Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Historischer Roman (Seite 1 von 17)

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

Dem Roman Im Frühling sterben von Ralf Rothmann stand ich vor der Lektüre skeptisch gegenüber. Das lag an einer Lesung des Autors beim Göttinger Literaturherbst 2023, bei er Passagen aus Theorie des Regens vorgetrug. Trotz des vielversprechenden Titels haben mir die gelesenen Teile des Buches nicht besonders zugesagt, weder inhaltlich noch sprachlich. Nach der Lesung habe ich Autor Rothmann zunächst einmal in die Kategorie nicht lesenswert einsortiert.

Trotzdem habe ich nun die Lektüre seines Romans in Angriff genommen, was weniger an einigen positiven Besprechungen auf Literatur-Blogs lag, als an der schnöden Tatsache, dass ich das Buch bereits im Regal stehen hatte. Vor allem aber wegen des Themas: Erzählt wird die Geschichte von Walter, einem einfachen Melker, der im Frühling 1945 zur Waffen-SS zwangsgezogen wird und auf dem Balkan in die Blutmühle des untergehenden Hitlerreiches gerät.

Mit Rothmann als Autor bin ich nach der Lektüre von Im Frühling sterben wieder versöhnt. Der Kriegsroman hat große Stärken, die Sprache steht – wie Autor und Leser als Nicht-Zeitzeuge und erst recht nicht erlebender Augenzeuge – dem Sujet angemessen distanziert, direkt, nüchtern und frei von pathetischem oder gar belehrendem Palaver entgegen. Bei mir blieben einige Szenen unauslöschlich haften.

Zwei Hitlerjungen in einem Nachschubflieger, der beim Landeanflug von einem sowjetischen Flugzeug attackiert und abgeschossen wird. Aus der Sicht Walters wird das Geschehen ebenso knapp wie eindrücklich beschrieben, die Bilder entstehen im Kopf des Lesers. Bei diesem Beispiel wie bei Dutzenden anderen in diesem Buch, am Ende steht ein Panorama des Schreckens, ohne belehrende Nötigung durch den Autor.

Das hat mich enorm beeindruckt und ist eine der großen Qualitäten des Romans. Gelungen finde ich auch den Umgang mit dem Thema »Waffen-SS«, angefangen von der Blut-Gruppen-Tätowierung und ihre bisweilen dramatischen Folgen trotz zwangsweiser Rekrutierung bis hin zum ersten Hinweis auf die spätere Instrumentalisierung, um die Schuld der Kriegsverbrechen auf eine möglichst kleine Gruppe Deutscher zu reduzieren.

Die Zuspitzung der Dramatik durch die sich früh und allzu offen ankündigende Fahnenflucht von Walters Freund Friedrich und seine Erschießung wirken ein wenig aufgesetzt und unnötig im allgemeinen Untergang. Immerhin gelingt es Rothmann, die Szene zu motivieren und mit angemessenen Worten zu schildern. Trotzdem sticht das aus dem insgesamt sehr guten Roman eher negativ heraus.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben
Suhrkamp 2015
Hardcover 234 Seiten
ISBN: 978-3-518424759

»Verräter« – Piratenbrüder Band 6

Nach dem Erfolg des Aufstands auf Castelduro beginnen die Problem erst und stellen die Piratenbrüder und ihre Freunde vor gefährliche Herausforderungen.

Ausgerechnet Jason Buckler als Hoffnungsträger? Als die Piratenbrüder und Pete Larsen dem Gasthauswirt und selbsternannten »Verwalter« der Insel Castelduro zu Beginn des Romans Chatou Piratenbrüder Band 2 erstmals begegneten, hätte das keiner von ihnen für möglich gehalten. Eine aasige Kreatur, ruchlos, heimtückisch und anpassungsfähig – es ist wenig verwunderlich, dass es Buckler gelungen ist, sich Lord Cornelius Thaddaeus Warrington anzudienen. Er erweist sich als vorzüglich geeignet als Oberaufseher über die versklavten Afrikaner.

