Nach dem grandiosen und völlig zurecht gefeierten Roman Underground Railroad wollte ich unbedingt noch ein weiteres Buch aus der Feder Colson Whiteheads lesen. Die Wahl fiel auf Die Nickel Boys. Schon der Anfang ist schauderhaft, er zeichnet den Weg vor, der hineinführt in eine Hölle aus Rassismus, Erniedrigung und brutalster Gewalt.
Mir kamen Bilder in den Sinn, die auf dem Balkan oder – aktueller – in der Ukraine aufgenommen wurde. Bilder von Exhumierungen rasch und lieblos verscharrter Getöteter, zumeist nach unmenschlichen Folterqualen. Kriegsgebiete. Doch handelt der Roman von Whitehead in den USA, in der Vergangenheit zwar, doch nicht so weit in der Vergangenheit, um das Geschilderte in einen Zusammenhang mit Kriegshandlungen zu setzen.
Oder etwa doch? Der amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 liegt noch einmal zehn Jahrzehnte gegenüber der Zeit zurück, in der die Handlung von Die Nickel Boys stattfindet. Ein wesentlicher Anlass bildete die Frage der Sklaverei, die – neben anderen – blutig auf den Schlachtfeldern entschieden wurde. Verfassungsrechtlich mochte die rassistische Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung beendet sein, sozial nicht.
Insofern ist die Frage durchaus berechtigt: Zählt das, was Whitehead in seinem Roman schildert, wie ein Echo oder gar eine Fortsetzung dessen, was der Krieg zwischen Norden und Süden der USA eigentlich ausgefochten und entschieden haben sollte? Der Roman zwingt dem Leser diese Frage regelrecht auf und das gehört für mich zu seinen großen Vorzügen.
In der Anstalt namens Nickel werden nicht nur Schwarze auf unmenschliche Weise traktiert, sondern auch die weißen Insassen, doch gehen die Grausamkeiten gegenüber den Schwarzen weit über das hinaus, was die Weißen zu erdulden haben. Whitehead hat eine großartige Erzählhaltung und -weise gefunden, um die Geschichte zu erzählen, spannend und überraschend in ihren Wendungen ist sie ohnehin. Großartig.
Colson Whitehead: Die Nickel Boys Aus dem Englischen von Henning Ahrens Hanser Verlag 2019 Gebunden 224 Seiten ISBN: 978-3-446-26276-8
In der Literatur kommt es manchmal vor, dass der Autor seinen Erzähler bzw. seine Erzählstimme in den Knast versetzt. Günter Grass’ Blechtrommel oder Max FrischsStiller gehören in diese Kategorie, aber auch Jean-Paul Dubois mit Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise. Manchmal sitzt der Autor selbst im Gefängnis und schreibt von diesem Ort aus seine Werke. Peter-Paul Zahl wäre ein Beispiel, der sich unter anderem mit dem Hitler-Attentäter Johann Georg Elser befasst hat.
Noch etwas anders geartet liegt der Fall bei Maxim Znak. Zwar verbrachte auch Zahl seine Zeit keineswegs freiwillig hinter Gittern, doch konnte und durfte er schreiben und publizieren. Dem Belarussen Znak ist das verwehrt, hier ist das Schreiben aus dem Knast kein literarisches Mittel oder gar Attitüde, sondern bitterer Ernst. Er ist politischer Gefangener in einem diktatorischen System und sein Zekamerone ist nur realisiert worden, weil die Texte auf Zettelchen aus Gefängnis und Land geschmuggelt wurden.
Maxim Znak ist im Zivilberuf Anwalt und bekannt durch seine Verteidigung von Maria Kalesnikava. Er wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Seine Zekamerone schildert eine ganze Reihe von Impressionen aus der Haft, die dem Leser einen Eindruck davon verschaffen, wie es in der Gefängniswelt von Belarus zugeht. Die kurzen Texte widmen sich alltäglichen Themen, sie zeigen, wie das Regime mit seinen Gegner umgeht, wie es sie drangsaliert, erniedrigt, mit bürokratischer Willkür erstickt und im Albtraum überfüllter Zellen in Unsicherheit vegetieren lässt.
