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Schlagwort: Nachkriegszeit

Harald Jähner: Wolfszeit

Die Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten wurden im restlichen Deutschland nicht mit offenen Armen empfangen. Cover Rowohlt-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Bei einem meiner üblichen Besuche der hiesigen Stadtbibliothek bin ich auf den Bildband Wolfszeit. Ein Jahrzehnt in Bildern. 1945 – 1955 gestoßen. Nach der Lektüre von Harald Jähners begeisterndem Buch Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen wollte ich ohnehin auch sein Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955 lesen, somit bot sich eine sehr passende Gelegenheit. Das Sachbuch habe ich teilweise gehört, teilweise im ebenfalls ausgeliehenen Buch gelesen, allein wegen der Bilder sollte man zum Gedruckten greifen.

Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die »Niemandszeit« zwischen dem Ende des so genannten »Dritten Reichs« und der Gründung von Bundesrepublik und DDR 1949 wird auf vielen Feldern ergründet. Das Bild, das sich bietet, ist überraschend vielfältig und bricht mit dem Grau, das die kollektive Erinnerung zeichnet, die auf einer eher stiefmütterlichen Behandlung dieser Phase in Wissenschaft und Lehre beruht. Autor Jähner führt das auf die fehlende institutionelle Verankerung des Zeitabschnitts infolge der Abwesenheit von Staat und Regierung zurück, die in der nationalstaatlich geprägten Historiographie aber entscheidend gewesen ist.

»Niemandszeit« legt einen Zeitraum nahe, in dem etwas noch nicht ganz zu Ende gegangen ist und etwas Neues noch nicht richtig angefangen hat. Die berühmte »Stunde Null«, ein hoch umstrittener Begriff, würde also im Grunde genommen zu einem »Vier Jahre Null«, ehe die Bundesrepublik Deutschland und die DDR ihre Staatsgeschäfte aufnahm und der Kalte Krieg ins Rollen kam.

Zwei sehr gegensätzliche Gruppen bildeten die Masse der Trecks: die Displaced Persons und die Vertriebenen.

Harald Jähner: Wolfszeit

Jähner begibt sich mit Wolfszeit mitten hinein in dieses geschichtliche Niemandsland, das unzählige Biographien geprägt hat. Teilweise sind die Befunde, die der Autor liefert, schockierend. Von »Null« im Sinne einer Stille und Abwesenheit von Dramatik und Bewegung kann überhaupt keine Rede sein. Mehrere Millionen Menschen waren nach der Kapitulation der Wehrmacht nicht dort, wo sie hingehörten.

Zwangsarbeiter, KZ-Insassen, entlassene Wehrmachtssoldaten, Kriegsgefangene der Alliierten, Vertriebene Deutsche – rund die Hälfte aller Menschen auf dem verbliebenen deutschen Boden lebte unterwegs. Man sollte sich die Zahlen immer wieder vor Augen führen. Wer sollte diese gewaltige Masse Menschen geordnet nach Hause, in ein neues Leben oder auch nur unter ein Obdach führen. Die Alliierten waren völlig überfordert, wenn zum Beispiel nur 21 Soldaten 45.000 Kriegsgefangenen gegenüberstanden.

Der Umgang mit den Menschen war sehr unterschiedlich, doch bleibt bei der Lektüre ein wiederkehrendes Motiv hängen, dass sie überwiegend höchst unwillkommen waren. Bei den zwangsweise Eingesperrten war unklar, wie sie sich gegenüber den Deutschen verhalten würden. Das unmenschliche Lagerleben zog eine Verrohung ihrer Insassen nach sich, der Hass auf alles Deutsche war allein angesichts der wahllosen Massenmorde an Zwangsarbeitern gegen Kriegsende wenig verwunderlich.

Es kam zu geradezu grotesken Situationen, wenn etwa Alliierte und Deutsche die Lager bewachten, in denen jene noch immer ausharren mussten, die schon vorher darin gesessen hatten. Das war nicht unbedingt böser Wille, im Gegenteil, denn tatsächlich gab es Überfälle, Plünderungen, Morde an Deutschen, die als Freiwild galten. Überraschend auch, wie lange sich manche Lager für DPs gehalten haben und – weniger überraschend – wie schnell klar war, dass unter der gewaltigen Zahl der von den Nazis ins Lager gepressten Menschen sich antisemitische Abgründe auftaten.

Die jüdischen DPs brauchten eigene Lager, nach Pogromen in Polen kamen neue Juden nach Deutschland und in die Lager, um nach Israel zu gelangen, was kurzfristig unmöglich war. Die Neuankömmlinge sorgten unter den jüdischen Überlebenden aus Deutschland für abweisende Reaktionen und saßen dank der Verschiebung der Grenzen in Osteuropa einstweilen ausgerechnet im Täterland fest. Sie waren heimat- und staatenlos geworden.

