Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Generationenroman (Seite 3 von 3)

Saša Stanišić: Herkunft

Autofiktionales aus der Feder von Saša Stanišić, preisgekrönt und lesenswert, weil es an Selbstverständlichkeiten rüttelt. Cover Luchterhand, Bild mit Canva erstellt.

Ein Roman im eigentlichen Sinne ist Herkunft nicht. Autofiktionales Erinnern wäre vielleicht ein passender Begriff für dieses preisgekrönte Werk, das 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Angesichts des für die Gegenwart wichtigen Themas und der literarischen Befähigung des Autors eine gute Entscheidung, insbesondere aber weil Stanišić die Gelegenheit nutzte, um die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke zu kritisieren.

Wer Herkunft liest oder hört, wird mit dem konfrontiert, was Handke mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit verschweigt, während dieser seine aus altlinkem Antiamerikanismus motivierte Serbienapologetik verbreitet. Das darf man ruhig bedenken, wenn man liest, wie Stanišić seine Herkunft ausbreitet und in manchmal bewegenden, manchmal lustigen, oft ironischen und bisweilen auch bitteren Worten von seinem Lebensweg und denen seiner Vorfahren berichtet.

Jugoslawien ist ein historisch-politisches Gespenst, wie das Römische Reich, Burgund, Indochina oder die Sowjetunion. Die jüngeren Geister haben die eigentümliche Eigenheit, für Zeitgenossen etwas sehr Reales zu sein, das ihnen etwas bedeutet, dem sie mit Stolz und Zuneigung begegnen, auch in der Erinnerung. Das Motiv kennt man, etwa aus den Romanen von Nina Haratischwili: Leicht verklärend, was für den in Deutschland sozialisierten Leser manchmal seltsam anmutet.

Doch darin liegt die Stärke von Büchern wie Herkunft. Sie lassen den tiefen, nachhaltigen und durch nichts zu kittenden Lebensbruch nachempfinden, ein hierzulande über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger ausgeschlossenes Szenario. Corona und der wirtschaftliche Fallout von Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine haben an der behaglichen Ignoranz ein wenig gerüttelt, doch im Kern bleibt das Leben in Deutschland für die meisten das einer Gated Community, abgeschottet von den Zudringlichkeiten des Lebens.

Ein Teil davon ist der Begriff Heimat, mit dem Lumpenpatrioten so gern hausieren gehen. Diese wird bisweilen an abstruse Aspekte geknüpft, wie Blut oder zusammenphantasierte Traditionen. Stanišić sieht das anders, wenn er auf den Zufall verweist, der per Geburt oder Vertreibung für ein Zuhause sorge; und dass jener Glück habe, der “den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“

Nach der Lektüre von Herkunft, weiß der Leser sehr genau, wovon die Rede ist.

Saša Stanišić: Herkunft
Luchterhand 2019
Hardcover  368 Seiten
ISBN: 978-3-630-87473-9

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Lesenswerter Roman, inhaltlich nicht in meiner Komfortzone. Cover diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Der Autor Benedict Wells ist für mich ein spezieller Fall. Zwei- oder drei Mal habe ich einen Roman von ihm begonnen, einer davon war Becks letzter Sommer, den ich nach wenigen Seiten abgebrochen habe. Der Autor erschien bereits verbrannt. Trotzdem habe ich wegen Empfehlungen von mir geschätzter Blogs weitere Anläufe unternommen – erfolglos.

Der Roman Vom Ende der Einsamkeit ist mir so dringend nahegelegt worden, dass es mir nachgehangen hätte, wäre ich dem nicht nachgekommen. Es hat sich durchaus gelohnt, auch wenn der der Stoff ein gutes Stück außerhalb meiner Komfortzone liegt. Was mir besonders gut gefallen hat, ist der Schreibstil, denn Wells erzählt.

Unaufgeregt lässt er den Ich-Erzähler Jules von seinem Schicksalsweg berichten. Der hat es in sich, es ist eine lange Suche nach sich selbst, bei der er durch ein tiefes Tal gehen muss. Die Unbilden des Internatslebens, eine schier endlose, vergebliche Liebe, Orientierungslosigkeit und Scheintätigkeiten aus Schuldgefühlen, gefolgt von einer viel zu knappen Phase des Glücks – Jules wird vom Leben durch die Mangel gedreht.

