das nicht gereicht.

Natürlich liest man aus der Sofaperspektive des Jahres 2023 in der Retrospektive mit, was seither geschah, den Untergang der Weimarer Republik und den Zivilisationsbruch, der Europa in den Abgrund stürzte und Millionen in den Tod riss. Die Zeitgenossen wussten das alles nicht, trotzdem waren sie hellsichtig genug, den Prozess richtig einzuordnen. Genutzt hat es nichts.

Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz.

Kurt Tucholsky, zitiert nach Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Timothy Snyder hat völlig zurecht darauf verwiesen, wie viele kluge Leute zur Zeit der Weimarer Republik lebten, wie viele von ihnen treu zur Verfassung standen, ihre Ansichten in dem breiten Spektrum an Medien kundtaten, in zum Teil herausragender Weise, sprachlich und analytisch die Abgründe ausleuchteten und aufzeigten. Das reichte nicht, um die Republik zu retten; sicher auch, weil es eine breitenwirksame Presse gab, der die Republik verhasst war. 

Zu den wirklich kuriosen Dingen gehört, dass sich der Staat in Gestalt der verfassungstreuen Parteien der Gefahr wohlbewusst war; um den schädlichen Einfluss der Justiz, die schon 1921 als fürchterlich antidemokratisch galt, einzudämmen, wurde ein Staatsgerichtshof in Leipzig gegründet, der sich mit staatsgefährdenden Umtrieben befassen sollte – ausgerechnet dort kam es zu der absurden Verkehrung von Anklage und Verteidigung.

Martin Sabrow schildert die Gegebenheiten und Entwicklungen mit nüchternem und kühl-analytischem Tonfall, die regelmäßig eingestreuten Pressezitate reichen neben den reinen Fakten völlig aus, den Leser unter Spannung zu halten. Ein großer Wert dieses Buches liegt darin, einmal genau zu zeigen, was es tatsächlich bedeutete, wenn eher allgemein von einer rechtslastigen Justiz die Rede ist; und wie sehr der Versailler Vertrag auch hier eine bedeutende Rolle bei der Handlungsmotivation spielte.

Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts. Joseph Wirth, Reichskanzler

Reichskanzler Wirth, zitiert nach Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Außerdem werden generelle Aspekte der Weimarer Republik deutlich. Einmal bestand eine tiefe Kluft zwischen Stadt und Land, während die urbanen Zentren von großen Wogen der Empörung über die Attentate durchwogt wurden, blieb die Provinz im dumpfen Zustand von Ignoranz und Gleichgültigkeit. Mancher lokale Mandatsträger wusste nichts von einem Außenminister Rathenau, geschweige denn von seiner Ermordung; die Flüchtigen erhielten trotz massiver Strafandrohung Unterstützung, keineswegs nur aus den Reihen der »Organisation Consul«.

Zweitens gelang es den demokratischen Kräften nicht, die strukturellen Defizite der Republik abzumildern. Weder die Justiz noch die Reichswehr noch die vielfältigen völkisch-rassistischen Verbände noch Verweigerer- und Rechtsbruchstaaten wie Bayern sowie erzkonservative Kräfte der Wirtschaft konnten auf einen verfassungsmäßigen Kurs gebracht werden.

Die offene Auseinandersetzung scheuten die Republikaner oft mit ängstlichem Blick auf die öffentliche Ordnung, Aufstände, wilde Streiks, Gewalt gegen Rechts und natürlich die immer beschworene Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes waren diesen Kräften ein Gräuel; ihre Gegner hatten diese Skrupel nicht, ein Strukturmerkmal, das schon 1848 geprägt und für großes Unheil gesorgt hat. In diesem Fall hätte es vielleicht den Absichten der Putschisten in die Hände gespielt.

So ergibt sich am Ende ein ambivalentes Fazit: Die vom Weimarer Rechtsputschismus gelegte Spur der Gewalt reichte weit über 1921/22 hinaus, aber in einer ungebrochenen Kontinuitätslinie zum Rechtsterrorismus nach 1945 steht sie nicht.

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Die größte Stärke von Martin Sabrows Buch bildet zugleich die größte Herausforderung für den Leser: Detailreichtum und Vielschichtigkeit der einander überlappenden Themenbereiche aus unterschiedlichen Perspektiven entreißen dem Zwielicht eine umfassende rechtsgerichtete Verschwörung gegen die junge Republik und grenzen sie gegenüber der – letztlich siegreichen – nationalsozialistisch-völkischen ab. Hier die überkommene putschistische Hermann Ehrhardts, dort die populistische Adolf Hitlers.