Warum sollte ausrechnet jemand wie Buckler den Jägern von John Black helfen?

Henry, Pete und die Piratenbrüder haben ohnehin noch ganz andere Sorgen. Der Aufstand der Sklaven auf Castelduro endete nur mit großer Mühe in einem Sieg, an dessen Ende es beinahe zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Aufständischen und ihren Helfern gekommen wäre. Diese Gefahr ist keineswegs gebannt.

Mehr noch: Warrington wird mit seinen verbliebenen Linienschiffen irgendwann nach Castelduro zurückkehren und sein Eigen zurückfordern. Kämpfen käme angesichts der Übermacht einem Selbstmord gleich. Folglich sollten Henry und seine Getreuen die Insel schnellstmöglich verlassen. Damit würden sie Akono und die Aufständischen im Stich lassen, ein Dilemma, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt.

Verrat kennt viele Gesichter.

Verräter – Piratenbrüder Band 6

Was wirklich geschieht, übertrifft alle Befürchtungen und Erwartungen in jeder Hinsicht. Der Erfolg auf Castelduro erweist sich politisch für Henrys Ziele als Pyrrhus-Sieg, die Spanier entpuppen sich als unzuverlässige Verbündete. In London ist das zersetzende Gift der Lüge längst am Werk, inmitten einer aufgeheizten Stimmung, in der immer lauter ein Krieg gefordert wird. Vor allem anderen aber sind John Black und seine Piraten nicht müßig, was auch Joshua und Jeremiah zu spüren bekommen.

VerräterPiratenbrüder Band 6 ist das dramatische Luftholen vor dem großen Finale der Buchserie. Joshua muss sich beweisen, mit und ohne Waffe, Stück für Stück enthüllt sich eine bedrohliche Verschwörung, während die Piratenbrüder in einer längst vergessenen Festung nach dem letzten Puzzlestück des Rätsels um den Standort von John Blacks Stützpunkt fahnden.

Eine Leseprobe gibt es hier: Verräter

Das Taschenbuch (424 Seiten) ist bei Autorenwelt, Buch 7, geniallokal, Amazon & anderen Online-Buchhändlern sowie im lokalen Buchhandel erhältlich.
eBook exklusiv bei Amazon (Kindle und Kindle unlimited).

Bisher erschienen (auf das Cover klicken)

Ein Chateau in Frankreich

So beginnt der letzte Band der Buchreihe um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah – beim jetzigen Stand der Dinge jedenfalls. Es kann sich bis zur Veröffentlichung des Buches 2026 noch einiges ändern.

Auf dem Weg in die Bretagne machten wir 2016 in Blois für zwei Nächte Halt und besichtigten Chambord. Das war überwältigend. Dieser gewaltige Bau mit seiner genialen Wendeltreppe, den riesigen Räumen und weitläufigen Fluren, vor allem aber dem Dach, das wirkt, als habe jemand eine Art Spielzeugstadt aus reich verzierten Türmchen und Erkern errichten wollen.

Am Wochenende habe ich die Bilder von damals noch einmal herausgekramt und betrachtet. Was würden meine Piratenbrüder Joshua und Jeremiah wohl beim Anblick von Chambord denken? Joshua kennt aus England bzw. London prächtige Bauten, allerdings wäre dieses Chateau wohl trotzdem etwas Besonderes. Jeremiah ist in der Neuen Welt geboren und aufgewachsen, er wäre wohl überwältigt. Da müsste es nicht einmal Chambord sein, an der Loire stehen schließlich einige sehr prächtige Schlösser.

Was aber könnte Joshua und Jeremiah nach Frankreich führen?

Ein schier überwältigender Anblick: Chambord bei Blois.

Gegenwärtig sitzt ich an Opfergang – Piratenbrüder Band 7. Die Arbeit geht langsam voran. Pathetisch formuliert: Häuserkampf statt weitläufiger Durchbruch. Ich wühle mich Schritt für Schritt durch das vor drei Jahren fertiggestellte Rohmanuskript. Nichts davon bleibt so, wie es ist. Das meiste bereits Geschriebene streiche ich und schreibe die entsprechenden Passagen neu; einige Dinge schreibe ich um.

