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Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt

Ein ganz wunderbares Projekt ist dieser Atlas, trotz der kritischen Aspekte, die ich in meiner Besprechung vorbringe, möchte ich ihn nicht missen. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Was für ein wunderbarer Schmöker! Wer in seiner Schulzeit eine Karten-Phobie erworben hat, sollte dennoch einen Blick wagen. Es wird nicht bei einem bleiben, denn hunderte von Karten laden dazu ein, ausgedehnte Streifzüge durch die Geschichte zu unternehmen.

Die Zusammenstellung ist sehr vielfältig, Christian Grataloup folgt dabei dem Weg der Reduktion, damit die großen, langen Linien nicht von zu vielen Details verstellt werden. So entdeckt der Leser sehr interessante Karten, die einen ganz neuen Blick auf die Geschichte der Welt eröffnen, als handelte es sich um frisch eingefügte Fenster, welche die Sicht auf bislang unbekannte Landschaften freigeben. Neben altbekannten, vertrauten Karten gibt es enorm viel Neues zu entdecken.

Ein schönes Beispiel ist Afrika. Eine Darstellung befasst sich mit der »Sahara, bevor sie Wüste wurde«. Der Leser wird auf die Wandlung der Welt aufmerksam, etwa bei der Darstellung des Tschad-Sees, ihm wird bewusst, wie schnell sich ein ehemals feuchtes Gebiet in eine lebensfeindliche Trockenöde verwandeln kann.

Diesem umwelthistorischen Aspekt folgt eine weitere, die sich mit der Metallgewinnung in Afrika in der Zeit vor Christi Geburt befasst. Solche Karten haben einen hohen Wert, denn sie entreißen jene Gebiete, die lange aus europäischer Sicht »unkultiviert« galten, aus dem Schatten des Vorurteils zugunsten eines differenzierteren Bildes.

Neben solchen Fokus-Karten gibt es welche, die globale Zusammenhänge darstellen. Ein schönes Beispiel ist die Antike, etwa um 200 n. Chr. Gewöhnlich wird auf Karten zu dieser Zeit die größte Ausdehnung des abgebildet, man sieht noch die Germanenstämme oder das Parther-Reich im Osten – nicht aber China und die beide Welten miteinander verbindenden Linien. Diese Lücke schließt Grataloups Atlas.

Wunderbarer Lesebegleiter

Für mich als Leser bietet der Atlas noch eine ganz andere, unschätzbare Möglichkeit, nämlich als Lesebegleiter, der einen schnellen Blick auf eine Karte ermöglicht, die das Lesen erleichtern oder bereichern bzw. eine kurze Orientierung ermöglichen, ohne im Internet suchen zu müssen.

Zwei Beispiele: Éric Vuillards jüngster Roman Ein ehrenvoller Abgang schildert die Zustände in Indochina und die Schlacht um Cao Bang mit ihren verheerenden Folgen für die französischen Kolonialtruppen. Der Atlas von Christian Grataloup bietet eine wunderbare Karte zu diesem Thema, man erhält auf einen Blick einen Eindruck davon, worum es sich bei »Indochina« eigentlich handelt, wie die Machtverhältnisse im Jahr 1950 waren und wo Cao Bang eigentlich liegt.

Die Karte gibt auf einen Blick eine Menge Informationen rund um das Thema Indochina-Krieg – die Informationen im Kästchen rechts daneben zu Dien Bien Phu sind etwas arg verkürzt.

Sicherlich kann man Vuillards Roman auch ohne genauere Kenntnis der Umstände lesen und verstehen, aber mit dieser vertieft sich das Lesen. Das gilt auch für den brillanten Roman Der schmale Pfad durchs Hinterland von Richard Flanagan, der die fürchterlichen Zustände in einem japanischen Kriegsgefangenenlager in Burma schildert. Dort wird eine Eisenbahn durch den Dschungel getrieben, man kann sich auf der Karte »Die Bahnlinie des Todes« auf einen Blick einen Eindruck über das Wo und Wie verschaffen.

Hervorgehoben wird die Kwai-Brücke – was sicherlich im Zusammenhang mit dem berühmten Kino-Film steht; für Leser des Buches von Flanagan wird es mit dieser Darstellung sehr viel leichter, die Handlung zu verorten.

Die Liste dieser Beispiele ließe sich problemlos fortsetzen. Natürlich hat ein Atlas im Gegensatz zum Internet Grenzen, dieser ist im Umfang limitiert, jenes zumindest theoretisch grenzenlos. Dafür folgt Die Geschichte der Welt einem klaren und transparent formulierten Konzept, nämlich die langen Linien der historischen Entwicklung der Menschheit darzulegen, ohne in historischen Details zu ersticken. Das Internet ist naturgemäß in dieser Hinsicht nicht aufgearbeitet und angesichts der wirren Überfülle verheddern sich Streifzüge rasch im dichten Informationsgestrüpp.

