Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Jagd

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit

Ein historischer Roman der ganz besonderen Art, frei von jeglichem Action- und Romance-Gedöns, aber spannend vom ersten bis zum letzten Augenblick, einschließlich der Passagen, in denen sich eine Romanze entfaltet. Cover Paul Zsolnay Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das Cover, nein das Cover ist nicht so eines. Es kündigt nicht eines jener Bücher an, die mit einer Frau im Vordergrund, halb oder ganz abgewandt und damit zumeist einer helleren Zukunft entgegenblickend die Regale unter dem Label »Historische Romane« füllen. Wild (wie die bewegte See), ja, romantisch auch, aber nicht in abgeschmacktem  Sinne; dramatisch, auf jeden Fall, wenn auch ohne die genreübliche Action. Spannend: von ersten bis zum letzten Augenblick.

Die Hauptfigur von Die Korrektur der Vergangenheit  ist ohnehin keine Frau, sondern ein gewisser John Lacroix, der sich in den Spanienfeldzug des Jahres 1808/09 gestürzt hat und von diesem an Körper und Geist zerschunden wieder ausgespien wurde. Sein Weg zurück aus der Dunkelheit im Vorraum des Todes zurück ans Licht, das von Erinnerungen und Scham verdüsterten Licht des Lebens.

Unter den Händen von Nell, der Haushälterin, kann Lacroix genesen, doch die inneren Verwüstungen trägt er mit sich herum; sie lassen ihn gar an Selbstmord denken. Um welche es sich handelt, erfahren wir nicht von ihm, jedenfalls nicht am Anfang. Der britische Feldzug in Spanien endete mit einem katastrophalen Rückzug, mehr als die kargen Äußerungen, über die man auch flüchtig hinweglesen könnte, gibt es nicht.

Man ahnt jedoch eine Menge. Der Offizier einer Kavallerieeinheit kommt in einem völlig abgerissenen Zustand zurück. Seine Ausrüstung, seine Waffen, die meiste Kleidung und seine Stiefel sind verschwunden, statt seiner Truhe und Taschen führt er nur einen billigen Tornister mit sich. Immerhin lebt er, sein Gehör hat gelitten, was während der gesamten Handlung immer wieder geschickt eingeflochten wird, um das Motiv des Verstehens durchzuspielen.

Der Krieg ist jedoch nicht vorbei, England schickt wieder Streitkräfte nach Spanien, plötzlich sieht sich Lacroix mit der Aussicht konfrontiert, noch einmal in die Hölle zurückkehren zu müssen. Er beschließt, seinen aktiven Dienst zu beenden und nach Norden zu fahren – mit einem Wort: Er desertiert (mehr oder weniger).

Dass auch Soldaten dagewesen wären, Rückkehrer aus Spanien, die einfach auf der Straße lagen ohne Augen und Beine.

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit

Es hätte für Lacroix also auch schlimmer kommen können – die Versuchung, das zu sagen, liegt nahe; was dieser Krieg zwischen englischen und französischen Truppen sowie spanischen Einheiten und Freischärlern, ausgefochten auf spanischem Boden für Lacroix mit sich brachte, erfährt der Leser aus einer anderen Perspektive. Die Wechsel der Erzählsicht, von Ort und Zeit und Personen, gehören zu den herausragenden Stärken von Autor Andrew Miller.

Die so entstehenden Auslassungen, offenen Fragen, Vermutungen und leeren Stellen lassen das drängende Bedürfnis nach Antworten, Erhellung, Aufklärung entstehen – bis zum Ende des Romans und darüber hinaus. So erfährt der Leser, dass Lacroix mit einem Geschehnis in Verbindung gebracht wird, das man getrost als Kriegsverbrechen bezeichnen kann.