Ich weiß aus Erfahrung, dass ein Teil von dem jetzt Geschriebenen wahrscheinlich dem Rotstift im Lektorat zum Opfer fällt. Es ist auch durchaus möglich, dass der gesamte Teil, den ich jetzt verfasse, auf dem Manuskript komplett rausfliegt. Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Umwege dieser Art gehören bei mir zum Schreiben dazu.

Anders ist diesmal im Vergleich zu den Vorgängerromanen, dass ich bereits jetzt lektorierend streiche. Mehrfach habe ich ganze Seiten am Tag nach ihrer Entstehung wieder gelöscht. Das ist neu. Ich erhoffe mir davon nicht weniger Arbeit im Lektorat, sondern mehr Kapazität für andere Verbesserungen.

Eines ist aber so wie immer und  wird sich aber wohl nie abstellen lassen: aufkeimende Panik wegen der verstreichenden Zeit. Denn die Uhr tickt unerbittlich, auch wenn es sich um eine Sanduhr handelt.

Bisher erschienen (auf das Cover klicken)

Fertig!

Das Zitat könnte ein Motto für den Roman sein.

Ein kurzes Wort für einen langen Arbeitsprozess. Im Juni 2024 habe ich mit der Arbeit am Rohmanuskript von Verräter – Piratenbrüder Band 6 begonnen. Jetzt ist die inhaltliche Arbeit getan, das Korrektorat läuft und im März steht der Buchsatz an. Wenn die Druckfahnen geprüft sind, wird ein Probeexemplar gedruckt und von mir laut vorgelesen – die letzte Korrektur-Instanz bevor die Veröffentlichung erfolgt.

Das kurze Wort »fertig« bezieht sich auf die inhaltliche Arbeit, den mit Abstand wichtigsten Teil. Ein Rohmanuskript ist eine Großbaustelle. Kurioserweise habe ich vor der erneuten Lektüre oft das Gefühl, der Text wäre schon »reif«, zumindest reifer als die vorangegangenen Rohmanuskripte. Ein Irrtum.

Ein paar Zahlen zeigen das. Anfang Juni 2024 umfasste Verräter rund 74.500 Wörter, Ende Oktober 98.000 Wörter und  nun ist der Text auf weniger als 85.000 Wörter zusammengeschnurrt. Dem langwierigen Ausarbeiten folgt das Umarbeiten und Streichen, am Ende steht das Kürzen. Das ist traditionell schmerzlich, auch liebgewonnene Passagen, Formulierungen landen im Papierkorb.

Am Ende ist Verräter viel dramatischer geworden, als ich ursprünglich geplant habe. Das liegt nicht zuletzt an einem Loch im Handlungsfaden, das durch eine actionreiche Begegnung von vier Schiffen auf hoher See gefüllt wurde. Die Idee kam mir durch einen Hinweis auf Instagram. Ja, so etwas gibt es auch.

»Klar zum Entern!«
Mit einem harschen Krachen, Knirschen und Schaben stießen die Rümpfe der beiden Schiffe aneinander. Einige Granaten flogen durch die Luft, gedankenschnell griffen Männer danach und beförderten sie über Bord. Eine explodierte und riss einen Seemann in den Tod.
»Vorwärts!«

Verräter – Piratenbrüder Band 6

Mir fiel auf, dass ich gar kein klassisches Entergefecht in den ersten fünf Bänden erzählt habe. Damit bot sich unerhofft die Möglichkeit, einen weiteren Erzählfaden aus dem ersten Teil Eine neue Welt bei der Gelegenheit aufzugreifen und abzuschließen; meine Hauptfigur bekommt zudem die Möglichkeit, sich zu bewähren. Vor allem passt die merkwürdige Begegnung auf See ganz wunderbar in die allgemeine verworrene Lage, in der sich Henry de Roche und seine Mitstreiter beim Kampf gegen John Black befinden. Es gibt Antworten und einige neue Rätsel.