Er und seine beiden Geschwister bilden ein Spannungsdreieck, völlig voneinander verschieden und doch einander verbunden, ziehen sie durch ihre Leben, die trotz aller Unterschiede geprägt sind von dem frühen, tragischen Tod ihrer Eltern. Wie ein dunkler Schatten liegt das Ereignis über ihnen, auch wenn er augenscheinlich zu verblassen scheint.

Das Trio schreitet auf sehr unterschiedlichen Wegen durchs Leben und findet immer wieder zueinander. Manche Passagen wirken etwas redundant und lassen den Leser ratlos zurück, einige Motive sind allbekannt und die ganze Geschichte wirkt ab einem gewissen Punkt ein wenig konstruiert, doch darüber kann man getrost und flott hinweglesen.

Da der Roman inhaltlich jenseits meines literarischen Tellerands liegt, verweise ich gern auf weitere Rezensionen: positiv bei Buchhaltung, Zeilentänzer; offenherzig kritisch: Literaturreich.

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit
Taschenbuch 368 Seiten
Diogenes 2018
ISBN: 978-3-257-24444-1

James Baldwin: Von dieser Welt

Der Roman eines »wiederentdeckten« Autors hat mich in die befremdliche Welt ostentativen Glaubens geführt. Er thematisiert abe rauch den endlosen Rassismus in den USA. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Mit diesem Roman aus der Feder des jüngst wieder »entdeckten« Autors James Baldwin reist der Leser in das Harlem der 1930er Jahre. Die Hauptfigur, ein kluger, unsicherer Heranwachsender namens John, lebt im Schatten seines sich überaus fromm gebenden, gewalttätigen und die Familie beherrschenden Vaters, mit dem er sich in einem dauerhaften Konflikt befindet.

Baldwins Sprache und Fabulierkunst sind beeindruckend, auch in der deutschen Übersetzung. Bemerkenswert und oft beklemmend sind die Passagen über die Kirche und die ostentativ zu Schau getragene Frömmigkeit, die wie ein zu eng geschnürtes Korsett im Leben der Gläubigen wirkt. Ein menschliches Schwein bleibt auch dann ein Schwein, auch wenn es inbrünstig den Herrn anruft.

Nach einer Bluttat versammeln sich die Familienmitglieder zum Gottesdienst. Baldwin widmet einigen von ihnen einen langen, persönlichen Abschnitt, den er mit »Gebet« überschreibt, Gedanken voller Erinnerungen und Assoziationen. Ihr Weg, den sie zu diesem Moment zurückgelegt haben, wird erzählt. Jeder hat seine Geschichte, die erklärt, woraus die haarsträubenden (Miss-)Handlungen der Mitmenschen, oft begangen im Namen des »Herrn«, herrühren. 

Natürlich spielt auch die Hautfarbe eine Rolle, Rassismus, wie er bis in die Gegenwart nicht wesentlich besser geworden ist, schlägt den Schwarzen entgegen, was wiederum in psychischer und physischer Gewalt gegenüber den eigenen Leuten münden kann. Ein wenig hat mich Von dieser Welt das an Die Farbe Lila erinnert, jene saufenden, hurenden Tunichtgute, die den Druck der weißen Gesellschaft an ihre Frauen und Kinder weitergaben.

Ein lesenswerter Roman, der zum Glück nichts verschweigt, eben auch nicht, wenn die Schwarzen einander als »Nigger« bezeichnen, verhöhnend, verspottend oder einfach nur achtlos hingeworfen. Manche Abschnitte, in denen Baldwin wortmächtig die religiöse Verzückung seiner Protagonisten nachzeichnet, empfand ich schwer erträglich, denn mein beherrschender Gedanke war, dass auf diese Weise fanatische Gotteskrieger geboren werden.

James Baldwin: Von dieser Welt
aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
dtv 2018
Taschenbuch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-43413-3

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Ein großer Roman des kubanischen Schriftstellers, der eines der zentralen Themen unserer Zeit berührt: Migration. Cover: Unionsverlag. Bild: Canva.