Nicht jeder wollte wieder zurück. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus Stalins Werktätigenparadies weigerten sich zum Teil heftig gegen die unter den Alliierten vereinbarte Rückführung. Es wurde teilweise Gewalt angewendet, um die Verweigerer zur Ausreise zu bewegen, was oft wenig nutzte, denn im Archipel Gulag der Sowjetunion blühte diesen Menschen ein düsteres Schicksal: Zwangsarbeit und Lagerleben unter dem Vorwand, ein Verräter und Nazi-Kollaborateur zu sein.

Diese Abschnitte geben nur einen winzigen Teil dessen wider, was Jähner zu dem Thema schildert. Es macht aber deutlich, wie vielschichtig die Lage nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« gewesen ist. Das betraf auch die deutschen Flüchtlinge aus dem Osten, die zweite große Gruppe unter den Trecks auf der Straße.

»Deutschböhmen, Banater Schwaben, Schlesier, Pommern und Bessarabiendeutsche – alles “Polacken”.«

Harald Jähner: Wolfszeit

Mit “Polacken” wurde von dörflich-bäuerlicher Bevölkerung alles bezeichnet, was aus den verlorenen Ostgebieten oder deutschen Siedlungsgebieten in anderen Staaten in die restlichen deutschen Gebiete flüchtete. Das ist purer Rassismus – gegen Weiße, wohlgemerkt, der noch ganz andere Abgründe zeitigte. In bester Kontinuität sorgte man sich um Rassenschande, man hieß die Zugezogenen “Zigeunerpack”, deren katastrophaler körperlicher Zustand sorgte die Spezifizierung als “40-Kilo-Ziegeuner”.

Wirklich unheimlich ist, was ausgerechnet aus den Reihen der dänischen Minderheit über die Vertriebenen gesagt wurde. Jähner schildert die Äußerungen eines dänischen Journalisten namens Tage Mortensen, der allen Ernstes von einer »Mulattenrasse« sprach. Weniger überraschend sind die Abwehrreflexe aus den Kirchen, die durch die andersgläubigen Zuwanderer bedroht werde. Hetzreden wurden auch von Politikern geschwungen, Vertreibungsphantasien blühten, von »Blutschande« war die Rede und einer erneuten Vertreibung nach Osten.

Die Landbevölkerung zeigte sich von ihrer ganz besonders herzlichen Seite. Auf alliierten Druck mussten die freistehenden Räume den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden. Das waren Millionen. Zu den krassen Reaktionen gehörte die Tötung eines Flüchtlings nebst seiner drei Kinder, doch auch die Normalität war beschämend, wenn es um die menschenunwürdige Auswahl der Aufzunehmenden durch die Bauern ging. Die Kräftigsten und Schönsten ins Töpfchen, der Rest unter höhnischen Bemerkungen ins Kröpfchen.

Es ging zu wie auf dem Sklavenmarkt.

Harald Jähner: Wolfszeit

Aber bei dieser Schilderung bleibt Jähner nicht stehen. Einer der großen Vorzüge des Buches liegt darin, dass die – teilweise positiven – Folgen der massiven Zuwanderung nicht unerwähnt bleiben. Die abgeschlossenen Dörfer mit ihrer Bevölkerung wurden quasi über Nacht vielfältig, gleichzeitig brachen die überkommenen, dumpfen, rückständigen Gewohnheiten wenigstens teilweise auf, sie erzwangen eine »Entprovinzialisierung«, waren »Agenten der Modernisierung«.

An dem Beispiel wird deutlich, wie widersprüchlich die Entwicklung gewesen ist. Das gilt für nahezu alle Bereiche, die Jähner in seinem Beispiel anführt, von einigen wenigen wie der Massenvergewaltigung deutsche Frauen durch die Angehörigen der Roten Armee einmal abgesehen, von der bis zu zwei Millionen Frauen betroffen waren. An diesem Krieg gegen die Frauen gibt es nichts Widersprüchliches, es ist ein lange verschwiegenes, grausames Verbrechen.

Im Westen war die Lage glücklicherweise anders. Zwar gab es auch hier umfangreiche Vergewaltigungen (wie zum Beispiel George Orwell berichtete), aber nicht in dem monströsen Ausmaß des Ostens. Stattdessen wurde fraternisiert, obwohl das von den Alliierten untersagt worden war. Der Leser von Wolfszeit lernt den Typus der »Veronika Dankeschön« kennen – ein Wortspiel, denn die Initialen VD stehen für Venereal Disease, Geschlechtskrankheit.

