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Volker Kutscher: Westend

Der Schlussstein im weitläufigen Gebäude der Romane um den Berliner Polizisten Gereon Rath. Volker Kutscher wählt eine gelungene Form, Kat Menschik liefert stimmungsvolle Illustrationen. Cover Galiani, Bild mit Canva erstellt.

Lesen oder doch lieber nicht? Die Frage war für mich nicht so einfach zu klären, schließlich handelt es sich um einen knappen Folgeband einer umfangreichen und in mancher Hinsicht auch glanzvollen Buchreihe. Die Gefahr einer Enttäuschung oder Entzauberung ließ sich nicht ausschließen. Volker Kutscher hat mit Westend jedoch einen Joker ausgespielt, der über das schnöde Was-ist-mit-diesem-und-jener-passiert hinausgeht. Wer sich für die Schicksale interessiert, bekommt überraschende Antworten, auf eine spezifische Weise, denn am Ende ist eben nichts beendet und keineswegs alles geklärt. Und doch ist Westend tatschächlich Schlussstein der Gereon-Rath-Romane.

Rath, der Schlussband der zehnteiligen Buchreihe um Gereon Rath, hat einige Erzählfäden offengelassen. Mehr noch: Die letzten Seiten des Romans deuten ein außerordentliches Schicksal des Adoptivkindes von Gereon und Charlotte Rath, Friedrich Thormann, an, der in der schwarzen Uniform der SS eine riskante Form der Rache verfolgt. Dabei könnte man es belassen, eine Sequel-Reihe schreiben oder im Rahmen eines illustrierten Nachzöglings eben einige Schicksale im Mahlstrom der Apokalypse des Zweiten Weltkrieges skizzieren.

Volker Kutscher hat sich für letztere Variante entschieden und nach Moabit und Mitte mit Kat Meschik einen dritten Band ergänzend zu seiner Buchreihe verfasst. Westend führt in das Jahr 1973 und wählt eine überraschende Form des Erzählens: ein Interview, das auf Kassetten gespeichert wird. Ein Historiker befragt Rath, der – wie gewohnt nolens volens – Auskunft gibt; auf den ersten beiden Seiten erfährt der Leser von einer weiteren Person, die sich später hinzugesellt – Charlotte Böhm. Damit ist schon eine Menge verraten und ich werde an dieser Stelle nicht noch mehr vom Inhalt offenbaren.

Das waren die amerikanischen und britischen Bomber.

Volker Kutscher: Westend

Das bisher Gesagte ist keine große Hilfe bei der Beantwortung der Frage, ob man zu dem Buch greifen sollte oder nicht. Es gibt sehr gute Gründe, warum in Romanen nicht alles auserzählt wird. Im Falle Gereon Raths habe ich dennoch nach recht kurzer Bedenkzeit die Entscheidung getroffen, das Buch zu lesen. Neben der Neugier, was einige Protagonisten nach dem Ende des Romans Rath erlebten, lag der wichtigste Grund darin, dass eine meine anfängliche Hauptfrage, wie Rath sich im Vernichtungskrieg verhielte, ohnehin offenbleiben würde.

Gereon Rath ist 1899 geboren, Kriegsteilnehmer ohne Fronteinsatz und Polizist in den Jahren der Weimarer Republik. In den Romanen Kutschers tritt er als politisch ahnungsloser Zeitgenosse auf, ist korrupt und ein Meister des Lavierens. Als ich die ersten Romane der Reihe las, ist mir aufgegangen, hier dem Lebensweg eines jener „ganz normalen Männer“ (Browning) zu folgen, die ab 1941 in den berüchtigten Polizeibataillonen hinter der vorrückenden Wehrmacht auf dem Gebiet der “Bloodlands“ (Snyder) Millionen Juden erschossen. Ich war gespannt, wie der begnadete Lavierer in dieser totalen Situation reagieren würde.

Volker Kutscher hat seiner Romanfigur dieses Schicksal erspart. 1936 sollte die Buchreihe eigentlich enden, nach Olympia folgten noch zwei weitere Teile. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war; Brüche waren schwer vermeidlich. Der Ausweg, den Berliner Teil der Erzählung auf die Schultern von Charlotte Rath zu legen, funktioniert, hatte aber den Nachteil, dass der Fokus von der ursprünglichen Hauptfigur abrückt. Das gilt nicht umsonst als schwierig, aus guten Gründen, wie die Romane Transatlantik und Rath zeigen. Die größte Stärke der Reihe, die Atmosphäre, prägt auch die beiden Schlussbände.