Ob und inwieweit das in seiner Verantwortung lag bzw. die Aussagen, die darüber in einer großartigen Passage vorgetragen und zusammengestellt werden, überhaupt eine Anschuldigung, gar nicht zu reden von einem Prozess oder Verurteilung ausreichen würden, bleibt anfangs völlig offen. Es ist aber Krieg und dessen totaler Charakter lässt in der Regel alles Recht verbleichen, wenn nicht gar verschwinden.

Im Parallelogramm der Kräfte steht England gegen Frankreich und damit gegen einen übermächtigen Feind, der gerade Preußen und Österreich militärisch zermalmt hat. England braucht Spanien und die »Spanier wollen einen Schuldigen« für ein Vorkommnis während des Feldzuges, woraus sich eine hübsche, wenn auch etwas konstruierte geopolitische Notwendigkeit für eine abseits des Rechts durchzuführende Bestrafungsaktion ergibt.

›Ich bin der Krieg. Ja? Und heute ist der Krieg zu Ihnen gekommen. Er ist direkt in Ihr Haus gekommen und hat sie niedergeschlagen.‹

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit

Der Krieg macht nicht jeden so fertig wie Lacroix, manche werden mit ihm und seinen Zudringlichkeiten fertig, werden ein Teil von ihm und machen diesen zu einem Teil von sich. Den Krieg tragen sie im Tornister ihrer Persönlichkeit, wenn sie in die Heimat zurückkehren. In diesem Fall mit einem heiklen Auftrag, bei dessen Ausführung der Beauftragte namens Calley bedenkenlos zu Gewalt greift. Das Zitat trifft das ganz wunderbar und liefert die kalte Rechtfertigung durch Selbstdistanzierung – es wäre »Der Krieg« – gleich mit.

Der politisch motivierte Auftrag erfordert wegen der nötigen Abwesenheit von Recht und Öffentlichkeit die Anwesenheit eines Zeugen, so bildet sich ein Buddy-Paar, der Engländer Calley und der Spanier Medina, die sich auf den Weg nach Großbritannien machen und ihrer Zielperson nachspüren, die bestraft werden soll. Auf dem Weg quer durch das Land werden sie – wie auch der Leser – Zeuge der unaufhörlich voranschreitenden Industrialisierung der Insel.

In beklemmenden Szenen wird geschildert, wie es innerhalb der Mauern dieser Gebäude, »groß wie eine Kaserne, in dem Arbeit vonstattenging, die die Lohnsklaverei der Massen war«. Diese Welt des »Fortschritts« entpuppt sich als menschenverachtende Stätte der Ausbeutung mit brutalsten Mitteln; Calley, »der Krieg«, hat als Kind dort seine Prägung erhalten; die Armee hat diese Anlagen verschärft, ihn zu einem erbarmungslosen und dank der in Aussicht gestellten Belohnung zielstrebigen Jäger gemacht.

Empfand Calley wie er selbst? Dass sie Narren auf einem Narrengang waren?

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit

Sein Partner ist anders, Medina ist das Unbehagen oft anzumerken. Er denkt viel über seinen englischen Partner und ihren Auftrag nach, stellt ihn in Frage und malt sich immer wieder aus, wie er dieser Jagd, die er als »Narrengang« empfindet, entkommen könnte.

Die Verfolgung ist trotz mangelnder Action hochspannend gestaltet, die beiden Parteien wählen ganz unterschiedliche Routen. Miller gestattet seinem Helden und seinen beiden Häschern eine vorzeitige Begegnung, denn die drei Personen befinden sich einmal zufällig am gleichen Ort – sie erkennen sich dank sorgsam gestalteter Umstände nicht.

Das ist einmal hochspannend, außerdem nutzt der Autor es für eine kleine Erzählfinte: Lacroix findet auf dem Tisch in seinem Gastzimmer, das er immer mal wieder mit einem anderen Gast teilen muss, das Wort »NADA«, auf Spanisch heißt das »Nichts«. Er kann sich darauf keinen Reim machen, der Leser schon, einen ziemlich umfassenden sogar, angesichts dessen, was er bis dahin schon weiß.