Einige kritische Anmerkungen

Allerdings darf man die Auswahl der Karten durchaus kritisch hinterfragen. Frankreich spielt in vielen Fällen eine völlig unangemessene prominente Rolle. So werden die Leser recht ausführlich über die Feldzüge Ludwigs XIV. informiert, während der komplette Dreißigjährige Krieg auf einer einzigen Karte abgefertigt wird. Die ist, bei allem nötigen Respekt, bar jeder Aussagekraft, sie verwirrt eher, als sie irgendetwas erklärt.

Der französische Akzent dieser Weltgeschichte ist in vielen Aspekten spürbar (z.B. bei den Indochina-Karten) und steht im Missverhältnis zu der tatsächlichen Relevanz. Zwar lässt sich die recht ausführliche Schilderung der Französischen Revolution sowie Napoleons durchaus rechtfertigen, nicht jedoch die vielen Karten zur (aus deutscher Sicht) westlichen Front im Ersten Weltkrieg.

Geradezu befremdlich ist eine Karte, die sich der französischen Widerstandsaktionen im Zweiten Weltkrieg annimmt. Einmal ist die tatsächliche Bedeutung von Partisanenbewegungen für den Kriegsverlauf generell fraglich, zweitens stellt sich die Frage, warum Frankreich und nicht etwa die Sowjetunion, Polen, die Ukraine oder die Balkanstaaten ausgewählt wurden, die bezüglich ihrer militärisch-politischen Bedeutung eher Beachtung verdienten.

Dieses Ungleichgewicht treibt Blüten bei jener Karte, die sich mit »Afrika im Zweiten Weltkrieg (1940 – 1945)« befasst, was allein wegen der genannten Zeitspanne befremdet, dann nach Mai 1943 befanden sich keine Achsenmächte mehr auf afrikanischem Boden; vor allem ist die große Karte auf Nordafrika beschränkt, die viel interessantere und weitgehend ignorierte personelle Beteiligung von Kolonialtruppen am Krieg bleibt ungenannt.

Grotesk ist, dass Grataloup zwei vernachlässigenswerte Operationen freifranzösischer Truppen eigens aufführt, darunter das Scharmützelchen bei Bir Hakeim. In einem Atlas, der sich mit großen weltgeschichtlichen Linien auseinandersetzt, hat das nun gar nichts zu suchen. Frankreich war nach 1940 militärisch zweitrangig und blieb es defacto bis zum Kriegsende; eine Karte, die über die Kollaboration in Europa während dieser Zeit informiert, wäre für die Nation vermutlich wenig schmeichelhaft.

Unangemessene Begrifflichkeit

Es verwundert, dass noch immer von „polnischen Teilungen“ die Rede ist; die »Teilungen Polens« wäre der korrekte Begriff, denn er unterstreicht, dass der vernichtete Staat das Opfer war. Es wäre zudem wünschenswert gewesen, in diesem Zusammenhang auf die vierte Teilung 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt zu verweisen, entweder durch eine Brechung der Zeitfolge oder einen Verweis auf die entsprechende Karte im Buch.

In Bezug auf die Krim wird eine haarsträubend tendenziöse Formulierung gebraucht. Die Karte ist allen Ernstes mit „Die russisch-ukrainische Krise“ überschrieben, in der Legende heißt es wörtlich „Neue russisch-ukrainische Grenze“. Der Hinweis im Text, dass der Annexion der Krim durch Russland eine „international nicht anerkannte Volksabstimmung“ vorangegangen sei, ist irreführend: Vorausgegangen war eine militärische Angriffsoperation und Besetzung der Krim und damit ein eklatanter Rechtsbruch.

Solche sprachlichen Regelungen trüben den sehr positiven Gesamteindruck des Atlas. Daher sei hier ein Hinweis gestattet: Karten bilden nie so etwas wie Wirklichkeit oder gar Wahrheit ab, sondern immer eine Interpretation, eine Weltsicht. Kritische Lektüre ist immer nötig – aber mündige Leser werden durch einen Atlas wie diesen auch dazu angeregt.

[Rezensionsexemplar]

Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt – Ein Atlas
Aus dem Französischen von Martin Bayer, Katja Hald, Anja Lerz, Reiner Pfleiderer und Albrecht Schreiber
C.H. Beck 2022
Gebunden 642 Seiten
ISBN: 978-3-406-77345-7

Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923

Der Putschversuch Adolf Hitlers am 08. / 09. November 1923 bildete den nach außen sichtbaren Teil einer umfassenden Rechtsverschwörung gegen die Republik. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Manchmal lassen sich die Dinge auf einen einfachen Nenner bringen. »Der Hitler-Putsch war keineswegs nur Hitlers Putsch.« Nach der Lektüre dieses wunderbaren Buches kann man dem nur nachdrücklich zustimmen. Wolfgang Niess legt in seinem spannenden und auch für Laien gut lesbaren Buch Der Hitlerputsch 1923 dar, was für eine umfangreiche, rechte Verschwörung die strauchelnden Republik von Weimar im vierten Jahr ihrer Existenz bedrohte.

