Geschichte hält sich nicht an Jahreszahlen und Kalender. Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen reichen in beide Richtungen darüber hinaus. Entsprechend ist es ein sinnvoller Ansatz, ein Buch über das Jahr 1923 nicht auf dasselbige zu beschränken, sondern die Wurzeln der katastrophalen Entwicklung und deren Folgen aufzuzeigen.
Man kann sich auch streng auf jene 365 Tage beschränken und nur in einzelnen Fällen vorgreifen oder zurückgehen. So ist Jutta Hoffritz mit ihrem Buch Totentanz vorgegangen. Durch die Fokussierung auf das Erleben der von ihr ausgewählten Persönlichkeiten erhält die Erzählung eine ganz besondere Nähe und Unmittelbarkeit. Dabei bleiben allerdings viele Dinge auf der Strecke, etwa die Erklärung, warum Deutschland 1923 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde.
Der Ansatz, den Volker Ulrich in Deutschland 1923 wählt, erklärt mehr, indem er die Ursachen ergründet und aufzeigt. Die gewaltige Geldentwertung hätte Anfang 1923 vielleicht noch eingedämmt werden können, doch war sie zu diesem Zeitpunkt schon ordentlich in Schwung. Die Ursachen reichen zurück in den Ersten Weltkrieg, der auf Pump finanziert wurde: Die Kosten würden die Verlierer bezahlen, so dachte man auf allen Seiten; natürlich ging man deutscherseits davon aus, dass die anderen verlieren würden.
Statt dicker Kriegsgewinne gab es 1918 Gebietsverluste, Aufstände, Putschversuche, Separatisten, die Notwendigkeit, immense Sozialleistungen aufzulegen und gewaltige finanzielle Reparationsbelastungen. Aus diesem verhängnisvollen Zustand hätte nur eine starke Reichsregierung im Verein mit nachgiebigen Siegerstaaten herausgefunden – stattdessen eskalierte der Reparationsstreit, Frankreich und Belgien besetzten das Ruhrgebiet.
Als Harry Graf Kessler im August 1922 durch Nordfrankreich reiste, war er erschüttert über das Bild, das sich ihm vier Jahre nach Kriegsende immer noch bot.
›Große, unkultivierte Flächen, die von blühendem Unkraut überwachsen sind, und auch zwischen bestellten Feldern auffallend viele unbestellte. Zerschossene Häuser, eingestürzte Dächer, kleine Barackendörfer, neue Landhäuschen von trostloser Scheußlichkeit. St. Quentin ist nicht vollständig zerstört, wie man gesagt hat, doch die Bahnhofsstraße und viele Häuser sind noch immer nach vier Jahren Trümmerhaufen. Und die Kathedrale thront fensterlos mit einem Wellblechschutzdach als erhabene, weithin sichtbare Ruine über der zerschossenen Stadt.‹«
Volker Ulrich: Deutschland 1923
Dieses Faktum wurde nicht nur von der deutschen Regierung geflissentlich ignoriert, man darf sich getrost die Frage stellen, wer sich im Deutschen Reich zu dieser Zeit überhaupt Gedanken gemacht hat, was der Krieg in Frankreich und Belgien hinterließ. Und wer sich dazu offen und öffentlich äußerte. Auch in der Geschichtsschreibung bleibt oft randständig, dass es für Reparationen trotz aller problematischen Punkt im Vertrag von Versailles sehr gute Gründe gab.
Die höchst problematisch agierende Regierung Cuno verfolgte ein Programm, das in den Abgrund führte, auch wenn es anfangs zu einer kurzlebigen inneren Einheit führte. Sie ignorierte den dringend gebotenen Rat, einen Kampf nur zu dann zu fechten, wenn die Aussicht auf Sieg steht – Frankreich und Belgien saßen am längeren Hebel, hatten Verantwortliche, die das Reich gern nachhaltig geschwächt sahen und – nicht zu vergessen – angesichts der immensen Zerstörungen in ihren Ländern sachliche Gründe, auf Reparationen zu bestehen.
Es ist immens spannend zu verfolgen, wie sich die Dinge im Reich entwickelten, wie zentrale Figuren handelten und aus welchen Gründen sie das taten. Volker Ulrich verfolgt in seinem Buch sehr genau die politischen Entscheidungsprozesse, die zu dem Desaster führten. Man schaudert, wie nahe das Reich dem Abgrund tatsächlich gekommen ist. Ein totaler Zusammenbruch, kriegerische Handlungen mit Frankreich, Separatstaaten, kommunistische und / oder rechtsradikale Umstürze – alles lag in Reichweite.
Rückblickend kann man leicht in die Versuchung geraten, zu glauben, dass das alles besser gewesen wäre, als das finstere Tal, das die Welt zwischen 1933 und 1945 durchschritten hat, doch würde es zu kurz greifen, der Katastrophe von 1923 zu attestieren, sie führte unausweichlich zu Hitlers Machtergreifung. Hitler hätte auch nach 1930 noch verhindert werden können, etwas wenn die Demokraten wehrhafter und Thälmanns Kommunisten nicht beinhart stalinhörig gewesen wären.
»Noch im Dezember 1923 hätte ein politischer Beobachter für den Bestand der Weimarer Republik keine fünf Rentenmark gegeben.«
Volker Ulrich: Deutschland 1923
Arthur Rosenberg.
Trotzdem war die Hinterlassenschaft von 1923 eine schwere Bürde für die Weimarer Republik ganz unabhängig von den massenpsychologischen Aspekten. Ein oft eher stiefmütterlich behandelter Aspekt ist, dass man sich in den Parteien der Mitte und SPD Illusionen hingab, die eine konstruktive, langfristige Politik verhinderten. Stattdessen wurden parteipolitische Spielchen gespielt, die 1924 prompt zu beträchtlichen Verlusten bei den Wahlen führten – und zu einem Erstarken der antidemokratischen Kräfte.
Der zweite, wichtige Punkt, den Volker Ulrich gern noch etwas prägnanter hätte nennen können, sind die Präzedenzfälle, die 1923 geschaffen wurden; die Reichsexekution gegen Sachsen und Thüringen etwa bildeten die Blaupause für den verheerenden Preußenschlag 1932. Wunderbar deutlich wird hingegen, wie verhängnisvoll die Stellung der Reichswehr, ihre angebliche Neutralität, die eine immense Rechtslastigkeit aufwies, war. Übertroffen wurde dieser Webfehler nur von der absurd rechtslastigen Justiz, die am Ende der Weimarer Republik nicht umsonst ein Hort der Hakenkreuzler war.
Ulrich widmet der Kunst, Literatur, Architektur und Technologie (Radio) auch einigen Raum, was ein wenig wirkt, als säßen diese Passagen im Notsitz des Buches. Es gibt natürlich Verbindungen zu dem politisch-wirtschaftlichen Geschehen des Jahres 1923, auch sind die Entwicklungen wirklich spannend, doch fehlt ein wenig die innere Anbindung an den Rest des Buches. Doch das ist angesichts der großen Qualität von Deutschland 1923 zu verschmerzen, denn Volker Ulrich hat ein hervorragendes Buch über das Horrorjahr verfasst.
Volker Ulrich: Deutschland 1923
C.H. Beck 2022
Hardcover 441 Seiten
ISBN: 978-3-406-79103-1
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