Jähner räumt mit dem Vorurteil auf, es ginge bei den Beziehungen von deutschen Frauen und alliierten Soldaten nur um materielle Vorteile, eine Art Versorgungsbeischlaf. Es hat einige Zeit gedauert, bis sich die üblen Vorwürfe gegen diese Liebeleien endlich entschiedenem Widerspruch entgegensahen. Jähner verweist auf das zutiefst bigotte Kuriosum, dass der annoncierte Wunsch nach einer Einheiratung in eine Metzgerei akzeptiert war, während die kalkulierte Nähe zu einem alliierten Soldaten als Hurerei und Volksverrat beschimpft wurde. Dabei zeigen allein die vielen Ehen deutscher Frauen mit amerikanischen Soldaten, dass es eben um viel mehr als opportunistische Erwägungen ging.

Es war Veronika Dankeschön, die den dicksten Schlussstrich unter die Vergangenheit setzte, mit Haut und Haaren und nicht selten sehr liebevoll.

Harald Jähner: Wolfszeit

Der viel beschworene »Schlussstrich« wird in Wolfszeit selbstverständlich auch in seiner vielgestaltigen Form thematisiert: Tanzwut, Karneval (es bleibt einem wirklich nichts erspart), aber auch der lange, zähe Weg vom Schwarzmarktraubtier und gewieften Plünderer zum Wirtschaftwunder-Rackerer der Generation Käfer wird nachgezeichnet. Jähners Akzente sind bemerkenswert: Beate Uhse und ihr äußerst erfolgreiches Geschäftsmodell, das vehement angefeindet wurde, vor allem, weil sie eine Frau war.

Überhaupt war die Entwicklung der gesellschaftlichen Stellung der Frau in den Jahren nach 1945 sehr interessant. Jähner These, wie sich die Männer ihre Vormachtstellung zurückeroberten, ist bemerkenswert. Der Mythos der Trümmerfrau ebenfalls, weil er sich so zäh hält, während die völlige Entfremdung durch den Krieg und die eigenständig und selbstbewusst handelnde Frau zu massiven Konflikten mit den Rückkehrer führten.

Schwer erträglich ist der Umgang mit Mädchen gewesen, die als »gefallen« galten, sprich als Minderjährige Sex hatten. In den berüchtigten Erziehungsheimen erwartete sie ein drakonisches Regiment, das man getrost als Terror bezeichnen kann. Einen Grund für diesen unmenschlichen Umgang beschreibt Jähner so: 

Das Schreckgespenst »verwahrloster Mädchen« löste Phobien in den Behörden aus, die heute als geradezu krankhaft erscheinen.

Harald Jähner: Wolfszeit

Ärgerlich sind an Jähners äußerst anregendem Buch nur wenige Dinge: »Die Russen hatten durch den Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Menschen verloren.« »Die Sowjets« oder »Sowjetunion« wäre die richtige Formulierung gewesen, ein Vielvölkerstaat, in dem Millionen Ukrainer, Belarusen, Letten, Esten, Litauer usw. durch den Vernichtungskrieg von Wehrmacht und SS ihr Leben lassen mussten. Der synonyme Gebrauch von »Russe« und »Sowjetbürger« verbot sich im Grunde genommen schon immer, angesichts der großen Qualitäten von Wolfszeit bleibt dieser sprachliche Missgriff ein Mysterium.

Davon einmal abgesehen ist Wolfszeit ein großartiges Buch, das die Dimension der Umwälzungen nach dem offiziellen Ende der Kriegshandlungen spürbar macht. Entwurzelte, Frauen, Liebe, Kultur, Enttrümmerung, Hunger, Schwarzmarkt, die seltsame Entnazifizierung, Displaced People, Lagerleben auch Jahre nach dem Krieg, Wirtschaftswunder, Währungsreform – so viele wichtige Themen werden auf gekonnte Weise erzählt und mit ausdrucksstarken Bildern untermalt.

Verlag: Rowohlt Berlin
Erscheinungstermin: 15.09.2020
264 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0101-1

Harald Jähner: Wolfszeit
Verlag: Rowohlt Taschenbuch
Erscheinungstermin: 15.09.2020
480 Seiten
ISBN: 978-3-499-63304-1

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Ein fabelhafter Roman über einen Film-Regisseur, der sich nolens volens in den Abgrund des nationalsozialistisch beherrschten Europas begibt und der Verlockung folgt, unter Zuhilfenahme der Nazi-Ressourcen Meisterwerke zu drehen. Cover Rowohlt-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

›Eigentlich hat nicht Hitler regiert. Und auch nicht Goebbels oder Göring oder wie sie alle heißen. Eigentlich war es immer er.‹

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

»Er«? Wer ist »er«? Bei diesem Zitat drängt sich diese Frage auf. Wenn der Leser von Daniel Kehlmanns Roman Lichtspiel diese Worte liest, hat er die letzten Meter schon erreicht, das Ende  ist zum Greifen nahe. Die Hauptfigur, der Regisseur W.G.Pabst, und seine Frau Trude befinden sich tief unter der Erde in einer Höhle und betrachten eine uralte Wandmalerei.