Schule und Studium haben bei mir einen etwas anderen Eindruck hinterlassen. Kapp-Lüttwitz-Putsch und Hitler-Putsch sind für mich über lange Jahre eher Randerscheinungen gewesen, die man getrost vernachlässigen konnte. Mehr oder weniger dilettantische Versuche, die noch junge Demokratie auf rabiate Weise in eine Diktatur zu verwandeln. Auch der Mord an Persönlichkeiten wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau gehörten eher in die Rubrik folgenloses Aufbegehren Ewiggestriger.

Ein Irrtum.

Schon 1922 hatte sich eine umfangreiche Verschwörung formiert, die keineswegs aus einer kleinen Schar rückwärtsgewandter Allmachtsträumer bestand. Allein die Organisation Consul bzw. Wiking des Putschisten Herrmann Ehrhardt hätte zehntausende Kämpfer mobilisieren können, hinzu kamen die Alldeutschen, der Bund der Frontsoldaten und der Stahlhelm. In Bayern gab es einen ganzen Strauß an Wehrverbänden, national, monarchistisch, völkisch, nationalistisch und eben auch Hitlers Kampfverbände.

Den Überblick zu behalten, ist nicht einfach, allein wegen der vielfachen Umbenennung, Zusammenlegungen, Trennungen. Natürlich spielten Kriegsveteranen eine zentrale Rolle in allen diesen Verbänden, ebenso die zahllosen Freikorps, die nach dem Krieg eine halbreguläre Parallelarmee neben der Reichswehr bildeten. In den Kämpfen nach innen gegen tatsächliche und erfundene kommunistische Gegner, aber auch nach außen gegen die Rote Armee, Polen usw.

Von Hitler war im Oktober 1923 wenig zu hören. In dieser Zeit wurde das Spiel von anderen bestimmt.

Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923

Hitler hat in diesem rechten, antidemokratischen und gewalttägigen Mahlstrom keineswegs die erste Geige gespielt, auch wenn die Nationalsozialisten nach 1933 eifrig an diesem Bild arbeiteten, während die hauptsächlichen Verschwörerkreise und ihre Unterstützer in den Institutionen und der Gesellschaft nach 1923 versuchten, die eigene Verantwortung loszuwerden, indem sie diese auf Hitler abwältzten und sich wegduckten.

Es gehört zu den großen Vorzügen des Buches, die gewaltige Masse des Umsturzeisberges, von dem Hitler bestenfalls die Spitze war, aufzuzeigen. »Auf nach Berlin!« war im Herbst 1923 keineswegs nur Hitlers Motto, es gab weitreichende Pläne, Auf- und Durchmarschabsichten, um »Mussolinis Marsch auf Rom« im Reich nachzuahmen.

Die Hetze gegen die demokratisch gewählte Regierung in Berlin, die mit der explodierenden Inflation und der Ruhrbesetzung zu kämpfen hatte und über Monate an einem Abgrund entlangtänzelte, war ungeheuerlich. Ausgerechnet jemanden wie Reichskanzler Stresemann als Teil einer »sozialistischen Judenregierung von Landesverrätern« zu diffamieren, ist infamer Hohn, allein dazu gedacht, brutalste Gewaltmaßnahmen zu rechtfertigen.

»Auf nach Berlin!«

Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923

In diesen Aspekten unterschieden sich die Verschwörer kaum, eher in der Frage, wie und unter welchen Bedingungen man den »Marsch auf Berlin!« wagen sollte. Hitler war in diesem Punkt der Ungestüme, der Spieler, der auch mit mäßigen Karten bei hohem Einsatz mitgehen wollte; aber nicht in allen Punkten dilettantisch vorging. Niess stellt einen interessanten Zusammenhang her.

Am 01. Mai 1923 erlitt Hitler schon einmal Schiffbruch mit dem Versuch, sich gegen die Landespolizei und Reichswehr zu stellen. Niess meint, dass er aus dieser Niederlage gelernt und bei seinem Putsch-Versuch im November darauf gesetzt habe, mit von Kahr (Staatskommissar), Gessler (Polizei) und von Lossow (VII. Reichswehrdivision) die für Gelingen oder Scheitern eines Umsturzes entscheidenden Institutionen hinter sich zu bringen.

Hitler wusste wohl genau, dass er gegen die Exekutivkräfte des Reichs chancenlos war, also versuchte er mit einem Manöver aus Gewaltandrohung, Überredung und euphorisierender Propagandarede im Bürgerbräukeller gegenüber den Verantwortlichen die Voraussetzungen für den Erfolg eines Marsches auf Berlin zu schaffen. Der improvisierte Marsch am 09. November diente primär Propagandazwecken und mündete gleichwohl in einem blutigen Fiasko, der Hitler beinahe das Leben gekostet hätte.

Halb Bayern wollte im November 1923, dass der Marsch nach Berlin angetreten wird. Das Schicksal der Republik hing tatsächlich an einem seidenen Faden.