Das sollte nicht als verkappte Kritik verstanden werden, die beiden Schlussteile der Buchreihe sind und bleiben sehr gute Romane; sie erzählen mehr, als ursprünglich gedacht war, zugleich bleibt das, was mich ganz besonders interessierte, offen. Das war letztlich ausschlaggebend, mich für die Lektüre von Westend zu entscheiden. Hinzu kommt noch die Verfilmung der ersten Bände der Buchreihe, Babylon Berlin scheitert auf grelle Weise beim Versuch, die Romane zu übertrumpfen, indem es überzieht und in schwurbelndes Raunen abdriftet. Zugleich verweigert die Film-Serie den Schritt in die Nazizeit, lässt also noch mehr offen als die Buchvorlage. Die Geschichte von Gereon Rath ist also in meiner Rezeption auch noch multimedial verzerrt. Was kann da schon bei einem Epilog aus der Feder des Autors schiefgehen?

Ich weiß nicht, was du willst, Gereon Rath. Das, was du willst, und das, was du anrichtest, das waren schon immer zwei paar Schuhe.

Volker Kutscher: Westend

Die Lektüre von Westend macht großen Spaß, was nicht zuletzt an den stimmungsvollen und den Geist der 1970er Jahre atmenden Illustrationen von Kat Meschik liegt. Es gibt einige Kostbarkeiten zu entdecken, eine Reminiszenz für die Zeitgenossen, ein Museums-Oha für die Nachgeborenen. Es ist begrüßenswert, dass Kutscher die Form des Interviews bzw. Dialogs gewählt hat, auch in der Form ist der Bruch mit den Romanen vollzogen – aber eben nur in der Form. Gereon Rath jedenfalls handelt so, wie man ihn in den Romanen kennengelernt hat, mit den bekannten Folgen.

Inhaltlich hat es Westend in sich, es geht nicht zuletzt um das Erinnern, den verlogenen Mythos der Stunde Null, Lügen privater und staatlicher Natur, zwischen denen der Einzelne zerrieben wird oder aber trotz aller Schuld davonkommt. Das Leben ist nicht gerecht. Es scheint nur vorgezeichnet, insbesondere in Zeiten dramatischer Umbrüche geraten die Lebenswege rasch zu Achterbahnen, auf deren Lauf der Einzelne nur wenig oder gar keinen Einfluss hat. Für die Gegenwart des Lesers ist das wie eine Art Spiegel, denn die Brüche haben seit 2014 epochalen Charakter. Es ist daher vielleicht auch mehr als ein Zufall, dass die zehn Romanbände Volker Kutschers von einem anderen fundamentalen Bruch erzählen. Westend bildet in diesem Sinne tatsächlich einen gelungenen Schlussstein.

Rezensionsexemplar, für das ich mich gern beim Galiani Verlag bedanke.

Volker Kutscher: Westend
Illustriert von Kat Meschik
Galiani Berlin 2025
Gebunden 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-323-6

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Was wäre, wenn Hitlerdeutschland den Krieg gewonnen hätte? Unter den Romanen, die sich mit diesem dystopischen Szenario einer alternativen Geschichte befassen, ragt dieser heraus. Der Autor konfrontiert den Leser mit einer vielschichtigen Erzählung, die mich begeistert. Cover Fischer-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Noch immer bin ich unentschieden, ob mir der englische Original-Titel The man in the High Castle oder die deutsche Übersetzung Das Orakel vom Berge besser gefällt. Philip K. Dicks Roman enthält beide Motive, die englische Version klingt martialischer, weckt Erwartungen beim Leser, mit denen der Autor ganz wunderbar spielt. Kein Wunder, dass die Verfilmung auch in Deutschland bei dieser Version bleibt.

Der deutsche Titel betont das Mysteriöse und Orakel haben eine bedeutende Rolle im Verlauf der Handlung: Viele Personen des Romans befragen das Orakel und versuchen, die Ergebnisse auf ihre aktuelle Situation zu beziehen. Keineswegs nur die japanischen Herren der amerikanischen Ostküsten, auch die weißen Amerikaner selbst. Ob Orakel auch im deutsch besetzten Teil der Ostküste Verwendung finden, ist zweifelhaft.