Schlachten sollten – wie Sex-Szenen – zum Fortgang der Handlung etwas beitragen. Ein Grund, warum ich Das Lied von Eis und Feuer von George R.R. Martin schätze, ist sein Umgang mit Schlachten. Martin hat anderes zu erzählen und so dauert es genreuntypisch lange, bis in dem Fantasy-Epos erstmalig eine Schlacht geschildert wird. Daher war ich froh, dass die Action auf See in Verräter diie Handlung und die Charakterentwicklung vorantreibt. Die Kapitel sind für die Erzählbalance des Romans obendrein ein Segen.

Wie die Zahlen zeigen, habe ich den gesamten Roman grundlegend umgekrempelt und am Ende stark gestrafft. Ganze Kapitel sind dem Rotstift zum Opfer gefallen, der Beginn ist erneuert, auch gibt es ein neues, sehr kurzes Schlusskapitel, das mehr ein Epilog ist. Die Grundstruktur des Romans blieb allerdings unverändert. Darüber bin ich sehr froh, denn im zweiten Teil von Verräter machen die Piratenbrüder Bekanntschaft mit einer ungewöhnlichen Person an einem ungewöhnlichen Ort, der heute in Vergessenheit geraten ist.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Die völlig unvorbereitete Flucht Anfang 1945 kostete Hunderttausende ihr Leben. Kempowski schildert eine Welt, die sich eingesponnen hat in ihre Unwirklichkeiten und die hereinbrechende Realität nur zögerlich annimmt. Das geht über die konkrete historische Situation weit hinaus. Cover btb, Bild mit Canva erstellt.

Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreußen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen jetzt im Winter wie eine schwarze Hallig in einem weißen Meer.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Wer das ostpreußische Städtchen Mitkau auf einer Karte sucht, wird sie nicht finden. Walter Kempowski lässt seinen Roman Alles umsonst zum großen Teil in der Nähe einer erdachten Ortschaft spielen. Realitätsfern ist auch das in die Jahre gekommene Gut Georgenhof, in dem die Personen in Unwirklichkeiten versponnen ihre Tage verleben. Ihre letzten, denn die Handlung führt in den blutigen Januar 1945, in dem Millionen Soldaten und Zivilisten ihr Leben ließen.

Das Gut bewohnen Katharina von Globig, eine zugezogene, verträumte Schönheit, die Gutsbetrieb, Mitkau und der Region fremd geblieben ist. Sie ist verheiratet mit Eberhard von Globig, der wilhelminischem Beamtenadel entstammt und in der Wehrmacht als Offizier Dienst tut: Frankreich, Ukraine, Italien. Etappe statt Front, was sich im Raubkrieg mit wiederholt eintreffenden Paketen mit kulinarischen Köstlichkeiten niederschlägt. Trittbrett fahrende Kriegsgewinnler.

Zur Familie gehört noch das »Tantchen«, Helene Harnisch, eine Anverwandte aus Schlesien, die nach einem Bankrott im Georgenhof Unterschlupf gefunden hat und dort – gegen ein Taschengeld – defacto den Laden in Schuss hält, weil sie im Gegensatz zu Katharina nicht der Wirklichkeit entrückt ist. Sohn Peter ist ganz in seine Kindheit versponnen, seine Schwester Ida verstorben. Peter ist – wie alle anderen im Gut lebenden Menschen – isoliert, kränkelnd gehört er nicht der Hitlerjugend an; von Linientreue kann bei den von Globigs und ihrem Haushalt keine Rede sein.

Kriegsbedingt arbeiten Wladimir, ein Pole, Anna und Vera, zwei von Eberhard selbst angeworbene Ukrainerinnen, auf dem Hof. In einem nahegelegenen, ehemaligen Gasthof hausen zur Zwangsarbeit verpflichtete Europäer verschiedener Herkunft, Kriegsgefangene und Zivilisten. Regelmäßiger Gast im Georgenhof ist Lehrer Dr. Wagner, der sich um Peter kümmert, so lange die Schule für Flüchtlinge zweckentfremdet und geschlossen ist.