Manchmal wird Znak heiter und bringt den Leser auch zum Lachen. Ein Raureif-Lachen ist es, denn aus den erbärmlichen Umständen der Gefangenschaft kann man sich nicht lösen. Soll man sich nicht. Kaufen und lesen sollte man dieses Büchlein aber, um wenigstens lesend hinter die Kulissen des belarussischen Regimes unter Diktator Lukaschenka zu schauen, wo jene sitzen, die wir im Westen nicht vergessen sollten, die mutigen Bürgerrechtler von Belarus.
Maxim Znak: Zekamerone Geschichten aus dem Gefängnis aus dem Russischen von Henriette Reisner und Volker Weichsel mit einem Nachwort von Valzhyna Mort Edition Suhrkamp 2023 Taschenbuch 242 Seiten ISBN: 978-3-518-12804-6
Der Erzähler sitzt im Gefängnis. Ein bekanntes Szenario, das mir zuletzt im herausragenden Roman von Steffen Kopetzky Propaganda begegnet ist. Und natürlich: Die Blechtrommel von Günter Grass. Ein spezieller Ort, der dem Erzähler einerseits eine gewisse Ruhe, weil Abgeschlossenheit von der Außenwelt verschafft; andererseits aber unruhestiftend, denn Gefängnisse sind geprägt von Gewalt, Aufruhr, schlechtem Essen und eben Straftätern.
Anders als Grass und Kopetzky lässt Jean-Paul Dubois in seinem preisgekrönten Roman »Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise« seinen Erzähler nicht schreiben, das wäre unmöglich. Während in der vergitterten Gegenwart die Zeit langsam voranschreitet und der Leser eingeführt wird in die Umstände, die erbärmlichen Verhältnisse innerhalb und extremen Wetterbedingungen außerhalb der Mauern, breitet sich in langen Schleifen und Rückblenden das Leben des Ich-Erzählers aus.
Zunächst ist völlig unklar, warum Paul Christian im Gefängnis sitzt, klar ist nur, dass es zu einem Gewaltausbruch gekommen ist. Seine Strafe sitzt er in einem kanadischen Gefängnis ab, in einer Region, in der es zum Jahreswechsel durchaus achtundzwanzig Grad unter Null sein kann. Ein Teil des Romans beschreibt, wie er das Dasein als Gefangener erlebt, gemeinsam mit einem Gewalttäter namens Patrick in einer Zelle, ohne Privatsphäre und einem Klo.
Die Haft zieht die Tage in die Länge, streckt die Nächte, dehnt die Stunden, verleiht der Zeit eine breiige, angeranzte Konsistenz. Jeder hier hat das Gefühl, sich in einem zähen Schlamm zu bewegen, aus dem er sich bei jedem Schritt herausziehen muss, mit aller Kraft darum kämpfend, nicht im Selbstekel stecken zu bleiben. Das Gefängnis begräbt uns bei lebendigem Leib. Die mit kurzen Strafen können Hoffnung haben, die anderen befinden sich bereits im Massengrab.
Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
Nur ein Beispiel von der erzählerischen Kraft, über die Dubois verfügt. Aus meiner Sicht nimmt der Roman auch in dieser Hinsicht einen recht langen Anlauf, ehe sich der Autor aus dem ihm zu Verfügung stehenden Werkzeugkasten der Sprache bedient. Inhaltlich gerät das Leben der Handelnden zu diesem Zeitpunkt bereits ins Rutschen, das, was die »Röhren des Schicksals« enthalten und ausspeien, lenkt ihre Geschicke.
Paul stammt aus Frankreich. Sein Vater war ein protestantischer Pastor aus Dänemark, seine Mutter betrieb ein Programmkino in der französischen Provinz. Ein sehr ungewöhnliches Paar mit ebensolchen Berufen, deren Zusammenkommen und -bleiben ein Zufall ist. Die Ehe der Eltern, im Grunde ein Unding, zerbricht irgendwann auf ziemlich rabiate Weise, nachdem sie bereits jahrelang vor sich hin siechte.
Pauls Leben ist mehr als ein Vierteljahrhundert geprägt von einem unauffälligem Werdegang, der sich von den besonderen seiner Eltern abhebt. Eine Art Verwalter in einem Wohnkomplex mit vielen Wohneinheiten, in dessen Eingeweiden Paul für einen mehr oder weniger reibungslosen Ablauf der nötigen Dinge zu sorgen hat.