Bitte was? Japaner und Deutsche beherrschen die USA? Philip K. Dick hat einen Roman verfasst, in dem die Geschichte eine andere Wendung genommen hat. In dieser alternativen Welt haben das Dritte Reich und Nippon den Zweiten Weltkrieg gewonnen, von einem neutralen Teil in der Mitte der USA abgesehen, ist das Land wie eigentlich die gesamte Welt von den Siegern unterworfen worden.

Jedenfalls hatte es zweihundert Jahre gedauert, die amerikanischen Eingeborenen zu beseitigen, und Deutschland hatte es in Afrika beinahe in fünfzehn Jahren geschafft. Kritik war daher  nicht angebracht.

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Die Welt, in der die Leser des Romans eintauchen, ist nichts für schwache Nerven, wie das Zitat zeigt. Der militärische Sieg hat dem rassistischen Völkermordprogramm der Nazis den Weg freigemacht, nicht nur Juden und die im Osten Europas lebenden Menschen wurden ausgelöscht oder unterjocht, auch in Afrika gehen nur noch die »Geister ausgelöschter Stämme«.

Ein gravierender Unterschied zu den Japanern, wie einige der Amerikaner im Roman immer wieder betonen. Bisweilen werden die asiatischen wie ihre mitteleuropäischen Weltbeherrscher recht klischeehaft in ihren charakteristischen Eigenheiten gezeichnet; doch sind Holocaust, Genozid, Gaskammern bei den Japanern undenkbar.

Neben diesen Unterschieden gibt es noch einen gigantischen Technologievorsprung der Deutschen. Sie allein haben Atomwaffen, sie haben es zum Mond und Mars geschafft und kolonisieren nicht nur die entvölkerten Gebiete der Erde, sondern auch noch das Weltall. Woher die Menschen dafür kommen sollen, bleibt offen. Jedenfalls herrscht ein beträchtliches Ungleichgewicht zwischen Japan und Deutschland, technologisch und ideologisch.

Angenommen die Nazis zerstörten am Ende alles? Lassen sie bloß verstrahlte Asche übrig? Fähig dazu wären sie, schließlich haben sie die Wasserstoffbombe. Und zuzutrauen wäre es ihnen auch; ihr Denken neigt zur Götterdämmerung. Nicht auszuschließen dass sie sich im Grunde ihres Herzens nach dem allgemeinen Holocaust sehnen, ja, ihn sogar aktiv anstreben.

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Wer sich diese Gedanken macht, wird hier nicht verraten. Das Zitat zeigt, dass die Andeutungen und Hinweise vergangener Massenmorde durch die Nazis nicht grundlos eingestreut waren; das ist der Kern nationalsozialistischer Herrschaftsphantasien. Auch nach ihrem Sieg würden sie ihre ideologischen Denkmechanismen nicht einfach abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut.

Eine faszinierende Stelle, die deutlich macht, wie sehr Das Orakel vom Berge Literatur und keine reine Unterhaltung ist. Der Hinweis auf die Götterdämmerung ist brillant, Jahrzehnte nach Philip K. Dick hat ihn der bekannte Politologe Herfried Münkler in seinem Buch Die Deutschen und ihre Mythen ausführlich behandelt: Ausgerechnet ein Untergang, einschließlich der Selbstvernichtung bildete das mythologische Fundament der Deutschen.

Der Moment, in dem derlei auf der Tagesordnung steht, ist denkbar kritisch: Autoritäre Systeme haben traditionell ein Problem mit der Machtübertragung, wenn ein Herrscher stirbt. Die internen Machtblöcke geraten dann in Bewegung und kämpfen miteinander um die Macht. So auch im Roman, in dem Martin Bormann das Zeitliche segnet und Partei, Wehrmacht, SS und Geheimdienst um die Macht kämpfen. Wem soll man die Daumen drücken?

Das Böse dachte Tagomi. Ja, das stimmt. Und wir sollen ihm helfen, seine Macht zu stärken, um unser Leben zu retten? Ist dies das Paradoxon unseres irdischen Daseins?