Auf der Straße fuhr ein einzelnes Auto in Richtung Mitkau rasch vorüber, dann folgten andere und schließlich Lastwagen, auch Panzer, einer hinter dem anderen, die Glasperlen der Lampe klirrten. Dann trat Stille ein.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Die Erzählung setzt am 8. Januar 1945 ein, vier Tage vor Beginn der Großoffensive der Roten Armee, die innerhalb von drei Wochen von der Weichsel bis an die Oder vorrücken sollte. Noch herrscht die Ruhe vor dem Sturm, die niemandem recht geheuer ist, und trotzdem außer vereinzelten besorgniserregenden Gedanken keinerlei Vorbereitungen auf eine Flucht hervorruft. Dabei haben die von Bewohner des Guts schon eine Reisebescheinigung und könnten jederzeit aufbrechen, wo andere endlos auf die Genehmigung warten mussten, die – wenn überhaupt – kam, als es zu spät war.

Besucher kommen ins Haus, ein Ökonom, eine Geigerin, ein Wehrmachtssoldat, Flüchtlinge aus dem Baltikum und dem Osten Ostpreußens; sie erzählen, oft Lügen, machen Andeutungen über die im Osten begangenen Verbrechen, Andeutungen die im Hause von Globig niemand versteht. Die Gäste nehmen Essen und Gesellschaft gern an, sie übernachten dort, stehlen und machen sich wieder von dannen.

Die Leute auf dem Gut leben unter einem Damoklesschwert, das sie zur Kenntnis nehmen könnten; sie tun es nicht, auch wenn sie mit der Nase darauf gestoßen werden. Der Kontrast zwischen der lebensbedrohlichen Lage und der hauseigenen Unwirklichkeit lässt sich weder mit Dummheit, Propaganda noch Angst vor dem NS-Terror erklären, die Ignoranz ist etwas, das weit über die konkrete Situation hinausreicht.

Menschliches Verdrängen im Angesicht einer überwältigenden Katastrophe ist wahrlich ein grundlegendes Phänomen. Ausnahmen bestätigen die Regel, Hannah Ahrendt etwa, die 1940 beim Herannahen der Wehrmacht Chaos und Anarchie unter den französischen Behörden nutzte, um sich von ihrem Internierungslager zu entfernen. Viele andere blieben, warteten ab und starben.

›Sofort die Sachen packen und auf und davon! Ja? Wegfahren, alles stehen und liegen lassen … Gleich morgen früh! … Die Russen kommen!‹

Walter Kempowski: Alles umsonst

Der Leser des Romans weiß, was kommen, was über die Menschen hereinbrechen wird. Immer wieder wird daran erinnert, im Nebensatz, wie willkürlich eingestreut. Ein Fliegeralarm. Zur Front rollende Panzer. Eilig zurückgenommene Front-Lazarette. Gerüchte. Nebensächlichkeiten, beunruhigend, aber auch nur am Rande des vorwärts wälzenden Erzählstroms, den Erinnerungen, Gedanken und Beschäftigungen der Figuren.

Von einer Handlung kann man eigentlich nicht sprechen, eher von Nicht-Handeln. Für einen Leser wie mich ist diese Form hintergründiger Spannung kaum erträglich. Immer wieder möchte man den Personen zurufen, sie aufrütteln, aus ihrem Dornröschenschlaf der unbedarften Weltabgewandtheit wecken. Ein sinnloses Unterfangen, wie man weiß und Autor Kempowski perfide vorführt: Offene Warnungen führen zu groteskem Verhalten.

Erst einmal abwarten; nichts werde so heiß gegessen …; jemand werde schon sagen, was zu tun sei …; Ob man die Vorhänge waschen sollte, alles gründlich saubermachen, bevor man geht? So in etwa sind die grotesk anmutenden Gedankengänge, auch nach der zweiten, dritten Warnung und Ermunterung, schnellstmöglich das Weite zu suchen, sich in Sicherheit zu bringen. Für den Leser frappierend, denn er ahnt schon – nein, er weiß, dass kein gutes Ende naht. Der Titel des Romans, Alles umsonst, sollte unbedingt ernstgenommen werden.