Dieser Roman ist wie ein Paket, kunstvoll verschnürt, verklebt und darunter viele Schichten, Kartons und Kästchen. Das alles öffnet sich Seite für Seite vor den Augen des Lesers. Ein Enthüllungsroman, der manchmal wirkt, wie ein Krimi ohne Detektiv oder Kommissar, und dabei viele Themen unserer Zeit berührt. Im Mittelpunkt steht eines der ganz großen: Migration.

Der Klappentext von Wie Staub im Wind gibt die Marschrichtung für die Leser vor, indem er auf »Geheimnisse« verweist, die nach langen Jahren ans Licht kämen. Trotz eines Toten, verschiedener Fluchten und einer zerbrechenden Freundesgruppe handelt es sich jedoch nicht um einen Krimi, statt Kommissar und Polizeiarbeit folgt man einem vielfach gewundenen Weg einer Handvoll von Kubanern.

Durch die wirklich bemerkenswerte Struktur des Romans, seine ineinander verschlungene Multiperspektivität und zeitliche Vielschichtigkeit, kann Padura Ursache und Wirkung, Schuld und Folgen wunderbar gegeneinander stellen und den Leser direkt erleben lassen, was die Figuren viele Jahre mit sich herumtragen. Insofern weckt das Wort »Geheimnis« vielleicht Erwartungen, die enttäuscht werden, denn Handlungsspannung ist rar.

Die wichtigsten Personen sind Teil eines »Clans«, eines Freundeskreises, der zersprengt wird. Die Gruppe gehört anfangs eindeutig zur »sozialistischen«, kubanischen Gesellschaft, die jedoch trotz ihres geographisch und politisch insularen Charakters fest verwoben ist mit der globalen Entwicklung. Der Mauerfall von Berlin wirkte dort wie der Einschlag eines Kometen, der Schockwellen ausgelöst und keineswegs überall Begeisterung ausgelöst hat.

»Schau doch, was in Berlin passiert ist. Wir haben geglaubt, den Deutschen dort ginge es gar nicht so schlecht. Weißt du, dass sie nicht bloß die Mauer eingerissen haben? Sie haben auch die Stasiarchive gestürmt, und jetzt kann jeder nachlesen, von wem er bespitzelt und verpfiffen wurde.«

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Auf Kuba wurde Fidel Castros Herrschaft nicht gebrochen. Da die Insel aber nach dem Fall der Sowjetunion allein im Weltgeschehen bestehen musste, gelang das nur auf Kosten gewaltiger Entbehrungen für die Bevölkerung und unter Einsatz repressiver Mittel. Die Kubaner gehören in gewisser Hinsicht zu den Verlierern, ja: Opfern des Mauerfalls.

Selbstverständlich ist Wie Staub im Wind eine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen auf der Insel, die – ideologisch betoniert – für die Bevölkerung Jahre an Elend und Leid mit sich brachten. Hunger, schlechte medizinische Versorgung, grassierende Korruption, wirtschaftliche Stagnation, Verfall, Auswanderungs- und Fluchtwellen – alles wird anhand der Lebensläufe der Protagonisten hautnah erfahrbar.

Warum verließ jemand sein Heimatland, ohne es zu verlassen?

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Und doch geht Padura gleich mehrere Schritte weiter, manchmal mit haarsträubend direkten Äußerungen seiner Figuren, die aufgrund ihrer Schroffheit zum Nachdenken veranlassen. Es sei zu einfach, alles auf den Kommunismus zu schieben, meint eine von ihnen, denn die Menschen blieben unabhängig vom System immer die gleichen. Die Kubaner seien der größte Fluch des verfluchten Kuba.

Jene, die es schaffen, das Land zu verlassen, werden keineswegs automatisch zu glücklichen Menschen; Flüchtlinge stehen unter Druck und sind ungleich. Wenn sich etwa ein Kubaner in Florida bewusst wird, dass er im Gegensatz zu einem Flüchtling aus Haiti Glück gehabt hat, weil er aus Kuba kommt, wird deutlich, dass auch das Elend Hierarchie kennt.