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Wie das Zitat zeigt, ist die Frage nicht so einfach zu beantworten. Das ist eine der aus meiner Sicht brillanten erzählerischen Volten Philip K. Dicks. Das Böse ist recht klar verortet; doch selbst im Nazi-Reich gibt es Schattierungen und doch stehen Zeitgenossen vor der Frage, wem sie – falls möglich – Schützenhilfe leisten sollten, um der Vernichtung zu entgehen. 

Natürlich stellt sich auch die Frage, wie das herrschende System des Bösen überwunden werden könnte. Ab einem gewissen Grad scheint das nur von innen heraus zu gehen, nicht um sonst sind die meisten Attentate auf den realen Hitler nach 1939 aus dem Militär, einen zentralen Teil des Herrschaftssystems, unternommen worden. Die handelnden Figuren, unterworfene Amerikaner oder auch Japaner, stehen außen vor. Oder?

Hier drücke ich mich vor einer Antwort. Stattdessen noch der Hinweis auf Die Plage der Heuschrecke, einem Roman im Roman, der die alternative Geschichte erzählt, nach der Japan und Deutschland den Krieg verloren hätten. Philip K. Dick greift auch hier zu einem funkelnden Erzählkniff, indem er das dort Erzählte vom Historischen abweichen lässt (etwa die zusätzlichen Amtszeiten Roosevelts). Wenig verwunderlich ist der Roman bei den Deutschen verboten, sie fürchten ein Buch, seine Aussage.

Wir können nur dadurch auf den Ausgang Einfluss nehmen dass wir uns immer wieder neu entscheiden.

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Das verweist auf einen wichtigen Punkt: Geschichte ist immer offen, wirkt nur in der Rückschau vorgezeichnet. Wie das Zitat zeigt, gibt es vielleicht doch Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, ein Mutmacher in mutlosen Zeiten. Auf eine spezielle Weise, Schritt für Schritt, ein zäher, langfristiger Prozess. Es sind diese Motive, die mich bei der Lektüre von Das Orakel vom Berge begeistert haben. In dieser Konsequenz ist der Roman für mich bislang einmalig.

Der Roman ist Teil meines Lesevorhabens 12 für 2025.

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge
Aus dem amerikanischen Englisch von Norbert Stöbe
Fischer Verlag 2014
Taschenbuch 272 Seiten
ISBN: 978-3-596-90562-1

Dreimal Adolf Eichmann

Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Das Bild, das der ehemalige Angehörige der SS abgibt, unterscheidet sich sehr von der Person, die mir in Romanen bzw. Graphic Novels begegnet ist.

Dreimal ist mir Adolf Eichmann in Romanen bzw. Graphic Novel als handelnde Figur begegnet. Zuletzt bei Ritchie Girl von Andreas Pflüger, davor in der Graphic Novel Die drei Leben drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein und im Roman Das Verschwinden des Joseph Mengele von Olivier Guez bzw. in der Umsetzung als Graphic Novel.

Das Foto zeigt Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Das ist jener Eichmann, von dem Hannah Arendt berichtet, jene Gestalt, die in der Regel mit der »Banalität des Bösen« in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich wirkt Eichmann eher wie ein Staubsaugervertreter oder Handelsreisender in Sachen Versicherung.

Ganz anders bei Guez, der über Eichmann (aus der Sicht von Josef Mengele) im argentinischen Exil berichtet. Ein Star, der Autogramme gibt und großsprecherisch auftritt, seinen »Rang« im so genannten »Dritten Reich« wie eine Monstranz vor sich herträgt und von einem Comeback in einem »Vierten Reich« schwadroniert. Mit dem Bild, das die »Banalität des Bösen« assoziiert, passt das nicht mehr ganz zusammen.

Das gilt noch mehr für jenen Eichmann, der bei Pflüger in Richie Girl dem Leser entgegentritt. Der Autor hat in einem Nachwort zu seinem Roman die Gestaltung dieser Figur noch einmal aufgegriffen und explizit auf Ahrendt verwiesen: Von deren Vorstellung wollte er »seinen« Eichmann abheben. Das ist gelungen, Pflügers Eichmann ist eine dämonische, selbstsichere und eiskalte Figur.

Bei der Lektüre von Thomas Meyers biographischem Abriss über Hannah Arendt musste ich wieder daran denken, wie unterschiedlich die Sicht auf einen Menschen sein kann. Im Falle Arendt hat ihr spezifischer Zugang zu dramatisch zu nennender Kritik und Anfeindungen geführt. Die Aufregung von damals glüht bis in die Gegenwart nach.