»Er« ist dort abgebildet, zwischen »anstürmenden Tieren« und »Männchen mit Speeren«, die sich vor einem »verkrümmten Wesen« beugen, ihm »Opfergaben hinstrecken«. Der Rücken dieses Wesens ist schief, ein paar rote Flecken ersetzen den Kopf, der auf einer schiefen Schulter sitzt; zwei »starr glotzende Augen« sind zu sehen, ein »brutales und böses Geschöpf«, das nicht zu den Menschen und Tieren gehört.

Das ist »er«, der immer schon das Szepter geschwungen hat, die Personifikation des Bösen – der Teufel vielleicht?

Mehrfach berührt die Romanhandlung jene Grenze, an der die Konturen der Wirklichkeit verwischen. Kehlmann lässt in diesen Passagen seine Figuren die fassbare Wirklichkeit verlassen, es bleibt unklar, ob es sich um Albträume, Visionen oder tatsächlich übersinnliche Dinge handelt. Das verstärkt den Schauder ebenso wie die Irritation.

So entsteht eine der stärksten und eindrücklichsten Szenen des Romans, wenn der aus dem Exil ins Nationalsozialistische Deutschland (nolens volens) zurückgekehrte W.G. Pabst bei »dem Minister«, also Dr. Joseph Goebbels, vorspricht. Eigentlich hat dieser ihn zu sich zitiert, was so jedoch nicht sein darf, denn es muss den Anschein erwecken, als handele es sich um den Canossa-Gang eines reumütigen Regisseurs.

Kehlmann spielt mit dem Leser, er überzeichnet die Szene ins Groteske, lässt den Raum (und die Macht) endlos erscheinen, wodurch der Regisseur schrumpft; er überspitzt den Dialog zwischen Goebbels und Pabst, lässt die Adjutanten auftreten, als handelte es sich Kleindarsteller aus einem Marx-Brothers- oder Chaplin-Film, dann aber plötzlich betritt Goebbels den Raum ein zweites Mal und verschmilzt mit dem bereits sitzenden zu einer einzigen Figur.

Das also ist »er«.

Pabst wird auf den ersten Blick die Wahl gelassen, eigentlich hat er längst keine mehr. Die hatte er, so lange er außerhalb des Machtbereiches der Nazis war. Eigentlich. Denn in Hollywood ist Pabst, der auf einer Höhe mit den Regie-Weltberühmtheiten Friedrich Wilhelm Murnau und Fritz Lang stand, nicht angekommen, er prallt an den ungeschriebenen Gesetzen ab wie eine Arkebusenkugel am Harnisch eines Kürassiers.

Metropolis ist der beste Film, der je gedreht wurde‹, sagte Pabst.
›Ich weiß‹, sagte Lang.
Beide schwiegen.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Pabst hätte bleiben können, wäre Pabst eben nicht Pabst. Die Sucht, die ihn bis zum Äußersten und ein Stück darüber hinaus treibt, ist der Film, das ewige Meisterwerk. In Hollywood wird er das nach seinem anfänglichen Scheitern nicht mehr schaffen, also geht er zurück nach Europa und dann auch ins Reich: vorgeblich wegen seiner kranken Mutter, aber auch, weil er in Frankreich ebenfalls nicht reüssieren kann.

Der Grenzübertritt ist beklemmend und gespenstisch, die Ankunft im Zuhause Schloss Dreiturm nicht minder, der Regimewechsel macht sich mit brutaler Gewalt und verkehrten sozialen Verhältnissen bemerkbar, die ehemaligen Hausmeister sind die neuen Herren. Pabst sitzt mit Frau und Sohn in der Falle, Dreiturm hat sich in ein Spukschloss mit ruchlosem SA-Gespenst verwandelt. Hat er in dieser Lage eine Wahl, als den Kotau zu unternehmen? Kann man dem Teufel etwas abschlagen?

Die Antwort darauf ist unklar, unscharf. Selbstverständlich kann man, wenn man die Konsequenzen in Kauf nimmt; doch die scheute Pabst schon in den USA und da wurden weder Verhaftung und Konzentrationslager (Peitsche) noch unbegrenzte Ressourcen zum Filmedrehen sowie die Aussicht, Meisterwerke zu drehen (Zuckerbrot) ins Spiel gebracht.