Wolfgang Niess: Der Hitlerputsch 1923

Es ist in gewisser Hinsicht faszinierend, wie die rivalisierenden Kräfte um den richtigen Weg miteinander rangen, zu denen auch Reichswehrchef Seeckt und sein Streben nach einer nationalen Diktatur gehörten. In dieser für das Reich dramatischen Situation, in der kurioserweise die Inflation gerade erfolgreich überwunden wurde, wird der Leser von den sich überstürzenden Ereignissen regelrecht mitgerissen.

Der Hitlerputsch 1923 – Geschichte eines Hochverrats geht auch ausführlich auf die ungeheuerlichen Ereignisse nach dem Putsch ein. Die groteske Veranstaltung des Hitlerprozesses endete nicht etwa mit der Todesstrafe oder wenigstens der Ausweisung des hochverräterischen Österreichers (!), sondern mit einer Verurteilung zu milder Festungshaft. Die alles verschleiernde »Aufarbeitung«, die helfenden Hände für den Jahre in der Versenkung verschwindenden Hitler und sein Comeback nach 1928 erlebt der Leser mit einem Schaudern.

Ein kleines Fragezeichen habe ich hinter eine Sache gesetzt: Niess meint, Hitler hätte vor dem Leipziger Staatsgerichtshof statt vor einem bayerischen Gericht abgeurteilt werden müssen, was nach Meinung des Autors zu einer angemesseneren Verhandlung geführt hätte. Angesichts der grotesken Prozesse gegen die Mörder Rathenaus, die in Leipzig verhandelt wurden, darf das bezweifelt werden.

Dieser kleine Einwand mindert den rundum positiven Eindruck des Buches keineswegs. Wolfgang Niess Buch über den Hitlerputsch 1923 ist sehr spannend, informativ und bestens geeignet, sich einhundert Jahre danach an die Republik am Abgrund zu erinnern, in dem sie knapp zehn Jahre später versank.

[Rezensionsexemplar]

Wolfgang Niess:Der Hitlerputsch 1923
C.H.Beck 2023
Gebunden 350 Seiten
mit 30 Abbildungen
ISBN: 978-3-406-79917-4

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Manchmal kann ein Einzelner den Gang der Weltgeschichte verändern, Johann Georg Elser ist nur ganz knapp daran gescheitert. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Wie kann man über einen Menschen schreiben, der so verschwiegen war, wie Johann Georg Elser? Der Attentäter, der Hitler hätte bereits 1939 töten und den Gang der Weltgeschichte auf dramatische Weise ändern können, hat faktisch nichts Schriftliches hinterlassen. Wolfgang Benz wählt in seinem Buch Allein gegen Hitler den Weg, die historische Person in ihre Zeit einzubetten, die Äußerungen über Elser einzuordnen und seine Handlungen für ihn sprechen zu lassen.

Auf den ersten Blick könnte man Elser für ein Musterbeispiel des »Einsamen Wolfes« halten, ein klischeehaftes Bild, das ein ganz besonders ausgeprägtes Gefährdungspotenzial andeutet. Angesichts des nur um Haaresbreite gescheiterten Attentats scheint das nicht falsch zu sein. Auf den zweiten Blick entspricht die historische Person diesem Klischee aber nicht, wie sein Sozialleben in Vereinen, seine Musikalität, und auch die Liaisons mit Frauen belegen.

Die Quellenlage zu Elser ist extrem dürftig – gemessen an der historischen Zeit, in der Historiker eher mit einem Zuviel an Material zu kämpfen haben, und damit auch im Vergleich zu anderen Widerständlern, wie den Geschwistern Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Diese haben im Gegensatz zu Elser die Abgründe des Hitler-Regimes sehr viel später erkannt, dafür mehr von ihren Beweggründen überliefert.

Was Georg Elser zum Widerstand getrieben hatte, sein Aufbäumen gegen den Verlust aller Freiheit und Selbstbestimmung des mündigen Menschen, gegen die nationalsozialistische Usurpation der Gesellschaft hatte den Höhepunkt im Lagerdasein.

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Das beleuchtet einen ganz wichtigen – und für manchen vielleicht auch unheimlichen – Wesenszug von Elser, der tatsächlich ganz allein daranging, Adolf Hitler zu töten, bevor dieser die Welt vollständig in den blutigen Abgrund eines Zivilisationsbruchs stürzen konnte. Natürlich waren auch die anderen Widerständler in gewisser Hinsicht isoliert, sie hatten aber einen Kreis um sich, der einen gewissen Austausch ermöglichte. Elser blieb das verwehrt.

Man sollte sich vor Augen führen, was das für Elser bedeutete, wenn er etwa von Zweifeln geplagt wurde oder mit Hindernissen zu kämpfen hatte. Er hat sich diesen Herausforderungen allein stellen müssen und sie bewältigt. Benz unterstreicht dankenswerterweise, dass Elsers Vorgehen im Gegensatz zu dem der Militärs einwandfrei funktionierte: technisch, vom Timing, aber auch hinsichtlich der Sprengwirkung. Nur ein Zusammenspiel von Zufällen ließ das Attentat scheitern.