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Umstritten wie kein anderes Buch von Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Die sprichwörtliche »Banalität des Bösen« ist von vielen Seiten kritisiert worden. Das schmale Buch von Thomas Meyer widmet sich vor allem den Werken Arendts, ihrem Leben und der Rezeption.

Bald ist es ein halbes Jahrhundert her, dass Hannah Arendt im Alter von 69 Jahren verstarb. Seit 1975 ist derart Epochemachendes, Disruptives und Weltumstürzendes geschehen, dass die Feststellung von Thomas Meyer wundert, Werk und Denken Arendts werde bis in die Gegenwart zitiert und zu Analysen herangezogen. War sie also am Ende eine zeitlose oder zumindest nicht auf das zwanzigste Jahrhundert beschränkte Denkerin, wie der Untertitel nahelegt?

Die Frage lässt sich nach der Lektüre des schmalen Büchleins über Arendt ebensowenig beantworten, wie die, was eigentlich jener zum geflügelten Wort gewordene Untertitel „Banalität des Bösen“ genau meint. Dazu ist – eigentlich keine Überraschung – das Studium der Werke Arendts nötig. Auch das, was die zahllosen Kritikerinnen und Kritiker geäußert haben, muss gelesen werden, um die Basis für eine Einschätzung zu legen. Den Anspruch hat ein Buch diesen Umfangs nicht.

Thomas Meyer bringt seinen Lesern den Lebensweg und die dabei entstandenen Werke Hannah Arendts näher. Dramatische Umstände, wie die Internierung in Frankreich und der Flucht vor dem Zugriff der Gestapo werden nur in einem knappen Absatz geschildert – mir ist das durch die schöne Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein vertraut. Meyers Fokus liegt auf den Werken. Diese sind oft eng verknüpft mit dem, was die Autorin als Zeitgenossin aktiv miterlebte: Verfolgung, Flucht, Exil, Rückkehr, der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem.

Der Name, der immer mit Hannah Arendt verbunden sein wird, ist Martin Heidegger. Recht typisch für eine untergründige, oft auch offene Frauenfeindlichkeit ist, dass in der Diskussion über Arendt immer wieder auf die intime Beziehung zwischen Lehrendem und Schülerin angespielt wird. Umgekehrt spielt das bei der Einschätzung von Heidegger keine oder nur eine untergeordnete Rolle.

Dabei ist das intellektuelle und persönliche Verhältnis durchaus ein interessantes Thema, wie Meyer zeigt, denn Arendt hat nach 1945 keine eindeutige Haltung zu Heidegger eingenommen. Das mag in der Gegenwart, in der Haltung zeigen oft eine größere Rolle als inhaltliche Stichhaltigkeit zugesprochen wird, noch mehr verwundern und Kritik herausfordern.

Man kann sagen, dass Arendts ganzes Denken ihrer bewussten Zeitgenossenschaft entstammt.

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Während der Lektüre von Hannah Arendt wird klar, wie vielfältig (und unbekannt) das Werk der Denkerin ist. Weber schildert die Entwicklung von Person und Denken parallel zu den Veröffentlichungen. Der Liebesbegriff bei Augustinus steht am Anfang und ist insofern bezeichnend, dass eine wiederkehrende Kritik an Arendt ihre vorgebliche Fokussierung auf die Antike beinhaltet.

Arendts nächstes Werk war eine Biographie zu Rahel Varnhagen. Während der Arbeit entwickelte sich die Autorin nach eigener Einschätzung zu einem „jüdisch-politisch denkenden Menschen“. Bemerkenswert ist, dass sie Juden als aktiv „Handelnde“ in der Geschichte und nicht bloße Opfer betrachtet.

In diese Zeit fällt auch die Genese des spezifischen Tons von Hannah Arendt, der von einer spektakulär empfundenen Kompromisslosigkeit geprägt ist. Ihre Kritiker sahen das als „abfällig“ und „lieblos“, die Zitate zeigen eine beeindruckend gradlinige Ausdrucksweise. Die Autorin nahm an der Biographie, die kurz vor der Machtübergabe an Hitler fertiggestellt wurde, nach dem Krieg keine Änderungen vor.

Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit dem zentralen und bekanntesten Werk Arendts: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Wie bei den anderen, noch folgenden (Vita activa, Über die Revolution, Eichmann in Jerusalem, Macht und Gewalt) bietet Thomas Meyers Buch einen kurzen Abriss über den Inhalt sowie die Rezeption. Es ist ein naturgemäß flüchtiges Kennenlernen, wie eine Art kommentierter Fahrplan, der einen Eindruck gibt und zum Selbstlesen animiert.

Mag sein, dass Arendt Analyse heute „völlig falsch“ erscheint, so wäre das Gegenteil angesichts der mittlerweile zu einem Gebirge angewachsenen Fachliteratur zu dem Thema auch ein Wunder. Meyer sieht in Arendt eine Wegbereiterin für die Forschungen auf dem Gebiet in den folgenden Jahrzehnten.

Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen stellt sich ohnehin die Frage, ob Naserümpfen wirklich angebracht ist, denn auch die „richtigen“ Erkenntnisse scheinen wenig geholfen zu haben, der Rückkehr des Totalitarismus einen Riegel vorzuschieben. Denn Ausschwitz und die Shoah waren einmalig, aber:

Was geschehen ist, hat die Menschheit insgesamt verändert, als Riss oder Zivilisationsbruch. Die Verbrechen leben als Möglichkeit fort. 

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Das Zitat ist ein ebenso schönes wie beunruhigendes Beispiel dafür, wie anregend die Lektüre von Thomas Meyers Hannah Arendt ist.

Rezensionsexemplar

Thomas Meyer: Hannah Arendt
Die Denkerin des 20. Jahrhunderts
C.H.Beck 2025
Taschenbuch 128 Seiten
ISBN: 978-3-40683083-9

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Der Fluss spielt im brillanten Roman Grenzfahrt eine wichtige Rolle. Er trennte bis zum 22. Juni 1941 Wehrmacht und Rote Armee, ehe das apokalyptische Unternehmen »Barbarossa« seinen Anfang nahm. Cover Suhrkamp-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Keine eigene Geschichte, nur die der anderen. Der Russen, der Deutschen. Sie waren gekommen, hatten Schutt und Asche hinterlassen und waren wieder gegangen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Große Teile des Romans werden aus einer mittleren Perspektive erzählt. Zwar ist der Ort in Polen gelegen, doch könnte man das alles auch auf ganz Mittelosteuropa beziehen. Dazwischen. Hier die Deutschen, dort die Sowjets, Hammer und Amboss, alle anderen dazwischen. An einem Fluss, der die beiden Gebiete trennt. Die Gegend am Fluss präsentiert als geschichtsloser Raum, den die anderen, die Russen und Deutschen, gefüllt haben.

Die Geschehnisse spielen im Spätfrühling 1941, es ist Ende Mai, Anfang Juni, der nahende Vernichtungskrieg, die große Blutmühle des 20. Jahrhunderts liegt bereits schwer in der warmen und heißen Luft. Geschütze stehen von Tarnnetzen verborgen im Garten, Panzer, Opel Blitz, Motorräder und marschierende Infanterie wirbeln Staub auf, der große Aufmarsch ist im Gange. Auf der anderen Flussseite Bunker, Wachen, Patrouillen. Nachts erhellen Leuchtraketen den dunklen Himmel.

In diesem seltsamen Zwischenraum zu dieser Zwischenzeit vor dem hereinbrechenden Verhängnis tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, die sich unter gewöhnlichen Umständen nie getroffen hätten. Dörfler, Bauern, Hirten; Partisanen mit großen Reden und brutalem Verhalten; Schmuggler; Fliehende, oft Juden, die nach Osten wollen; Rückkehrer aus dem Osten, weil dort auch kein Ort zum Überleben ist.

Eine der Hauptpersonen ist der Fährmann, der in dunklen Nächten sein bereits vor dem Krieg betriebenes Geschäft fortführt. Er lässt sich für das große Risiko bezahlen, ist aber ein ehrlicher Mensch, betrügt seine menschliche Fracht nicht. Er arbeitet auf dem Fluss, dem Dazwischen, pendelt und gerät auch in anderer Hinsicht zwischen die Fronten. Eine lebensbedrohliche Lage für ihn, in einer Zeit, in der das einzelne Leben seinen Wert eingebüßt hat.