›Mann verkrümmt sich Tausende Male, aber man stirbt nur einmal‹, sagte Wegener fröhlich. ›Es lohnt sich einfach nicht.‹

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Pabst will Meisterwerke, auch wenn die Kosten hoch sind; er verkrümmt sich, um im Bild zu bleiben, die Stärke und Distanz zu sich selbst, wie Wegener, hat er nicht. Wie hoch der Preis ist, wird nicht verraten, der Roman eskaliert über hunderte von Seiten wie auch der Zweite Weltkrieg sich immer weiter aufschaukelte zu einem von grenzenloser Zerstörungswut orchestrierten Massenmord. Pabst und seine Angehörigen können sie dem nicht entziehen.

Parallel erzählt Lichtspiel auch die Geschichte des Filmedrehens. Kehlmann wählt den langen Weg, streut hier und da bereits Informationen ein, erklärt, erläutert das Wie, Warum und Was, beiläufig an positiven wie negativen Beispielen und das so authentisch, dass ich mich an ein Interview mit Christoph Waltz erinnerte, der einige Einblicke in das Filmgeschäft und seine Mechaniken gewährte.

Ganz am Ende erst, als das Reich nach langem Todeskampf endlich zusammenbricht, lässt Kehlmann auch Pabst seinen Film drehen, ein sehr langer Spannungsbogen geht seinem Ende entgegen und ist in mehrfacher Weise dramatisiert und zugespitzt. Die Szenen in Prag, dem letzten Ort im Reich, in dem noch halbwegs unbehelligt von Bombenangriffen gedreht werden konnte, sind eine groteske Götterdämmerung im Kleinformat.

›Du hast recht. Aber nur halb. denn das alles geht vorbei. Aber die Kunst bleibt.‹

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Was bleibt, wenn der Staub des Untergangs sich legt? Die Selbstbeschwichtigung, die Pabst vorbringt, ist nicht trotz ihrer rechtfertigenden Verwendung eben auch nicht von der Hand zu weisen. Kehlmann hat einen wirklich großartigen Weg gefunden, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Dabei greift er ganz am Ende noch einmal auf den Anfang zurück und schließt sein Lichtspiel mit einem Kniff, der tragisch zu nennen wäre. Oder komisch. Oder beides – ambivalent im besten Sinne, wie dieser ganze Roman und seine Hauptfigur.

Anlässlich des Göttinger Literaturherbstes 2023 hat Daniel Kehlmann aus seinem Roman gelesen und eine ganze Reihe von Dingen geäußert, die sehr spannend und erhellend gewesen sind. Wer während der Lektüre einen szenischen Charakter erkannt haben will, liegt nicht falsch; Kehlmann hat in den vorangegangenen Jahren Drehbücher geschrieben – nebenbei eine Art Recherche in Action. Die Verschränkung dieser Tätigkeit mit seinem Roman liegt auf der Hand.

Lichtspiel ist daher auch ein Spotlight-Roman, der wichtige Stationen auf dem Weg des W.G. Pabst durch die Dunkelheit der Naziherrschaft schlaglichtartig beleuchtet. Auch in dieser Hinsicht also ein Lichtspiel.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Rowohlt Buchverlag 2023
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-498-00387-6

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Ein großer Roman aus Slowenien, hervorragend erzählt. Cover Zsolnay-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das große Elend. So nennt es die Mutter des Protagonisten Danijel, wenn in der heimischen Küche Zusammenkünfte des Ehegatten mit anderen ehemaligen »Teilnehmern am Volksbefreiungskampf«, also Partisanen, abgleiten. Es wird gesoffen, gesungen, gestritten, gebrüllt, Alkohol verschüttet und ab und zu landet ein Glas an der Wand, ehe man sich wieder versöhnt.

Manchmal muss Danijel mitten in der Nacht aufstehen und das Gegröle musikalisch untermalen. Seine Mutter verlässt daher mit ihm oft vorsorglich das Haus und schlüpft an solchen Abenden bei Verwandten unter, um dem großen »Elend« zu entgehen. Ist das nicht möglich, sitzen Mutter und Sohn in ihren Zimmern und hoffen, dass es beim gewöhnlichen »Elend« bleibt.

Allein das Wort »Elend« wird zu einem Abgrund, denn Drago Jančar entzieht auf diese schlichte Weise dem Nachkriegsdasein ehemaliger Widerständler alles Heroische. Der Vater von Danijel hat Gestapohaft und Lagerhaft überlebt, doch was bleibt davon? Der Held führt sich in der jugoslawischen Gegenwart in einer Weise auf, die Ekel und Fremdscham heraufbeschwören, er nimmt sich Freiheiten in einer noch immer begrenzt freien Gesellschaft.