Natürlich tritt dem Leser kein Superheld entgegen, sondern eine vielschichtige und widersprüchliche Person. Benz beleuchtet die Grenzen Elsers, etwa sein für den Eigenschutz verheerendes Verhalten direkt vor und nach dem Attentat. Da seine Bombe über einen Zeitzünder wirkte, hätte er vorher fliehen oder sich verbergen, untertauchen können. Stattdessen ist Elser noch kurz zuvor in den Bürgerbräukeller zurückgekehrt, um sich zu vergewissern, dass die Apparatur auch funktionierte.

Das hat sie. Elsers Fluchtversuch endete hingegen in den Fängen der Behörden. Was dann geschah, ist einerseits erwartbar gewesen, andererseits in gewisser Hinsicht kurios und für die Herrschaft Hitlers bezeichnend; ja, ich würde sogar soweit gehen, dass sich darin bereits Spuren für den Untergang des gesamten NS-Systems und des von ihm durchdrungenen Reiches erkennen lassen. Elsers Tat ist entlarvend für die (Selbst-)Lügen des Hitlerismus gewesen.

Sein Attentat hat auch deswegen funktioniert, weil die Sicherheitsvorkehrungen infolge ideologischer Verblendung und Inkompetenz unzureichend gewesen sind. Im Nachgang wurden diese zwar verschärft, gleichzeitig aber die sachlich korrekten Ermittlungen zugunsten des NS-Weltbildes einem grotesken Phantom angepasst; ein Handlungsmuster, das bereits beim Reichstagsbrand 1933 eine Rolle spielte und für Deutschland bis 1945 prägend blieb.

Er sah früher als andere, besser gebildete und sonst besser situierte die Folge nationalsozialistischer Gewaltpolitik voraus, und er zog Konsequenzen aus dem, was er mit scharfem Verstand beobachtete und unbestechlich analysierte.

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler

Bedrückend, irritierend und lehrreich ist das Kapitel über die Zeit nach 1945. Die irrwitzigen Berichte über Johann Georg Elser, vorgebracht von Mithäftlingen wie Martin Niemöller oder dem englischen Agenten Best, die ihn gleichwohl niemals sprachen und bestenfalls zufällig sahen, sind atemberaubend. Das gilt auch für die schwurbelnden, raunenden Legenden, die seitens ehemaliger SS-Leute verbreitet wurden, aber auch für die abweisende Reaktion seines Umfeldes, auf Versuche, Elser als Person historiographisch oder journalistisch nachzuspüren.

Nach Elsers Tat sind Millionen Menschen gestorben, die bei einem Erfolg und Hitlers Tod vielleicht nicht hätten sterben müssen. Der Attentäter ist im Gegensatz zu Stauffenberg nach dem Krieg verkannt, verleumdet oder ignoriert worden. Möglicherweise ist seine mündige Tat manchem Nachgeborenen unangehörig gewesen, sicherlich hat die Propaganda der Nazis nachgewirkt. Es ist kein Zufall, dass Elsers Verhaftungsfoto die am meisten verbreitete Darstellung des Attentäters war, auf dem er einem aufgegriffenen Landstreicher glich.

Johann Georg Elser eignete sich nicht zum Helden, sein Aufbegehren passte nicht zum Nachkriegsdeutschland; erst spät ist er zur Lichtgestalt aufgestiegen. Dazu habe verschiedene Bücher und Filme beigetragen, etwa die Verfilmung durch und mit Klaus Maria Brandauer, der sich eine Reihe von Freiheiten gestattet hat, im Kern aber die Tat Elsers endlich in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und einen angemessenen Platz zugewiesen hat, wie Wolfgang Benz in seinem Buch aufzeigt.

»Zu Recht sehen die Nachgeborenen Georg Elser […] als besonders authentischen Widerstandskämpfer«, heißt es da am Ende, wenn die Person Elsers aus dem Schatten der Vergangenheit geholt wurde, soweit das angesichts der Grundlagen möglich ist. Daher wünscht man diesem Buch viele interessierte, kluge und nachdenkliche Leser.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Wolfgang Benz: Allein gegen Hitler
Leben und Tat des Johann Georg Elser
C.H. Beck 2023
Gebunden 224 Seiten
ISBN: 978-3406800610

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Die Inflation aus dem Jahr 1923 hat bei der deutschen Bevölkerung Spuren hinterlassen, bis heute. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Geschichte hält sich nicht an Jahreszahlen und Kalender. Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen reichen in beide Richtungen darüber hinaus. Entsprechend ist es ein sinnvoller Ansatz, ein Buch über das Jahr 1923 nicht auf dasselbige zu beschränken, sondern die Wurzeln der katastrophalen Entwicklung und deren Folgen aufzuzeigen.

Man kann sich auch streng auf jene 365 Tage beschränken und nur in einzelnen Fällen vorgreifen oder zurückgehen. So ist Jutta Hoffritz mit ihrem Buch Totentanz vorgegangen. Durch die Fokussierung auf das Erleben der von ihr ausgewählten Persönlichkeiten erhält die Erzählung eine ganz besondere Nähe und Unmittelbarkeit. Dabei bleiben allerdings viele Dinge auf der Strecke, etwa die Erklärung, warum Deutschland 1923 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde.