Ganz besonders segensreich an diesem sehr lesenswerten Buch ist, dass der Autor der Verlockung entgegentritt, die Morde der 1920er Jahre mit denen der Gegenwart gleichzusetzen; er vergleicht, nennt Gemeinsamkeiten und weist nachdrücklich auf die Unterschiede der Mordserie in der frühen Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1990 hin. Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution bildet eine wunderbare Grundlage dafür, um über Rechtsterrorismus und Rechtsstaat in unserer Zeit nachzudenken.

Verwiesen sei in diesem Zusammenhang noch auf den Roman von Das Spinnennetz von Joseph Roth, der von Oktober bis November 1923 als Fortsetzungsroman erschien und in seiner abrupten, temporeichen Form geradezu wie ein literarisches Echolot der rechten Gewalt wirkt – wenige Tage von Hitlers Novemberputsch. Auch die Verfilmung des Romans mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle des Weltkriegsleutnants Theodor Lohse ist sehenswert. 

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution
Wallstein-Verlag 2022
Gebunden 334 Seiten
ISBN: 978-3-8353-5174-5

Harald Jähner: Höhenrausch

Was für ein tolles Sachbuch über die Weimarer Republik! Sprachlich ein Genuss, inhaltlich bereichernd und alles in allem eine Warnung. Cover Rowohlt. Bild mit Canva erstellt.

Geschichtsbücher müssen nicht dröge sein, ganz im Gegenteil: Höhenrausch von Harald Jähner erzählt von der Weimarer Republik in einer Weise, die gerade für Nicht-Historiker einen verständlichen und vor allem perspektivisch ebenso interessanten wie neuen Zugang bietet. Statt Zahlgewitter, detaillierte Schilderungen von machtpolitischen Winkelzügen und Strategien, bietet Jähner seinen Lesern vor allem gesellschaftliche Entwicklungen.

Ich habe das Buch genossen, auch aus boshaften Motiven. Als ehemaliger Beinahe-Lehrer mit Fach Geschichte malte ich mir beim Hören aus, wie die Magensäfte meines mit ganz besonderer Hochachtung geschätzten Fachleiters die Speiseröhre hinaufsteigen würden, eine Art Fieberthermometer der Abneigung, bestünde eine realistische Möglichkeit, dass diese Person je einen Blick in dieses Buch würfe.

Die Generation Schülerquäler, die so viel Wert auf gehrocksteife Historiographie legt, wird dieses Buch hassen. Es dreht sich um schockierende Dinge wie Sex, Frauen, Drogen, Mentalitäten, gesellschaftliche Entwicklungen, das Nebeneinander bzw. die Gleichzeitigkeit von einander ausschließenden Strömungen, Architektur, Kunst, Gleichberechtigung – ja, eine Moderne, die in mancher Form ein unscharfer, grobkörniger Spiegel der Gegenwart ist.

Kleinanzeigenmärkte sind ein guter Spiegel gesellschaftlicher Chancen und Nöte.

Harald Jähner: Höhenrausch

Jähners Buch liefert ein paar Antworten auf Fragen, die ich mir bereits gestellt habe oder hätte stellen müssen. Ein ganz wichtiges, immer nur randständig betrachtetes Kapitel sind die Freikorps. Jähner widmet diesen mindestens 365 Gewalthaufen (»für jeden Tag des Jahres eines«), die einen unheimlichen und dramatisch negativen Einfluss auf die Geschichte der Weimarer Republik hatten, den nötigen Raum.

Wann immer man mit Linken zu tun hat, die etwas auf ihre literarische Bildung setzen, wird Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues hervorgekramt, meist ein kleines Zitat vorgetragen und dem Weltkriegsroman In Stahlgewittern von Ernst Jünger entgegengestellt. Hüben ein Antikriegsroman, drüben der Kriegsverherrlicher. Selbstverständlich zitiert auch Jähner aus beiden Werken und nennt nicht nur das Trennende, sondern auch das Gemeinsame, das im Schwarz-Weiß schnell verloren geht.

Neben der großen Zahl an deutschen Soldaten, die froh waren, als der Krieg zuende ging, gab es eben auch jene Minderheit, die mit dem abrupten Ende der Kampfhandlungen nicht einverstanden war. Die Freikorps haben nicht nur in den bürgerkriegsartigen Kämpfen im Reich selbst gefochten, sondern auch im Osten – gegen die Rote Armee, Polen, Tschechen und wer ihnen sonst noch in den Weg kam.

Niemand hat sie dazu gezwungen. Vielleicht ist das Unbehagen darüber, dass eben nicht alle den Krieg als Schrecken erlebten und Zeitgenossen wie Ernst Jünger keineswegs nur Verspinnerte waren, ein Grund dafür, warum die Freikorps oft übersehen werden. Dabei waren sie in vielfacher Hinsicht verhängnisvoll für die Weimarer Republik, wie Jähner ausführt, politisch und gesellschaftlich, etwa durch ihre groteske Frauenfeindlichkeit.