Die Hilflosigkeit des Einzelnen, dem Schatten entgegenzutreten, den der Zweite-Weltkrieg auf die Gegenwart der späten 1950er Jahre in Slowenien wirft, sowie die Flucht in phrasenhafte Großsprecherei und Alkohol, ist ein Marsch in die persönliche Selbstzerstörung. Politisch, gesellschaftlich hält sich der Fortschritt in Grenzen, ja, es gibt sogar Parallelen der Gegenwart zur Nazi-Zeit. Der Ledermantel markiert die Grenze der Verbesserungen, eine Geheimpolizei brauchten beide Regimes.

Wenn du einen dieser Typen im langen Ledermantel siehst, weißt du, der ist von der Gestapo, auch wenn er in Zivil ist. Du machst einen großen Bogen um ihn, damit er dich nicht irgendwas fragt. Aber auch heute gehen welche in Ledermänteln herum, das sind die von der Ozna, mit denen hast du besser auch nichts zu tun.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Zitat zeigt schön, wie Jančar Ereignisse, Personen, Zusammenhänge einander gegenüberstellt und weder kommentierend noch belehrend für sich selbst sprechen lässt. Dabei hilft ihm die Perspektive Danijels, der aus einer naiven, manchmal altklugen Sicht erzählt; ein bekanntes, wirkungsmächtiges Vorgehen, in diesem Falle angereichert mit einigen originellen Stilmitteln.

Das »große Elend« eskaliert eines Abends, als ein Teilnehmer der Zusammenkunft die sowjetische Nationalhymne anstimmt. In (»Marschall«) Titos Jugoslawien war man auf Distanz und eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der UdSSR bedacht. Danijels Vater, vom Schlaganfall getroffen und beeinträchtigt, schwankt ins Schlafzimmer und holt eine Pistole (alle Ehemaligen haben noch ihre Waffen). Er feuert sie ab, wie um einen Eindringling zu vertreiben. Die Kugel fährt in die Decke.

Der Schuss bleibt nicht folgenlos, die Miliz kommt und nimmt die Waffe mit. Danijels Vater ist empört, man behandele ihn wie einen Kriminellen. Ob man dafür (gegen die Deutschen als Partisan) gekämpft habe, dass einem die Miliz die Waffen wegnähme? Der Waffenschein sei auch weg, Danijels Vater »sei Invalide, und jetzt obendrein noch ohne Pistole.« Der Kampf gegen die Unfreiheit dient als Begründung dafür, sich Freiheiten herauszunehmen.

Er dreht lange die Tasse in den Händen herum und schaut in den dunklen Schlick des Kaffeesatzes. Wie die Hellseherinnen, die in den Schlieren auf dem Boden das Schicksal eines Menschen sehen. Welches Schicksal wird er ohne Waffe haben? Wie wird er sich vor Feinden und Leuten schützen, die in seine Wohnung kommen, um die sowjetische Hymne abzusingen?

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Ganze mündet in einen grotesken Tagtraum, in dem Danijel sich vorstellt, wie sich sein Vater beschwert und der Herr Jugoslawiens, Marschall Tito, alles wieder geraderückt. Höchstpersönlich, wie ein guter König im Märchen. Lustig ist das nicht, sondern bedrückend und deprimierend mitanzusehen, wie erbärmlich Heroen des Widerstands im Nachkriegsalltag eines angeblichen sozialistischen Paradieses vegetieren.

Das andere, jenseitige Paradies des kirchlichen Christentums bildet den Kontrapunkt zu der herrschenden Ideologie, Sie wird von Danijels Vater schärfstens angefeindet und bekämpft, obwohl die eigene Frau eine fleißige Kirchgängerin ist. Ihr Sohn nimmt am Unterricht bei »Vater Aloisius« teil, wo er auf rüde, herrische Weise mit einer anderen, absoluten Wahrheit konfrontiert wird.

Eine Hilfe ist ihm das nicht, im Gegenteil. Die Kirche in Gestalt des dogmatischen Geistlichen und der frömmelnden Mutter zwingt Danijel in gruselige Situationen. In der Schule wird er von einer linientreuen Lehrerin als »Verräter« gegenüber seinem Land und seinem heldenhaften Vater regelrecht vorgeführt, beim Abendmahl, im Beichtstuhl und dem geistlichen Unterricht sind abweichende Gedanken und Fragen lästig, während das Ritual peinlich eingehalten werden muss, sonst drohen hochnotpeinliche Erlebnisse.

Beide Formen der Weltverschlichtung, die absolute Wahrheit für sich in Anspruch nehmen und komplexe Wirklichkeiten auf hohle Formeln reduzieren, werden im Verlauf der Handlung entzaubert; dank der großen, gelassenen Erzählweise in Drago Jančars Als die Welt entstand auf eine unaufdringliche Weise, die dem Leser das Denken überlässt. Widersprüche gibt es genug.