Der Ansatz, den Volker Ulrich in Deutschland 1923 wählt, erklärt mehr, indem er die Ursachen ergründet und aufzeigt. Die gewaltige Geldentwertung hätte Anfang 1923 vielleicht noch eingedämmt werden können, doch war sie zu diesem Zeitpunkt schon ordentlich in Schwung. Die Ursachen reichen zurück in den Ersten Weltkrieg, der auf Pump finanziert wurde: Die Kosten würden die Verlierer bezahlen, so dachte man auf allen Seiten; natürlich ging man deutscherseits davon aus, dass die anderen verlieren würden.

Statt dicker Kriegsgewinne gab es 1918 Gebietsverluste, Aufstände, Putschversuche, Separatisten, die Notwendigkeit, immense Sozialleistungen aufzulegen und gewaltige finanzielle Reparationsbelastungen. Aus diesem verhängnisvollen Zustand hätte nur eine starke Reichsregierung im Verein mit nachgiebigen Siegerstaaten herausgefunden – stattdessen eskalierte der Reparationsstreit, Frankreich und Belgien besetzten das Ruhrgebiet.

Als Harry Graf Kessler im August 1922 durch Nordfrankreich reiste, war er erschüttert über das Bild, das sich ihm vier Jahre nach Kriegsende immer noch bot.

›Große, unkultivierte Flächen, die von blühendem Unkraut überwachsen sind, und auch zwischen bestellten Feldern auffallend viele unbestellte. Zerschossene Häuser, eingestürzte Dächer, kleine Barackendörfer, neue Landhäuschen von trostloser Scheußlichkeit. St. Quentin ist nicht vollständig zerstört, wie man gesagt hat, doch die Bahnhofsstraße und viele Häuser sind noch immer nach vier Jahren Trümmerhaufen. Und die Kathedrale thront fensterlos mit einem Wellblechschutzdach als erhabene, weithin sichtbare Ruine über der zerschossenen Stadt.‹«

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Dieses Faktum wurde nicht nur von der deutschen Regierung geflissentlich ignoriert, man darf sich getrost die Frage stellen, wer sich im Deutschen Reich zu dieser Zeit überhaupt Gedanken gemacht hat, was der Krieg in Frankreich und Belgien hinterließ. Und wer sich dazu offen und öffentlich äußerte. Auch in der Geschichtsschreibung bleibt oft randständig, dass es für Reparationen trotz aller problematischen Punkt im Vertrag von Versailles sehr gute Gründe gab.

Die höchst problematisch agierende Regierung Cuno verfolgte ein Programm, das in den Abgrund führte, auch wenn es anfangs zu einer kurzlebigen inneren Einheit führte. Sie ignorierte den dringend gebotenen Rat, einen Kampf nur zu dann zu fechten, wenn die Aussicht auf Sieg steht – Frankreich und Belgien saßen am längeren Hebel, hatten Verantwortliche, die das Reich gern nachhaltig geschwächt sahen und – nicht zu vergessen – angesichts der immensen Zerstörungen in ihren Ländern sachliche Gründe, auf Reparationen zu bestehen.

Es ist immens spannend zu verfolgen, wie sich die Dinge im Reich entwickelten, wie zentrale Figuren handelten und aus welchen Gründen sie das taten. Volker Ulrich verfolgt in seinem Buch sehr genau die politischen Entscheidungsprozesse, die zu dem Desaster führten. Man schaudert, wie nahe das Reich dem Abgrund tatsächlich gekommen ist. Ein totaler Zusammenbruch, kriegerische Handlungen mit Frankreich, Separatstaaten, kommunistische und / oder rechtsradikale Umstürze – alles lag in Reichweite.

Rückblickend kann man leicht in die Versuchung geraten, zu glauben, dass das alles besser gewesen wäre, als das finstere Tal, das die Welt zwischen 1933 und 1945 durchschritten hat, doch würde es zu kurz greifen, der Katastrophe von 1923 zu attestieren, sie führte unausweichlich zu Hitlers Machtergreifung. Hitler hätte auch nach 1930 noch verhindert werden können, etwas wenn die Demokraten wehrhafter und Thälmanns Kommunisten nicht beinhart stalinhörig gewesen wären.

»Noch im Dezember 1923 hätte ein politischer Beobachter für den Bestand der Weimarer Republik keine fünf Rentenmark gegeben.«
Arthur Rosenberg.

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Trotzdem war die Hinterlassenschaft von 1923 eine schwere Bürde für die Weimarer Republik ganz unabhängig von den massenpsychologischen Aspekten. Ein oft eher stiefmütterlich behandelter Aspekt ist, dass man sich in den Parteien der Mitte und SPD Illusionen hingab, die eine konstruktive, langfristige Politik verhinderten. Stattdessen wurden parteipolitische Spielchen gespielt, die 1924 prompt zu beträchtlichen Verlusten bei den Wahlen führten – und zu einem Erstarken der antidemokratischen Kräfte.