Das auf den ersten Blick kleine Leben kontrastiert mit der Gewalttat, über die der Leser erst lange nach dem Zellgenossen informiert wird. Bis dahin ist allerdings klar, dass Pauls Existenz eben doch nicht so konform ist, wie es zunächst scheint, sondern mit den Widrigkeiten der Welt, ihren Regeln, und schließlich den Zudringlichkeiten eines ganz speziellen Menschenschlags kollidiert.
Als Patrick den Grund für meine Inhaftierung erfuhr, interessierte er sich für meine Geschichte mit dem Wohlwollen eines Gildenbruders, der von den ersten ungeschickten Versuchen eines Lehrlings Kenntnis nimmt.
Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
Recht früh wird deutlich, dass es sich um kein kapitales Schwerverbrechen handelt. Eigentlich würde er wegen guter Führung früher entlassen werden, eigentlich weiß Paul darum, wie er sich zu geben hat, um die nötige Empfehlung zu erhalten, eigentlich ist ihm klar, dass jeder im Knast darum weiß – nur tut er es nicht. Im Gegenteil. Die Gewalttat und der bockige Nonkonformismus im Gefängnis überraschen, das reißt eine Leerstelle auf, die im Handlungsverlauf langsam geschlossen wird.
Im Grunde genommen ist das gewöhnliche Leben Pauls in seinem Beruf von einem ungeheuren Druck geprägt. Pauls Job bereitet ihm oft schlaflose Nächte, die Herausforderung, ein 200.000 Liter fassendes Schwimmbad in der notwendige Balance zu halten, ist lange übermächtig. Und ja, ausgerechnet dieses Schwimmbad liefert den Anlass, für eine Handlung, die letztlich in der Gewalttat mündet, alles wird fein vorbereitet und angedeutet.
Bei seinem Lebenslauf lernt Paul eine Reihe seltsamer Orte und Menschen kennen. Ein so genannter »casuality adjuster«, eine Person, die darauf spezialisiert ist, für Versicherungen durch persönliche Nachforschungen oder Gespräche mit Hinterbliebenen die finanzielle Last zu verringern. Das Zitat beschreibt, wie dieser Mann seine eigene Tätigkeit sieht und gegenüber Paul offen beschreibt.
Ich gehe einer schmutzigen Arbeit nach, mit schmutzigen Methoden inmitten von schmutzigen Leuten.
Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
Es ist nicht die einzige Passage im Roman, an der Dubois massive Sozialkritik übt, aber eine der prägnantesten, was sicher daran liegt, dass der Autor die Form eines offenen, selbstanklagenden Geständnisses wählt. Dubois nimmt generell die Auswüchse des kapitalistischen Wirtschaftens in den Fokus, statt des mahnend und oft selbstgefällig in die Höhe gereckten Zeigefingers wählt er den Humor: lakonisch, ironisch oder einfach zum Schreien komisch.
Durch die beinahe gemächliche inhaltliche Zuspitzung wird die Kritik an den dunklen Schatten des Kapitalismus, der glücklicherweise keineswegs per se infrage gestellt wird, immer schärfer. Seine unmenschlichen Seiten geraten in den Mittelpunkt und Dubois bleibt zum Glück bei seiner sehr anschaulichen und unterhaltsamen Art, diese vorzubringen.
Als es beispielsweise um die aberwitzigen Summen geht, die von Bankern während der Finanzkrise vernichtet wurden, lässt er Pauls Mithäftling fragen, ob der ausrechnen könne, wieviel seiner geliebten Harley Davidsons man davon hätte kaufen können – wenn er ihm den Neupreis verriete.
Die Gewalttat, die den Ich-Erzähler ins Gefängnis gebracht hat, fällt überraschend heftig aus, gemessen an dem oft harmlosen, lakonischen, überlegt-zurückhaltenden Verhaltens- und Erzählweisen. Es ist, als wäre der Punkt erreicht, an dem der Wolf aus dem Menschen hervorbricht und seinen Peiniger traktiert. Insofern ist es auch eine Warnung an Politik und Gesellschaft, denn wenn dieser Punkt erst erreicht wird, fließt Blut.
Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver dtv 2022 TB 256 Seiten ISBN: 978-3-423-14833-7
Für gewöhnlich stelle ich nur Bücher vor, die ich aus irgendwelchen Gründen für lesenswert halte. In diesem Fall weiche ich davon etwas ab, denn das Buch, um das es hier geht, ist nur bedingt lesenwert.