Die Welt entsteht, indem die bestehende zerbricht, ihre Gewissheiten, die Klarheit weichen der Unschärfe; sie fühlen sich wie Lügen an.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Da wäre Danijels Freund, dessen Vater im Krieg zur Wehrmacht eingezogen wurde und der ein Bein verloren hat, dafür aus Deutschland eine Rente bezieht, was den väterlichen Volksbefreiungskämpfer empört. Oder Professor Fabjan, der Deutsch an einer Schule unterrichtet hat, während Slowenien besetzt und Teil von Hitlers »Großdeutschland« war, aber russische Literatur schätzt, während seine Tätigkeit wie ein Brandmal nachwirkt.

Zwischen den beiden großen Mühlsteinen, dem sozialistischen und christlichen, ist Danijel eingeklemmt, eine Stütze sind sie ihm nicht, als er mit den menschlichen Widersprüchen konfrontiert wird. Als die Welt entstand erzählt, wie die Hauptfigur ihre Kindheit verlässt, das scheinbar sichere Fundament der Wahrheit gegen die Widersprüchlichkeit eintauscht und so die ersten Schritte in Richtung Erwachsenenleben macht.

Dabei geht es von Anfang an keineswegs um nur um Politik oder Gesellschaft. Die Welt entsteht für Danijel auch durch eine Dreiecksgeschichte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Liebesgeschichte endet tragisch, wie man schon den ersten Seiten entnehmen kann, auf den bereits vorausgenommen wird, dass es »heftig« werde und die Ereignisse den Junge regelrecht überrollt hätten. »Es« steht für die »große Geschichte des Lebens«, die Liebe.

Eine schöne Besprechung des Romans mit einem etwas anderen Fokus findet sich bei ZeitundZeichen.

[Rezensionsexemplar]

Drago Jančar: Als die Welt entstand
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler
Paul Zsolnay Verlag 2023
Gebunden 276 Seiten
ISBN: 978-3-552-07358-6

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Autor Andreas Fischer ist ein ganz besonderes Buch gelungen, kein Roman im eigentlichen Sinne, aber ein großer Wurf aus meiner Sicht. Cover eschen4verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vier Wochen brauchte es nur, um von »Heil unserem herrlichen Führer« zu »Es ist grauenhaft.« zu gelangen. Zwei Zitate aus Feldpostbriefen, jene Schreiben, die von den Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges an ihre Lieben daheim geschrieben wurden. Günther heißt der Urheber, der Anfang Dezember 1941 voller begeisterter Erwartung endlich Richtung Ostfront in Marsch gesetzt wird, um dort von der Kriegsrealität blitzartig ernüchtert zu werden. Zwei Tage später ist er schon tot.

Diese beiden Schreiben finden sich in der Mitte des grandiosen Buches Die Königin von Troisdorf, sie bilden das Gravitationszentrum des gesamten Themas, das Andreas Fischer aufarbeitet. Er hat sein Werk als Roman bezeichnet, tatsächlich finden sich auch fiktionale, erzählende Passagen inmitten der vielfältigen Erinnerungsimpressionen und Dokumenten wie Briefen und Postkarten; Fotos spielen im Text eine besondere Rolle, abgebildet sind keine – das geniale Cover-Motiv bleibt solitär.

Fischer lässt seine Passagen munter durch die Zeit springen, er wählt einen nüchternen, sachlichen Rahmen, indem er jeden Abschnitt mit Jahreszahl beginnt, oft gefolgt von einer Ortsangabe und einem oder mehreren kleinen Sätzen. Bei den Dokumenten geht der Autor noch einen Schritt weiter, beschreibt Papier, Form, Poststempel, Briefmarke, Schrift und gibt weitere Erläuterungen zu dem, was folgt. Schreiben als Sezieren.

1961.
Troisdorf.
Ich bin einige Wochen alt.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Diese Form ist eine brillante Entscheidung. Sie distanziert das Geschilderte und verhindert, dass Inhalt und Thema in einem überemotionalen, gefühlstriefenden Morast versinken. Der Leser wird auch genug durchgerüttelt, denn was Andreas Fischer zu berichten hat, führt in ein finsteres Tal, das er als Kind durchschreiten musste. Die Verlierer des Verwüstungskrieges haben ihre Wut an der nächsten Generation ausgelassen; und der übernächsten – unmittelbar oder mittelbar.

Der Vater des Autors ist selbst Soldat gewesen, er hat im Gegensatz zu dem zitierten Günther und dem eigenen Bruder Herbert das große Schlachten überlebt, obwohl es ihn am Ende sogar noch in den Strudel der Ardennenoffensive gerissen hat. Die Person, die abends von der Arbeit ausgelaugt am Küchentisch sitzt, raucht und säuft, den alten Ideologien, Verschwörungserzählungen und Feindbildern treu geblieben ist, lässt sich kaum in Einklang bringen mit dem, was an anderer Stelle über ihn zu lesen ist: charmant, wissbegierig, sprachgewandt, freundlich, offen. Frauentyp.