Der zweite, wichtige Punkt, den Volker Ulrich gern noch etwas prägnanter hätte nennen können, sind die Präzedenzfälle, die 1923 geschaffen wurden; die Reichsexekution gegen Sachsen und Thüringen etwa bildeten die Blaupause für den verheerenden Preußenschlag 1932. Wunderbar deutlich wird hingegen, wie verhängnisvoll die Stellung der Reichswehr, ihre angebliche Neutralität, die eine immense Rechtslastigkeit aufwies, war. Übertroffen wurde dieser Webfehler nur von der absurd rechtslastigen Justiz, die am Ende der Weimarer Republik nicht umsonst ein Hort der Hakenkreuzler war.

Ulrich widmet der Kunst, Literatur, Architektur und Technologie (Radio) auch einigen Raum, was ein wenig wirkt, als säßen diese Passagen im Notsitz des Buches. Es gibt natürlich Verbindungen zu dem politisch-wirtschaftlichen Geschehen des Jahres 1923,  auch sind die Entwicklungen wirklich spannend, doch fehlt ein wenig die innere Anbindung an den Rest des Buches. Doch das ist angesichts der großen Qualität von Deutschland 1923 zu verschmerzen, denn Volker Ulrich hat ein hervorragendes Buch über das Horrorjahr verfasst.

Volker Ulrich: Deutschland 1923
C.H. Beck 2022
Hardcover 441 Seiten
ISBN: 978-3-406-79103-1

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Vor 175 Jahren entfachte die Französische Februarrevolution auch in Deutschland eine revoultionäre Stimmung. Cover Kiepenheuer&Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Wem die Sympathien des Autors gehören und auf wessen Seite er sich stellt, erschließt sich schon aus dem Titel Die Flamme der Freiheit. Letzte Zweifel räumt der Blick in die Würdigung aus, die den frühen Demokratinnen und Demokraten der Jahre 1848/49 gilt. Entsprechend ist dieses Buch gehalten, eine engagierte Streitschrift für die demokratischen, republikanischen und sozialen Bestrebungen im Gefolge der Februarrevolution in Frankreich 1848.

175 Jahre ist es nun her, dass in Paris innerhalb dreier Tage die Regierung des französischen Königs Louis-Philippe hinweggefegt und das Tor zu Freiheit aufgestoßen wurde. Mit auf den Barrikaden dabei sind deutsche Exilanten, denn Paris ist zu diesem Zeitpunkt die achtgrößte deutsche Stadt. Mehr als 60.000 leben dort, keineswegs nur politische Flüchtlinge á la Heine, sondern auch aus dem Nordhessischen stammende Straßenfeger.

Die Erzählung hebt dort an und endet nur wenige Wochen später, als alles östlich des Rheins in einem schauderhaften Gemetzel, einer ungeheuren Bedrückung endet, begleitet von brutalen Übergriffen gegenüber Unschuldigen und für schuldig Erklärten. Den Exildeutschen kommt in diesem Drama eine tragische Rolle zu, sie werden zum Gegenstand einer wüsten Propagandaschlacht reaktionärer Kräfte, über ihnen geht ein Sturzbach erfundener Vorwürfe und Verunglimpfungen nieder – ein bis in die Gegenwart probates Mittel, um Erhebungen aller Art zu desavouieren.

Die Feinde der Demokratie, gleich welcher Couleur, haben meist keine Probleme, skrupellos zu sein, jedes Mittel ist recht – wohingegen die Demokraten sich schwertun, ihre Feinde zu bekämpfen.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Jörg Bong widmet der medialen Dreckschleuder der so genannten Liberalen bzw. Ordnungspartei bzw. Konstitutionellen viel Raum, völlig zu recht, denn eine der Schwächen auf Seiten der Demokraten bestand darin, sich gegen die Lügenpropaganda nicht zu Wehr setzen zu können. Überhaupt ist Die Flamme der Freiheit für verträumte Revolutions-Schwärmer eine bedrückende Lektüre.

Denn skrupulöse Demokratie stößt hier auf brutalen, gut geführten, strategisch und taktisch sachverständigen Widerstand, den Bong gekonnt nachzeichnet. Selbstverständlich seitens der Fürsten, die – wie in Berlin – den Aufruhr auf brutalste Weise niederschießen lassen, Kreide fressen, zum Schein entgegenkommen und im Geheimen die Reaktion vorbereiten.

Schlimmer noch: Die Liberalen, die eine konstitutionelle Monarchie anstreben, von Sozialpolitik ebenso wenig wissen wollen wie von breiter Demokratie und Republik, geschweige denn Frauenrechten, erweisen sich als die schamlosesten Gegner der Demokraten. Lieber keine Freiheit als keine Ordnung, notfalls eine deutsche Einheit auch ohne Freiheit. Die Konstitutionellen wissen genau, was sie tun.