Der Roman „Stiller“ des Schweizer Schriftstellers Max Frisch gehört zur Weltliteratur. Dieses Wort steht für eine Art literarische Maginot-Linie, einen Festungsgürtel, durch den der Leser hindurch muss, wenn er es sich selbst auferlegt hat, ein Werk auf diesem Niveau zu lesen.
Das ist nicht ungewöhnlich. Viele große Bücher sind für den Leser des 21. Jahrhunderts nichts anderes als eine anstrengende Zumutung. Wer sich einmal durch Dantes Göttliche Komödie oder den Simplicissimus von Grimmelshausen hindurchgekämpft hat, weiß darum. In diesen beiden Fällen gibt es noch Abstufungen der Mühe, denn – glücklicherweise – kann man auf vereinfachte, sprachlich modernisierte bzw. inhaltlich aufbereitete Versionen zurückgreifen.
Puristen mag das entsetzen, ich halte es für eine gute Möglichkeit, diese Literatur vor dem Vergessen und der Bedeutungslosigkeit zu bewahren. Denn im Kern haben die Erzählungen immer noch viel zu sagen, wenn dem Leser eine Möglichkeit geboten wird, sie zu verstehen. Ein wunderbares Beispiel ist Gilgamesh, den ich 2021 als Hörbuch kennengelernt habe.
Vorgelesen und eingebettet in Erläuterungen zur Entstehung bzw. Rekonstruktion ist Gilgamesh eine ganz besondere literarische Reise, bei der gerade das Fremdartige fasziniert. Ganz nebenbei habe ich als literarischer Wegelagerer noch ein großartiges Motiv für meinen Fantasy-Roman mitnehmen können – am Ende war ich hochzufrieden.
Noch nicht zu sehr von der Zeit gefressen
Bei Stiller ist es noch nicht so weit. Man kann der Handlung im Wesentlichen ohne Schwierigkeiten folgen, denn die meisten wirklich unbegreiflichen Sachen sind leicht zu klären oder einfach zu ignorieren. Problematischer sind jene Dinge, die von der Zeit und der gesellschaftlichen Entwicklung gefressen wurden.
Zwangslagen und Probleme der handelnden Figuren sind heute oft genug keine mehr; kurioserweise würde der technische Fortschritt einen Teil des Romans mehr oder weniger unmöglich machen – wer könnte heute schon so einfach „verschwinden“?
Und doch beginnt auch Stiller um- und überwuchert zu werden. Ich habe das Buch zweimal gelesen, zwischen beiden Lektüren liegen fast fünfundreißig Jahre. Was beim ersten Durchgang noch wie ein Leuchtfeuer wirkte, etwas mehr als dreißig Jahre nach dem Erscheinen, ist heute zumindest teilweise von den Rauchschleiern der Zeit verschluckt worden.
Lesen und sezieren
Der Kern des Romans ist und bleibt aktuell. Frisch hat diesen Kern in eine gewundene, vielfach zeitlich gebrochene und von langen Rückblicken geprägte Struktur gegossen, sie mehr oder weniger darin verborgen, umrankt von wuchernden Betrachtungen, Gesprächen und Berichten. Als Leser fühlt man sich oft wie ein Pathologe, der sezieren muss, um zum Wesentlichen vorzudringen. Schafft man das, entfaltet das Buch auch 2022 eine immense Wucht.
Vor allem der erste Satz, der in der Literatur ohnehin von fast einmaliger Wirkung ist, wird am Ende der Aufzeichnungen jener Person, die nicht Stiller sein will, so stark aufgeladen, dass er fast zu ächzen scheint wie ein überfrachteter Ochsenkarren. Fast.
Frisch wäre nicht Frisch, wenn er den Leser entkommen lassen würde, ohne einen langen, erklärenden Nachtrag, der die bis dahin bestimmende Form und Struktur bricht. Und selbstverständlich allem eine tragische Note gibt. Der Autor ist sich treu geblieben.
Lesen? Ja, aber…
Lohnt es sich also, den Irrungen Stillers nachzugehen? Wer reines Komfort- und Unterhaltungslesen anstrebt, sollte die Finger davon lassen. Der Roman ist kein literarischer Diwan zum Ausspannen, sondern eine Bergtour für das Gehirn, bei dem Fleiß und Durchhalten eine ebenso große Rolle spielen, wie die Begeisterung über viele absolut großartige Passagen. Man kann, muss aber nicht.