Anderes kommt bekannt vor, ähnelt jenem, das etwa Deniz Ohnde oder Nina Haratischwili in ihren Büchern schildern. Der Flüchtling, der in seinem neuen Heimatland wirtschaftlich Fuß fasst, die Sprache sehr gut bis perfekt beherrscht, heiratet und so augenscheinlich ein Musterbeispiel von Integration sein sollte, ist und bleibt fremd (und wird so wahrgenommen), trotz seiner geradezu absurden Mühen.

»Katalanischer als die Katalanen sein und die eigene schäbige Herkunft vor sich selbst verstecken. Sich bei alledem niemals eingestehen, dass er nie ein echter Katalane sein würde, weder für sich selbst noch für die radikalen Rebellen, mit denen Montse verkehrte.«

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Diese Dinge sind nicht nur in Deutschland so, sie betreffen nicht nur die Einwanderer mit türkischen oder russischen Wurzeln hierzulande, sondern beschreiben ein globales Phänomen der Migration. Vielleicht ein guter Anlass, die Debatten um diese Frage aus der deutschtümelnden Sonderwegs-Befangenheit zu lösen.

Padura stellt gleich am Anfang Fragen, die möglicherweise Beifall von der falschen Seite auslösen könnten, wenn diese denn solche Romane läsen. Warum jemand sein Heimatland überhaupt verlasse, ohne es zu verlassen? An seinem neuen Lebensort, Florida, ausschließlich die Gesellschaft von Kubanern, kubanische Kultur, Sprache usw. suche, in einer Art Parallelgesellschaft lebe, wie das Phänomen in Deutschland genannt wird.

So kamen sie letztlich nie endgültig im Exil an, blieben für immer auf der Flucht. Sie nährten sich von gehätschelten Erinnerungen und träumten das süße Trugbild einer Rückkehr, sei es tot oder lebendig. […] Wer hierher floh, wollte Flüchtling bleiben.

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind

Ganz ähnliches kann man bei Haratischwili nachlesen. Faszinierend, dass etwas, das als typisch deutsch (und Versagen) wahrgenommen wird, im angeblichen Melting Pot USA ebenfalls anzutreffen ist. Und die Frage, früh im Roman gestellt, bekommt eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Antworten, die allesamt menschlich sind und damit zwingend unbefriedigend.

Apropos unbefriedigend: Zu den wenigen Kritikpunkten an Wie Staub im Wind gehört ausgerechnet der »Clan«. Die Gruppe, die an mehreren Stellen als verschworener Haufen bezeichnet wird, habe ich dem Autor nicht wirklich abgenommen. Eigentlich sind die Fliehkräfte von Anbeginn an klar, ebenso die Bruchlinien, während das Verbindende seltsam unscharf bleibt. Das ist angesichts der großen Stärken des Romans aber zu verschmerzen.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Leonardo Padura: Wie Staub im Wind
aus dem kubanischen Spanisch von Peter Kultzen
Unionsverlag 2022
Hardcover 528 Seiten
ISBN 978-3-293-00579-2

Lydie Salvayre: Weine nicht

Ein seltsam klingendes Zitat aus dem preisgekrönten Roman, doch hat der Krieg für die Hauptfigur die Tür aufgestoßen, durch die sie ihren Verhältnissen entkommen konnte. Kurzzeitig. Cover Blessing, Bild mit Canva erstellt.

Der Spanische Bürgerkrieg ist in der Literatur vielfach thematisiert, berühmte Schriftsteller wie George Orwell („Mein Katalonien“) oder Ernest Hemingway („Wem die Stunde schlägt“) haben über ihre Erlebnisse berichtet, es gehören literarische Perlen wie das Buch von Almudena Grandes („Der Feind meines Vaters“) und viele andere dazu. Auf dem vorzüglichen Literaturblog Kaffeehaussitzer findet man ein Leseprojekt Spanischer Bürgerkrieg, das eine anregende Buchliste enthält.

2014 hat die Verleihung des französischen Literaturpreises Prix Goncourt ein weiteres Buch ins Rampenlicht gestellt: Weine nicht. Deren Autorin, Lydie Salvayre, hat Wurzeln, die nach Spanien reichen. Sie wurde als Tochter einer Frau geboren, die gerade noch vor den siegreichen Streitkräften des faschistischen Diktators Franco fliehen konnte. Ihr Roman nähert sich dem Thema auf besondere Weise.