Das Vivat auf die Ordnung steht vor dem auf die Freiheit.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Sie werfen ihre Medienmaschine an, lassen sich mit Pöstchen abfinden und werden zum Büttel des überkommenen Systems aus Eigeninteresse. Sie fechten mit großem Geschick und einer bemerkenswerten Ruchlosigkeit, manövrieren die Demokraten nach Strich und Faden aus, bis das Momentum der Revolution verflogen ist. Bis zum bitteren Ende sind viele Meilensteine vorübergezogen, an denen hätte eine schärfere Gangart eingeschlagen werden können. Die Ausrufung der Republik begleitet von einem frühen bewaffneten Aufstand.

Hätte. Wäre. Schreckliche Worte, denn sie suggerieren oft Optionen, die nur vom Ende her besehen »besser« erscheinen. Für die von Skrupeln gebremsten Demokraten gab es gute Gründe für ihre Zurückhaltung. Die Französische Revolution watete durch Blut und mündete in einer Gewaltherrschaft, die Europa mit einem verheerenden Dauerkrieg überzog.

Umgekehrt wäre Louis-Phillippe ohne das Wissen um die potenzielle Gefahr, die von dem Umsturz für ihn persönlich ausging, nicht ohne Weiteres gewichen; hätten die deutschen Fürsten nicht solche Angst vor der Revolution gehabt. Im Wissen um das, was auf 1848/49 folgte, Bismarck, drei Kriege, Erster und Zweiter Weltkrieg, ehe endlich die Demokratie von den USA nach Deutschland gebracht wurde, ist es leicht, die Zögerlichkeit der Demokraten zu rügen.

Man hat die Revolution abermals vorbeiziehen lassen.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Die entscheidende Frage ist ohnehin eine ganz andere: Hätte es wirklich etwas geändert? Die Gegner wären auch dann skrupellos, klug, heimtückisch und im Besitz der militärischen Macht gewesen, insbesondere die Liberalen fehlten in den Reihen der Revolution. Die Demokratie-Gegner hatten auch noch Beistand von ganz Links, denn die Kommunisten waren ein dankbares Schreckgespenst, um die Demokraten als Aufrührer, Umstürzler, Gewalttäter zu brandmarken.

Vor allem aber stellt sich die Frage, ob Deutschland überhaupt bereit gewesen wäre, eine Revolution durchzuziehen. »Die Revolution begann systemkonform«, sie bediente sich vieler Petitionen, der Fokus ihrer Anführer liegt auf Ruhe und Ordnung. Man kann darüber spotten, doch das war auch ein – letztlich ungenügender – Versuch, den Gegnern den Wind aus den Propagandasegeln zu nehmen. Von den Gefahren wusste man auf Seiten der Republikaner ebenso wie von den revolutionären Abgründen.

Es wäre viel zu einfach, den Demokraten die alleinige Schuld zuzusprechen. Trotzdem ging ihnen auch die nötige Wehrhaftigkeit ab, um das Ziel zu erreichen. So folgt Rückschlag auf Rückschlag, Niederlage auf Niederlage, denn der Versuch, statt eines bewaffneten, allgemein revolutionären Aufstands einen ruhigeren, legitimierenden Weg einzuschlagen, spielte den Gegnern in die Karten. Als endlich zu den Waffen gegriffen wurde, war es zu spät, der April brachte ein dramatisches, tragisches Ende.

Das ist der Kern der demokratischen Ideen 1848/49: eine demokratische Bundesrepublik, eine verfassungsmäßige Herrschaft des Volkes.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Die Flamme der Freiheit ist ein sehr wichtiges und zeitgemäßes Buch. Es führt ein in die bedrückenden Umstände des von Metternich und Konsorten geprägten Europas, die sozialen Verwerfungen der anbrechenden industriellen Revolution und die vielen großartigen, hochmodernen Ideen, die bereits damals formuliert wurden.

Schön ist auch, dass Bong die Marginalisierung der ebenso engagierten wie klugen Frauen thematisiert und sie zu Wort kommen lässt, statt sie nur zu bedauern. Die hellsichtigen und klaren Äußerungen sind sehr interessant, zum Beispiel die entschiedene Ablehnung von Karl Marx’ Weltverbesserungsreligion durch Demokratinnen wie Emma Herwegh, was ihnen scharfe Anfeindungen des brausebärtigen Kommunisten einträgt.

Jörg Bong bezieht klar Position, stellt sich auf die Seite der Demokraten. Und er legt mit seinem Buch den Finger in jene Wunde, die bis in die Gegenwart schwärt, sich bereits in der kurzen Zeit der Weimarer Republik als verheerend erwiesen hat, auch im besonders schrecklichen Jahr 1923 und nach 1929, gleichermaßen in der von Putin und antidemokratischen Populisten geprägten Gegenwart:

»Eine reale Demokratie fußt auf wacher Wehrhaftigkeit und unbedingter Parteiname – mit klar begrenzter Toleranz für ihre Feinde.«

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit.
unter redaktioneller Mitarbeit von Simon Elson
Kiepenheuer&Witsch 2022
Gebunden 560 Seiten
ISBN: 978-3-462-00313-0

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