Geschichtsbücher müssen nicht dröge sein, ganz im Gegenteil: Höhenrausch von Harald Jähner erzählt von der Weimarer Republik in einer Weise, die gerade für Nicht-Historiker einen verständlichen und vor allem perspektivisch ebenso interessanten wie neuen Zugang bietet. Statt Zahlgewitter, detaillierte Schilderungen von machtpolitischen Winkelzügen und Strategien, bietet Jähner seinen Lesern vor allem gesellschaftliche Entwicklungen.
Ich habe das Buch genossen, auch aus boshaften Motiven. Als ehemaliger Beinahe-Lehrer mit Fach Geschichte malte ich mir beim Hören aus, wie die Magensäfte meines mit ganz besonderer Hochachtung geschätzten Fachleiters die Speiseröhre hinaufsteigen würden, eine Art Fieberthermometer der Abneigung, bestünde eine realistische Möglichkeit, dass diese Person je einen Blick in dieses Buch würfe.
Die Generation Schülerquäler, die so viel Wert auf gehrocksteife Historiographie legt, wird dieses Buch hassen. Es dreht sich um schockierende Dinge wie Sex, Frauen, Drogen, Mentalitäten, gesellschaftliche Entwicklungen, das Nebeneinander bzw. die Gleichzeitigkeit von einander ausschließenden Strömungen, Architektur, Kunst, Gleichberechtigung – ja, eine Moderne, die in mancher Form ein unscharfer, grobkörniger Spiegel der Gegenwart ist.
Kleinanzeigenmärkte sind ein guter Spiegel gesellschaftlicher Chancen und Nöte.
Harald Jähner: Höhenrausch
Jähners Buch liefert ein paar Antworten auf Fragen, die ich mir bereits gestellt habe oder hätte stellen müssen. Ein ganz wichtiges, immer nur randständig betrachtetes Kapitel sind die Freikorps. Jähner widmet diesen mindestens 365 Gewalthaufen (»für jeden Tag des Jahres eines«), die einen unheimlichen und dramatisch negativen Einfluss auf die Geschichte der Weimarer Republik hatten, den nötigen Raum.
Wann immer man mit Linken zu tun hat, die etwas auf ihre literarische Bildung setzen, wird Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues hervorgekramt, meist ein kleines Zitat vorgetragen und dem Weltkriegsroman In Stahlgewittern von Ernst Jünger entgegengestellt. Hüben ein Antikriegsroman, drüben der Kriegsverherrlicher. Selbstverständlich zitiert auch Jähner aus beiden Werken und nennt nicht nur das Trennende, sondern auch das Gemeinsame, das im Schwarz-Weiß schnell verloren geht.
Neben der großen Zahl an deutschen Soldaten, die froh waren, als der Krieg zuende ging, gab es eben auch jene Minderheit, die mit dem abrupten Ende der Kampfhandlungen nicht einverstanden war. Die Freikorps haben nicht nur in den bürgerkriegsartigen Kämpfen im Reich selbst gefochten, sondern auch im Osten – gegen die Rote Armee, Polen, Tschechen und wer ihnen sonst noch in den Weg kam.
Niemand hat sie dazu gezwungen. Vielleicht ist das Unbehagen darüber, dass eben nicht alle den Krieg als Schrecken erlebten und Zeitgenossen wie Ernst Jünger keineswegs nur Verspinnerte waren, ein Grund dafür, warum die Freikorps oft übersehen werden. Dabei waren sie in vielfacher Hinsicht verhängnisvoll für die Weimarer Republik, wie Jähner ausführt, politisch und gesellschaftlich, etwa durch ihre groteske Frauenfeindlichkeit.
Die Maschinensäle der Bürokratie waren die modernen Galeeren des Warenverkehrs.
Harald Jähner: Höhenrausch
Ganz groß ist das Kapitel über die Inflation. Mit Sicherheit ist vielen Lesern überhaupt nicht klar, was eine Inflation überhaupt ist, woher sie kommt, wie sie befeuert wird und wie sie wieder enden kann. Das war 1923 auch der Fall. Jähner lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, schildert die unheimliche Zunahme der Geldmenge während des Ersten Weltkrieges, als jede kämpfende Macht riesige Schulden anhäufte und davon ausging, dass der (unterlegene) Kriegsgegner die Rechnung begleichen werde.