Die Maschinensäle der Bürokratie waren die modernen Galeeren des Warenverkehrs.

Harald Jähner: Höhenrausch

Ganz groß ist das Kapitel über die Inflation. Mit Sicherheit ist vielen Lesern überhaupt nicht klar, was eine Inflation überhaupt ist, woher sie kommt, wie sie befeuert wird und wie sie wieder enden kann. Das war 1923 auch der Fall. Jähner lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, schildert die unheimliche Zunahme der Geldmenge während des Ersten Weltkrieges, als jede kämpfende Macht riesige Schulden anhäufte und davon ausging, dass der (unterlegene) Kriegsgegner die Rechnung begleichen werde.

Er spart den allzu üppigen Fortgang der Gelddruckerei nicht aus, verknüpft geschickt diese naive Geldpolitik mit politischen Entscheidungen (Verschleppung der Reparationszahlungen – Ruhrbesetzung – Generalstreik) und politischen Morden (Rathenau) und ihren verheerenden Auswirkungen auf das Ausland, und führt dem Leser vor, wie aus diesen Zutaten ein Schierlingsbecher gemixt wurde, der das Reich Richtung Abgrund steuerte.

Den Deutschen mochte dabei Hören und Sehen vergehen, nicht aber das Rechnen. Nie wieder wurde das Rechnen im Zahlenraum mit zwölf Nullen so virtuos beherrscht wie im Herbst 1923.

Harald Jähner: Höhenrausch

Nicht die Arbeiter, nicht die Arbeitslosen haben Hitler gewählt, sondern die Angehörigen der Mittelschicht; die haben die Hyperinflation 1923 als doppeltes Armageddon erlebt: Die Sparguthaben lösten sich in Luft auf, während die Mieteinnahmen (Mietpreisbremse) als zweite Einnahmequelle wegfielen und Wohlstand in wenigen Monaten in Verelendung mündete.  Für die gesamte Schuld, die der deutsche Staat bei seinen Bürgern in der Kreide stand (98 Mrd. Mark), bekam man 1923 noch einen Sack Kartoffeln.

Es gab natürlich keinen Automatismus Richtung Hitler. Der hätte auch Ende 1932 nicht Reichskanzler werden müssen, eine Alternative war da. Auch die Inflation von 1923 hat nur den Boden bereitet, die Sparpolitik danach trotz Wachstum auch, denn die hat die Kommunisten beflügelt, deren stalinhörige Verbohrtheit den Widerstand gegen Hitler massiv erschwerte.

Ganz besonders bringen aber noch andere Dinge Saiten beim Leser in Schwingen, wie etwa die ideologische Spaltung. Wenn Jähner sich – glücklicherweise – recht lange über die Streitfrage der Hausdächer (!) auslässt, die von den Zeitgenossen ohne Scham als jüdisch, afrikanisch, indianisch (flach) oder völkisch-nazistisch (spitz) diffamiert oder überhöht wurden, wird klar, dass die Gesellschaft in Teilen eine Grenze überschritten hatte, die einen Ausgleich zwischen den verfeindeten Rändern unmöglich machte.

Ebert, den im Amt Anerkennung nur als Notration gewährt worden war, erhielt sie posthum im Überschuss.

Harald Jähner: Höhenrausch

Besonders deprimierend ist der Schlussteil des Buches, das den Untergang der Weimarer Republik beschreibt. Jähner zeigt den Stimmungswandel, der den verheerenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fehlentscheidungen nach dem Zusammenbruch der Börsen Ende 1929 einherging. Es geht nahe, wie sich die Ansichten wandelten, Dinge, die zunächst positiv wahrgenommen wurden, plötzlich als Teufelswerk galten.

Wunderbar, wie Jähner versucht, die Gleichzeitigkeit von beeindruckenden positiven Dingen darzulegen – Nobelpreise, Erfindungen, Erfolgswellen wie das Jojo, wirtschaftliche Trendbrecher, die jedoch nicht reichten, den Ozean der Dunkelheit aufzuhellen.

Ganz kalt wird es etwa mit Blick auf George Grosz, der sich im Ersten Weltkrieg einen englisch klingenden Namen zulegte, die Nazis hasste, die Kommunisten dank einschlägiger Erfahrungen gleichermaßen und dennoch Anfang der 1930er plötzlich völkisch-deutschtümelnde Töne spuckte.

Es bleibt ein großes Fazit: Nichts ist sicher. Nichts. Nie.

Harald Jähner: Höhenrausch
Rowohlt 1922
Gebunden 560 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0081-6

© 2024 Alexander Preuße

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