Was hat diesen krassen Wandel bewirkt? Was diese unsäglich Ehe initiiert? Vater Reinhold verhält sich höchst befremdlich und wechselhaft gegenüber Andreas, Mutter und Großmutter, die er »Hindenburg und Ludendorff« oder »Kaltmamsellen« nennt, sind ihm gegenüber von einer gleichbleibenden Kälte. Ein ungeliebtes, verachtetes, unerwünschtes Kind, einer »von seiner Sorte« reiche, heißt es. Es wirkt keineswegs übertrieben, wenn Andreas glaubt, in ihren Augen wäre er ein »Drecksack« und seine (Un-)Taten wären «Verbrechen«.

Jeder Protest, jedes Aufbegehren verhallt.
Hindenburg und Ludendorff kennen keine Gnade.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Wie kann man in einer solchen Umgebung aufwachsen? Wie überleben? Eine weitere, große Stärke des Buches liegt darin, dass es – auch dank der Form – nicht in eine rauschhafte Abrechnung oder gar einen rasenden Amoklauf des erinnerten Schmerzes abgleitet, sondern den Lichtblicken Raum gibt. Andreas hat seine Tante Hilde, und – vom haltlosen Jähzorn abgesehen – durchaus auch seinen Onkel Bruno, der ihn zwar einmal fürchterlich verprügelt, aber im Grunde auch respektiert.

Es gibt in der Kälte durchaus wärmende Momente, auch sein Vater hat einige positive Erinnerungen hinterlassen. Das väterliche Meisterstück bestand darin, seinem fünfzehn Jahre alten Sohn den Auszug in eine Art Schutzraum zu gestatten – mit seiner Hilfe baut sich dieser den Dachstuhl in jenem Haus aus, in dem das familieneigene, gut laufende Fotoatelier untergebracht ist. Dort verbringt er seine Tage, irgendwann auch die Nächte und entzieht sich dem kontrollierenden Zugriff von Oma und Mutter.

Vater Reinhold hat Andreas’ »Testament« gefunden, eine achtseitige Abrechnung, verfasst anlässlich aufkeimender Suizid-Gedanken, und aus diesem alarmierenden Fund eine bemerkenswerte Schlussfolgerung gezogen. Sie steht in Kontrast zu jenem alltäglichen Wüten, zum Beispiel als der Sohn in der Schule mit den Abgründen des Vernichtungskrieges konfrontiert wird: Reinhold leugnet die Fakten rundherum ab, diffamiert sie als alliierte Propaganda und stellt eine rechtsextreme Verschwörungserzählung dagegen.

Andreas hat das große Glück, dass er an eine vernünftige Lehrerin gerät, die ihn zunächst den Unsinn vortragen lässt, ehe sie ihm ruhig widerspricht; eine Bibliothekarin, die ihn mit der nötigen Literatur über den Holocaust versorgt, sodass er sich selbst ein Bild machen kann; einen Geistlichen, der ihm eine Erklärung dafür liefert, warum sein Vater eine Lüge der Wahrheit vorzieht. Am Ende steht eine eigene Meinung, die im Gegensatz zu dem väterlichen Nonsens steht. So geschieht Bildung, gedeihen Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, das Pendant zum emotionalen Rettungsanker.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestand ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind gestört und im Grunde kaputt. Andreas Fischer stellt viele Fragen, ohne unbedingt eine Antwort zu geben oder auch nur zu versuchen. Was für ein Glück, denn so bleibt es dem Leser überlassen, selbst nach welchen zu suchen – oder auch nur zu lesen. Dankbarerweise verzichtet der Autor auch auf die Niederungen jeder Gut/Böse-Verschlichtung, die Widersprüche sind klar und bleiben unaufgelöst.

Dieses Buch ist auch ein ganz wunderbares Beispiel dafür, wie ein Inhalt seine passende Form gefunden hat. Man kann fast dankbar sein, dass der Autor keinen Verlag gefunden hat, der ihn möglicherweise genötigt hätte, seine Lese-Kost zu einem gefälligen, leicht verschlingbaren Literaturbrei zu pürieren; der Inhalt verlangt geradezu nach einer sperrigen Form. So ist Die Königin von Troisdorf ein großer, geradezu royaler Wurf.

Wer eine Zweitmeinung zu dem Roman einholen möchte, den verweise ich gern auf die sehr gelungene, ausführliche und etwas anders fokussierte Buchbesprechung auf dem generell empfehlenswerten Blog: Horatio-Bücher.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf
eschen 4 verlag 2022
Hardcover 473 Seiten
ISBN: 978-3-00070-369-0

© 2024 Alexander Preuße

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