Er spart den allzu üppigen Fortgang der Gelddruckerei nicht aus, verknüpft geschickt diese naive Geldpolitik mit politischen Entscheidungen (Verschleppung der Reparationszahlungen – Ruhrbesetzung – Generalstreik) und politischen Morden (Rathenau) und ihren verheerenden Auswirkungen auf das Ausland, und führt dem Leser vor, wie aus diesen Zutaten ein Schierlingsbecher gemixt wurde, der das Reich Richtung Abgrund steuerte.
Den Deutschen mochte dabei Hören und Sehen vergehen, nicht aber das Rechnen. Nie wieder wurde das Rechnen im Zahlenraum mit zwölf Nullen so virtuos beherrscht wie im Herbst 1923.
Harald Jähner: Höhenrausch
Nicht die Arbeiter, nicht die Arbeitslosen haben Hitler gewählt, sondern die Angehörigen der Mittelschicht; die haben die Hyperinflation 1923 als doppeltes Armageddon erlebt: Die Sparguthaben lösten sich in Luft auf, während die Mieteinnahmen (Mietpreisbremse) als zweite Einnahmequelle wegfielen und Wohlstand in wenigen Monaten in Verelendung mündete. Für die gesamte Schuld, die der deutsche Staat bei seinen Bürgern in der Kreide stand (98 Mrd. Mark), bekam man 1923 noch einen Sack Kartoffeln.
Es gab natürlich keinen Automatismus Richtung Hitler. Der hätte auch Ende 1932 nicht Reichskanzler werden müssen, eine Alternative war da. Auch die Inflation von 1923 hat nur den Boden bereitet, die Sparpolitik danach trotz Wachstum auch, denn die hat die Kommunisten beflügelt, deren stalinhörige Verbohrtheit den Widerstand gegen Hitler massiv erschwerte.
Ganz besonders bringen aber noch andere Dinge Saiten beim Leser in Schwingen, wie etwa die ideologische Spaltung. Wenn Jähner sich – glücklicherweise – recht lange über die Streitfrage der Hausdächer (!) auslässt, die von den Zeitgenossen ohne Scham als jüdisch, afrikanisch, indianisch (flach) oder völkisch-nazistisch (spitz) diffamiert oder überhöht wurden, wird klar, dass die Gesellschaft in Teilen eine Grenze überschritten hatte, die einen Ausgleich zwischen den verfeindeten Rändern unmöglich machte.
Ebert, den im Amt Anerkennung nur als Notration gewährt worden war, erhielt sie posthum im Überschuss.
Harald Jähner: Höhenrausch
Besonders deprimierend ist der Schlussteil des Buches, das den Untergang der Weimarer Republik beschreibt. Jähner zeigt den Stimmungswandel, der den verheerenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fehlentscheidungen nach dem Zusammenbruch der Börsen Ende 1929 einherging. Es geht nahe, wie sich die Ansichten wandelten, Dinge, die zunächst positiv wahrgenommen wurden, plötzlich als Teufelswerk galten.
Wunderbar, wie Jähner versucht, die Gleichzeitigkeit von beeindruckenden positiven Dingen darzulegen – Nobelpreise, Erfindungen, Erfolgswellen wie das Jojo, wirtschaftliche Trendbrecher, die jedoch nicht reichten, den Ozean der Dunkelheit aufzuhellen.
Ganz kalt wird es etwa mit Blick auf George Grosz, der sich im Ersten Weltkrieg einen englisch klingenden Namen zulegte, die Nazis hasste, die Kommunisten dank einschlägiger Erfahrungen gleichermaßen und dennoch Anfang der 1930er plötzlich völkisch-deutschtümelnde Töne spuckte.
Es bleibt ein großes Fazit: Nichts ist sicher. Nichts. Nie.
Harald Jähner: Höhenrausch
Rowohlt 1922
Gebunden 560 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0081-6
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