Er betrachtete die Spuren der Raupe und begriff nicht, warum die Deutschen gekommen waren und warum sie weiterziehen wollten.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Erzählt wird in wechselnden Perspektiven. Die Sichtweisen sind zum Teil außergewöhnlich, wenn etwa jener hinterwäldlerische Dörfler staunend die Wehrmachts-Kolonnen betrachtet, völlig ahnungslos, woher die Deutschen kommen, was um alles in der Welt sie in seiner Heimat wollen und – ein noch größeres Rätsel – warum sich die Deutschen mit den Sowjets anlegen werden. Und ja, das fragt sich der Leser dann auch.

Stasiuk hat seinen Roman Grenzfahrt mit einer weiteren Zeitebene versehen, in der der Ich-Erzähler mit seinem Vater in ebenjener Gegend sich aufhält, Jahrzehnte später, wenn das große Vergessen alles in den Abgrund zieht, was damals dort geschehen ist. Die Spuren sind rar, das Bedürfnis des Ich-Erzählers, etwas über die Zeit zu erfahren, viel größer als die Neigung des Zeugen, davon zu berichten.

Eine magische Passage erzählt von einem Foto, das der Erzähler betrachtet. Ein „Bild aus jener Zeit“. Er beschreibt die Personen, die zu sehen sind, wohin sie schauen. Sie sehen Dinge, die man auf dem Foto nicht sieht, die aber trotzdem da sind. Der Ich-Erzähler weiß, dass vor dem Foto-Betrachter ein Fenster ist,  eine Tür, er kennt das Haus, hat früher aus dem Fenster geschaut. Trotzdem wusste der Ich-Erzähler lange nicht, was von der Landschaft, die er gesehen hat, noch verborgen ist.

Es kann sein, dass gut fünfzig Kilometer weiter schon die Feuer von Treblinka brennen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Darüber wurde nicht gesprochen, nicht mit den Kindern. Der Erzähler hat seiner Großmutter zugesehen, wie sie ohne Licht in der Nacht die Kühe gemolken hat. Weiße Milch, ein ganzer Eimer voll aus dieser „tiefsten Finsternis“, die „tiefer als die Nacht selbst“ war. Wer denkt hier nicht an Celans berühmte Gedichtzeile aus der Todesfuge? Schwarze Milch der Frühe. Stasiuk hat seine Grenzfahrt auch zu einer Reise in poetische Bilder gemacht, die – passend zu dem, was in der Vergangenheit geschah – grundlegende Fragen der menschlichen Existenz berühren.

Heroisch ist nichts in diesem Roman. Das gilt auch für die Gruppe an Partisanen, die in der Gegend herumstreift und im Grunde genommen die Bevölkerung drangsaliert. Für den Kriegsverlauf hat das wirre Hin und Her keinerlei Bedeutung, manchmal wirkt die Gruppe wie Schuljungen, die Partisanen spielen. Sie zählen Wehrmachtsfahrzeuge und streiten sich, ob bestimmte Fahrzeuge Panzer sind oder nicht. Nie werden diese Informationen irgendwohin weitergeleitet.

Stasiuk lässt ihre Handlungen brutal, von großen, hohlen Worten umhallt und mit fürchterlichen Folgen erscheinen. Es gibt Tote, man hängt jemanden mit erschütternder scharfrichterlicher Inkompetenz. Ein ähnliches Fiasko ist auch der Versuch, ein Schwein zu töten. Im Grunde genommen sind alle Aktionen der Partisanen sinnlos, gefährlich nur für die Zivilbevölkerung. Eine Bande, Räuber, Marodeure statt heroischer Widerständler.

Der latente Antisemitismus schlägt immer wieder durch, was zwei jüdischen Flüchtlingen fast zum Verhängnis wird. Sie kommen aus der Stadt an den Fluss, in der Hoffnung, dem sicheren Tod im Herrschaftsraum der Deutschen zu entgehen, wenn sie auf die andere Seite, zu den Sowjets gelangen. Eine Illusion, wie so vieles in Grenzfahrt. Stattdessen kumuliert die Handlung in einer schrecklichen Missetat, während die letzten Minuten vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion verrinnen.

Große europäische Literatur.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp 2023
Gebunden, 368 Seiten
ISBN: 978-3-518-43126-9

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