Der Spanische Bürgerkrieg gilt vielen als Präludium für den Zweiten Weltkrieg. Das ist etwas eurozentrisch gedacht und auf das Deutsche Reich fokussiert, das in Spanien mit der so genannen „Legion Condor“ Franco unterstützte, während die Verteidiger der Republik nur durch die Sowjetunion Unterstützung erhielten – zu einem hohen Preis, was in Weine nicht dankbarerweise nicht verschwiegen wird: Stalin schickte Waffen und Terror nach Spanien, dem mehrere zehntausend Menschen zum Opfer gefallen sind.

Vielfältige Perspektiv- und Zeitwechsel

Selbstverständlich werden auch die Hinrichtungen durch die Franco-Faschisten nicht übergangen. Die Darstellung ist besonders eindrücklich, weil die Autorin dafür die Perspektive des konservativen Katholiken George Bernanos wählt. Erschüttert durch die Brutalität und die ignorante, menschenverachtende Haltung der Katholischen Kirche räumt der Mann seine politische Position und dokumentiert die Gräueltaten in seinem Werk: Die großen Friedhöfe unter dem Mond.

Schlimme Zeiten für die, die Heilslehren aller Art misstrauten und die lieber ihrem Gewissen gehorchten als doktrinären Einpeitschern der einen oder anderen Seite.

Lydie Salvayre: Weine Nicht

Salvayre lässt Teile daraus und andere Dokumente geschmeidig in ihren Roman einfließen, ihre Erzählung wandelt spielerisch zwischen faktenreicher Darstellung, Erzählung und Erinnerung, Fiktion und Auszügen aus Quellen. Die Handlung spielt auf mehreren zeitlichen Ebenen, die Autorin mischt kräftig mit, erläutert und kommentiert ihren Schreibprozess, außerdem ist die Interpunktion sehr freizügig gestaltet.

Beeindruckende Leichtigkeit

Der Roman rutscht trotzdem zu keinem Zeitpunkt in ein undurchsichtiges Wirrwarr ab und erzählt mit einer wunderbaren Leichtigkeit. Das liegt auch daran, dass ihm im Kern eine (tragische) Liebesgeschichte als Leitfaden eingewoben wurde. Die Hauptfigur, Montserrat, schließt sich mit ihrem Bruder den Verteidigern der Republik an. Für kurze Zeit erlebt sie Freiheit und ihre große Liebe.

Der Krieg, meine Liebe, ist genau zum rechten Zeitpunkt gekommen.

Lydie Salvayre: Weine Nicht

So ist das Zitat auch zu verstehen, dass der Krieg zum rechten Zeitpunkt gekommen wäre. Diese flammende Liebe mündet in ein würgendes Desaster, mit lebenslangen Folgen. Es gehört zu den großen Stärken des Buches, dass es den Leser einmal nachempfinden lässt, wie weit die Schatten eines Krieges reichen, auch wenn die Kampfhandlungen lange beendet sind.

Zum Zeitpunkt dieses persönlichen Liebes-Desasters machen Montserrat und ihr Bruder Erfahrungen mit der grausamen Realität der Kriegführung. Die Ideale sind menschenverachtender Ideologie gewichen, auch die Sache der Verteidiger der Republik hat ihren Glanz eingebüßt. Auch aus diesem Grund kehren beide in ihre Heimat zurück.

Besonders wertvoll macht diesen Roman der Umstand, dass er eindrücklich nacherzählt, wie sich die Haltung der Bevölkerung in Montserrats Heimatort gegenüber Revolution und dem sich abzeichnenden Sieg der Franco-Seite wandelt. Wer von Umstürzen träumt, sollte hier genau lesen und zuhören, denn so einfach ist die Sache nicht, auch wenn zu Beginn einer Umwälzung die Begeisterung groß ist.

Leider ist der Roman nur noch antiquarisch erhältlich.

Lydie Salvayre: Weine nicht
aus dem Französischen von Hanna von Laak
Blessing 2016
Hardcover 256 Seiten
ISBN: 978-3896675644

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