Für Lacroix hingegen hat das Wort »NADA« in diesem Moment eine ganz andere Bedeutung im Sinne einer bedeutungsschwangeren Zeichens: Er hat im Norden neue Menschen kennengelernt, darunter Emily, die ein Augenleiden hat, das sie erblinden lässt. Eine durchaus gefährliche Operation könnte Abhilfe schaffen oder schwerwiegende Folgen haben.

Natürlich kommt er, der Augenblick, das sich das »NADA« in »ALGO« verwandelt, die Stunde der Wahrheit. Mehr aber werde ich hier nicht verraten, denn Die Korrektur der Vergangenheit ist bei allem anderen auch wegen der lange offengehaltenen Leerstellen ein ungeheurer Lesespaß und Genuss. Ein Fest mit einem hochdramatischen Showdown und einem Schlusskapitel, dessen Sinn sich erst mit Blick auf den Originaltitel (Now We Shall Be Entirely Free) erschließt.

Hilary Mantel kann in ihrem Lob, »Millers Schreiben sei eine Quelle des Staunens und der Freude«, nur nachdrücklich zugestimmt werden.

[Rezensionsexemplar]

Andrew Miller: Die Korrektur der Vergangenheit
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Paul Zsolnay Verlag 2023
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-552-07338-8

Auf heißen Kohlen

Ein dramatischer Beginn des zweiten Teils meiner Abenteuerreihe, dessen Handlung für den Leser Spannung bis zur letzten Seite bereithält.

So also geht es los mit dem zweiten Band meiner Abenteuerreihe um die »Piratenbrüder« Joshua und Jeremiah: hochdramatisch. Dabei ist Joshua nach seiner Irrfahrt endlich wohlbehalten in Boston bei seinem Onkel William eingetroffen; scheinbar sind die aberwitzigen Gefahren überwunden – wie man sieht, ein Irrtum.

Das ist keineswegs der einzige. Man kennt es: Wer eine lange Reise unternimmt, sich vielleicht Wochen und Monate in einer fremden Umgebung aufhält, kehrt verändert zurück. Joshua ist in Eine neue Welt von London nach Boston aufgebrochen, er befand sich ohnehin auf dem Weg in eine neue Welt.

Seine Rückkehr ist eher eine Ankunft in einer neuen Umgebung, aber manches ist schrecklich vertraut: Seine Gouvernante, Mrs. Norway, Majordomus Wilson, William – ein Teil seines alten Lebens ist mitgekommen und bestimmt noch immer über Joshuas.

Man kann sich vorstellen, dass die eigentlich ersehnte Ruhe, der Frieden und die Abwesenheit von Gefahr ihre Tücken haben. Die Abenteuer mit Jeremiah, ihre Freundschaft haben Joshua so verändert, dass er nicht mehr recht in die alte Welt passen will. Und er schleppt einen dicken Rucksack an Erinnerungen mit sich, die Schrecken der blutigen Gefechte auf dem Felsenhort und Castelduro bleiben ihm treu.

Zu allem Überfluss sitzt Joshua auf heißen Kohlen, denn er wartet auf Nachricht von seinen Freunden und ihrer Jagd auf John Black. Statt Ruhe und Komfort genießen zu können, ist Joshua wie zerrissen, denn er empfindet es als Zurücksetzung, nicht an der gefährlichen Verfolgung des Piraten teilnehmen zu können.

Wie genau das Abenteuer weitergeht, um wen es sich bei »Chatou« handelt und warum der zweite Teil der Abenteuerreihe diesen Namen als Titel trägt, wird hier natürlich nicht verraten. Das sollte man schon selbst lesen.

Lust auf einen Blick ins Buch? Leseprobe.

Bisher erschienen:
(einfach auf das Cover klicken!)