Und der Mann in seinem Versteck dachte an die dunklen Tage, die vor ihm lagen. es war ja eigentlich ganz ausgeschlossen, daß er es schaffen würde.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Auf kunstvolle Weise hat Kempowski das Schicksal seiner Figuren mit dem anderer verwoben. Da wären die Ukrainerinnen, Wladimir und die vielen fremden Arbeiter, die Gegenstand von vielen versteckten, subtilen und ganz offenen rassistischen Äußerungen sind, hinter denen sich das Grauen der völkischen Ideologie und des Vernichtungskrieges wie ein gewaltiger Schatten erhebt. Andeutungen reichen, um den Abgrund des Zivilisationsbruchs zu zeigen.

Doch wird ausgerechnet Katharina, die Weltfremde, vom Pastor Mitkaus um eine Gefälligkeit gebeten: Sie sollte für eine Nacht einen vor dem Regime Fliehenden aufnehmen. Als sie den warnenden Anruf ihres Ehemannes entgegennimmt, befindet sich dieser Mann gerade in ihrer Obhut. Beide Schicksalslinien kreuzen sich in dieser ebenso grotesken wie dramatischen Situation, das Leben ist aus mehreren Richtungen bedroht, gerade im Januar 1945, Gestapo, SS und Feldpolizei kennen keine Gnade.

Die Tragödie nimmt ihren Verlauf. Auch als an der Front tausende von Geschützen die Erde im Umkreis von vielen Kilometern zum Beben bringen, können sich die Bewohner des Georgenhofs nicht aufraffen. Die »Flucht« beginnt zur Unzeit, als die rasch vordringenden Sowjets den Weg ins Reich nach Westen bereits abgeschnitten haben. Nur das zugefrorene Haff und der Abtransport über See bieten noch seidenfadene Hoffnung.

Am Straßenrand lagen Tote, manche saßen erstarrt an einem Chausseebaum; Greise, die nicht mehr weitergekonnt hatten, und kleine Kinder.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Kempowski schildert die ungeheuerlichen Umstände dieser überstürzten Flucht, das massenhafte Sterben mit unpathetischen, oft lakonischen Worten. Die ungezählten Toten sind Nebensächlichkeiten am Wegesrand, wie ein Echo der vorher nebensächlichen Frontgeräusche. Manche sind erfroren oder an Erschöpfung gestorben, andere wurden erhängt, weil sie angeblich Deserteure, Plünderer, Feiglinge wären.

Gelegentlich blitzt das Motiv der aus Russland durch Ostpreußen zurückflutenden Trümmer von Napoleons Grande Armée im Jahr 1812 auf. 1945 nimmt der Untergang apokalyptische Dimensionen an, eine Götterdämmerung ohne jedes schwülstige Pathos, wie ihn Nationalsozialisten jahrelang heraufbeschworen hatten. Der Tod kommt so gnadenlos und unspektakulär, im Halbsatz, im Nebensatz sterben Kempowskis Figuren.

Von der »Volksgemeinschaft«, einem weiteren wirklichkeitsfernen Propagandastück, ist nichts zu merken. Jeder ist sich selbst der Nächste. Das gilt auch für »Oberwart« Drygalski, einen stramm linientreuen Nachbarn der von Globigs, der schneidig seine Anweisungen mit einem »zoffort!« würzt. Er lässt seine Frau zurück und macht sich vor der herannahenden Front zurück. Eine wunderbare Figur, die den Leser vom ersten Augenblick an abstößt und über viele Kapitel enerviert. Ganz am Ende des Romans macht ausgerechnet Drygalski eine spontane, völlig unvermutete Tat – und der Leser taumelt schweratmend aus der Handlung.

Der Roman ist das erste Buch aus meinem Lesevorhaben Wiedergelesen – 4für2025

Walter Kempowski: Alles umsonst
btb Verlag 2006
Taschenbuch 384 Seiten
ISBN: 978-3-442-73736-7

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