Robert Harris: Königsmörder

Ein atmosphärisch ungemein dichter, ausschweifender Roman, packend, dramatisch, aber fern aller romantisierenden Abenteuererzählung. Cover Heyne-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Nicht allzu oft haben Revolutionäre gekrönte Häupter rollen lassen. Karl I. (Charles I.) Stuart gehört zu jenen Ausnahmen. Zum Ende des englischen Bürgerkrieges wurde er getötet – man kann im Internet Bilder jenes Dokumentes betrachten, auf dem 59 Mitglieder des eigens eingerichteten High Courts das Todesurteil unterzeichnet haben. Der vierte trägt den Namen Edward Whalley, der vierzehnte heißt William Goffe: zwei der drei Hauptfiguren des Historischen Romans Königsmörder von Robert Harris.

Zu ihnen gesellt sich ein dritter Protagonist namens Richard Nayler, eine fiktive Figur, Gegenspieler und Nemesis von Whalley und Goffe, nachdem Oliver Cromwell gestorben und die Monarchie restauriert worden ist. Eine erbarmungslose Jagd auf die Königsmörder setzt ein, perfide wird ihnen Gnade versprochen, während ihnen ein grausamer Tod blüht. Die Zeit um 1660 ist von brutaler Erbarmungslosigkeit, was Hinrichtungen anbelangt.

Nayler gehört zu den eifrigen Jägern, er hat mit Whalley und Goffe ein besonderes Hühnchen zu rupfen, die Jagd auf sie trägt den Charakter eines privaten, fanatischen Rachefeldzuges. Die Handlung setzt ein, als die beiden Oberste in den Kolonien jenseits des Atlantiks eintreffen, während die meisten Verfolgten vor der Nachstellung durch die Getreuen der englischen Krone aufs europäische Festland geflohen sind, etwa in die Niederlande.

Harris hat eine ebenso spannende wie ausschweifende Geschichte verfasst, die zweierlei vermeidet. Einmal jede Form romantisierender Abenteuererzählung um die Flucht der beiden Oberste, ihr Elend wird fühlbar; zum zweiten die Verlockung, die Handlung zu einem auf purer Handlungsspannung fokussierten Thriller zu machen. Dazu hätte der Autor die historische Überlieferung ordentlich biegen müssen, außerdem ist der Roman – für meinen Geschmack –  packend.

Aber nicht nur das. Die flüchtigen Whalley und Goffe stehen in der Neuen Welt vor der Herausforderung, zu überleben. Sie können sich auf ein Netzwerk aus Puritanern stützen, die ihnen helfen; allerdings wirkt die Flucht bisweilen seltsam arglos, so geben sich die Fliehenden keinerlei Mühe, ihre wahre Identität zu verschleiern, sondern treten unter ihren richtigen Namen auch noch in der Öffentlichkeit auf.

Für Jäger Nayler ein gefundenes Fressen, das er nicht verschmäht, als er selbst nach einer recht ausgedehnten Irrsuche in England schließlich selbst nach Amerika übersetzt; zu den großen Vorzügen des Romans gehört, dass die Stolpersteine von Flucht und Jagd von Harris mit der gleichen Detailliebe geschildert werden. Doch kommen sich in einer unerhörten Szene Jäger und Gejagte sehr nahe, eine atemberaubende Szene, in der man selbst die Luft anhält.

Wirklich großartig ist der Roman durch die Atmosphäre, die einem alten, üppigen, von Figuren, Landschaften, Dorf- und Stadtszenen wimmelnden Gemälde ähnelt. Man wähnt sich in London, man wähnt sich in den der Unendlichkeit des amerikanischen Kontinents, auf hoher See und mitten drin, wenn die großen Heimsuchungen der Zeit über die Menschen hereinbrechen. Chapeau!

Robert Harris: Königsmörder
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Heyne-Verlag 2022
Hardcover mit Schutzumschlag, 544 Seiten
ISBN: 978-3-453-27371-9

© 2025 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner