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Schlagwort: Osmanisches Reich

Boston Teran: Gärten der Trauer

Der herausragende historische Thriller erzählt von einer geheimen Mission eines Special Agents im Osmanischen Reich, mitten im Ersten Weltkrieg. Spannend, dramatisch, atmosphärisch wie ein Abenteuerroman mit Szenen, die aus einem Western stammen könnten, widmet sich der Roman einem fürchterlichen Thema: dem Genozid an den Armeniern. Cover Elsinor, Bild mit Canva erstellt.

›Freiheit verlangt nach Widerstand.‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Wenn Heroen der fiktiven Geheimdienst-Welt wie James Bond oder Ethan Hunt zu ihren Missionen aufbrechen, wirken die dräuenden Gefahren nicht selten ein wenig konstruiert. So recht will man der Story nicht abnehmen, dass die ganze Welt bedroht ist und nur durch den Helden gerettet werden kann. Gleiches gilt für die Beweggründe der Gegenspieler, die mitunter etwas Banales und Vorgeschobenes haben. Schwülstige Pychospielchen übertünchen notdürftig den Mangel und am Ende, da ist alles gut.

Wenn Special Agent John Lourdes im Jahr 1915 aus den USA nach Europa aufbricht, ist gar nichts gut. Zu diesem Zeitpunkt tobte in der historischen Wirklichkeit ein Krieg, er war noch auf Europa beschränkt, weitete sich durch den Eintritt Italiens und des Osmanischen Reiches schon aus. Ein Brand auf Messers Schneide, der schließlich globale Ausmaße annehmen sollte und so lange loderte, dass die Verluste allzu gewaltig waren, um noch einen tragfähigen Frieden zu schließen.

Boston Teran hat den historischen Agenten-Thriller Gärten der Trauer in das Kriegsgeschehen eingeflochten. Konstruieren musste er weder Drama noch Drohung, dafür sorgten schon die Umstände. John Lourdes ist im Auftrag des State Departments unterwegs, sein Ziel ist das Osmanische Reich. Was er dort soll, bleibt zunächst einmal im Dunkeln. Schon bei seiner Ankunft wird er mit etwas konfrontiert, das die gesamte Handlung des Romans bestimmt: die Auslöschung der armenischen Bevölkerung durch die Türken.

Die Behandlung der armenischen Bevölkerung ist barbarisch und unmenschlich. John Lourdes wird Zeuge von ungeheurlichen Grausamkeiten, die im Roman schonungslos geschildert werden. Der Autor verzichtet auf jede Form von Weichzeichnung, aber auch darauf, die Armenier zu bloßen Opfern zu degradieren. Sie leisten Widerstand, wehren sich, wo immer sie können.

Franz Werfel hat in seinem großen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh dem heldenhaften Versuch einer Gruppe Armenier, dem Tod zu entgehen, ein literarisches Denkmal gesetzt. Gärten der Trauer leistet das auch, auf eine andere Weise, dem Thriller-Genre entsprechend ist der Roman rasant und hochspannend erzählt. Zugleich weist er weit über den Genozid an den Armeniern hinaus, indem er diese Untaten an den Anfang einer neuen, Menschen und Völker verschlingenden Barbarei stellt.

Obwohl er die Bedeutung dessen, was er am Kai mitangesehen hatte, nicht vollständig erfassen und bewerten konnte, ahnte John Lourdes, dass die brutale Unmenschlichkeit dieser Geschehnisse von einer ganz neuen Schändlichkeit zeugte, wie sie die Welt bislang nicht kannte.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Im ersten Moment wirkt es etwas befremdlich, wenn nicht etwa ein türkischer, sondern ein deutscher Offizier in die Handlung eintritt und sich als Gegenspieler von John Lourdes entpuppt. Doch ist die Anwesenheit von Rittmeister Bodo Franke keineswegs weit hergeholt, denn deutsche Truppen kämpften tatsächlich im Osmanischen Reich. Franke kommandiert eine halb irreguläre Truppe aus freigelassenen Verbrechern, die an die SS-Sondereinheit Dirlewanger erinnert.

Vor allem aber lässt die Wortwahl des Deutschen keinen Zweifel daran, dass alles in dunkle Zukunft des nahenden Verhängnisses verweist: Franke korrigiert das Wort »Ausrottung« durch »Umsiedlung«, jene verbale Verschleierung der Massentötungen im Vernichtungskrieg des Hitlerreiches. Das ist kein Zufall, an anderer Stelle ist von »Endlösung« die Rede. Der Genozid an den Armeniern ist Teil von etwas Größerem, des späteren Zivilisationsbruchs, der ausgerechnet von den hochkultivierten Deutschen begangen wurde.

›Reden können Sie ja gut‹, sagte Rittmeister Franke.
Miss Temple deutet auf eine Tisch, an dem zwei weitere deutsche Offiziere saßen, gemeinsam mit drei Angehörigen des türkischen Militärs, die der Geheimorganisation angehörten.
›Sie und diese Männer haben über die Ausrottung …‹
›… Umsiedlung der armenischen Volksgruppe innerhalb des osmanischen Staatsgebiets.‹
›Warum sind die Deutschen eigentlich hier? Zum Beaufsichtigen …?‹
›Um die Souveränität der osmanischen Regierung gegen internationale Agitatoren und ausländische Agressoren zu verteidigen.[…]‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran hat seinem Roman den Charakter eines Agenten-Thrillers gegeben, Dynamik und Spannung wachsen, je weiter sich Special Agent John Lourdes in das Land hineinbegibt und in das Geschehen verwickelt wird. Angesichts des Krieges handelt es sich bei seinem Auftrag um eine verdeckte Geheimoperation. Diese dient erklärtermaßen nicht dem Ziel, die Armenier oder andere Völker zu befreien oder vor dem massenhaften Tod zu bewahren. Es geht um die Kontrolle über die reichhaltigen Ölvorkommen im Zweistromland (Basra) und am Kaspischen Meer (Baku).

Lourdes Auftrag und die geostrategischen Interessen der Auftraggeber kollidieren mit moralischen Erwägungen. Der Special-Agent steht vor der Wahl, seine Entscheidung geht auf seine eigene Herkunft zurück, wird aber auch durch die schockierenden Erlebnisse und Bekanntschaften mit Armeniern und ihren westlichen Unterstützern motiviert. Da wäre jene Aktivistin Alev Temple, die sich in exponierter Weise für die Verfolgten und Gejagten engagiert, vor allem dafür sorgt, dass die Vernichtung eines ganzen Volkes nicht im Nebel des Krieges verborgen bleibt.

Mit diesen Aspekten verweist der Roman auf eine Entwicklung, die bis in die Gegenwart reicht und vermutlich auch die Zukunft bestimmen wird. Moral und Interesse werden weiterhin kollidieren, die Versuche, Schandtaten zu verbergen, gibt es immer noch, auch wenn sie eine andere Gestalt angenommen haben. Aktivisten und Journalisten mit Mut und Courage können dagegen angehen oder sich zum Sprachrohr von Propaganda und Desinformation machen.

Doch weist Gärten der Trauer auch in die Vergangenheit. An einigen Stellen schimmert eine gewisse Zeitlosigkeit durch, außerdem werden die tiefen Wurzeln der Gegenwart sichtbar, wie das schöne Zitat zeigt. An einer anderen Stelle ist von »Straßen und Gassen dieser zeitlosen Welt« die Rede, ein Aquädukt bezeugt die schöpferische Hochkultur der Römer und als Lourdes den Tigris erreicht, ist ihm bewusst, an der Wiege der menschlichen Zivilisation zu stehen.

Seit den Tagen der Seleukiden und Parther kreuzten sich hier die Wege der Gewalt.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran ist das Kunststück geglückt, sein Thema in das Gewand eines hochspannenden, dramatischen, wendungsreichen Thrillers zu kleiden. Manchmal erinnern Szenen an Western, wenn etwa eine Befreiungsaktion unternommen wird. Die Atmosphäre gemahnt an einen Abenteuerroman mit Niveau. Wie es sich für einen Thriller gehört, mündet die Handlung in einen furiosen Showdown, der in diesem Fall sehr passend apokalyptische Züge trägt. Chapeau!

Abgerundet wird der großartige Roman von einem sehr informativen Nachwort von Martin Compart, der auch die Klassiker-Reihe des Elsinor-Verlages mit seinen einordnenden Worten bereichert. Lange Passagen mit Äußerungen des Autors sind sehr aufschlussreich über die Motivation zur Auseinandersetzung mit diesem ungewöhnliche Thema im Rahmen eines Thrillers. Auch über Boston Teran selbst erfährt der Leser eine Menge, denn wer das eigentlich ist, liegt noch im Nebel des Pseudonyms verborgen.

[Rezensionsexemplar]

Boston Teran: Gärten der Trauer
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Herausgegeben von Martin Compart
Elsinor Verlag 2024
Klappenbroschur 244 Seiten
ISBN 978-3-942788-78-6

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Im Frühjahr 1918 unternahm das Deutsche Kaiserreich einen letzten, erfolglosen Großangriff im Westen, doch der Krieg war bereits zugunsten der Entente entschieden. Der Kriegseintritt der USA gab den Ausschlag. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Das Schlüsselwort in diesem vorzüglichen Buch Auf Messers Schneide lautet »Unentschieden«. Schon im Vorwort begegnet es dem Leser und erweitert das scheinbar konkurrenz- oder alternativlose Begriffspaar »Sieg« und »Niederlage« um eine dritte Option. Es handelt sich nach Einschätzung des Autors Holger Afflerbach sogar um das „vorgezeichnete und praktisch unausweichliche Ergebnis der strategischen Lage“, zumindest „während der längeren, der europäischen Phase des Krieges.“

Diese Einschätzung unterscheidet sich von dem, was während meines Studiums Anfang der 1990er Jahre diskutiert wurde. Seinerzeit kämpfte gerade die deutsche Historiographie noch immer mit Fritz Fischers allzu bequemen Phantasien von einem deutschen „Griff nach der Weltmacht“ und dem trübseligen Historikerstreit. Für den Zweiten Weltkrieg und Hitlers bzw. die nationalsozialistischen Kriegsziele kann man getrost von einem Eroberungskrieg sprechen, für das Deutsche Kaiserreich gilt das nicht.

Deutschlands Gegner, die Entente-Mächte, hatten zu keinem Zeitpunkt des Krieges ein gesteigertes Interesse daran, mit ihren Kontrahenten einen Kompromissfrieden zu schließen. Die wiederum haben eine Reihe von Chancen verpasst, die Alliierten entsprechend unter Druck zu setzen. Das wird in der Analyse Afflerbachs sehr deutlich. Er spart auch nicht mit Kritik, etwa an Reichskanzler Bethmann-Hollweg und seiner unentschlossenen, widersprüchlichen und lavierenden Form der Politikführung.

Unentschieden meint übrigens nicht, dass alles so hätte sein müssen, wie vor Kriegsausbruch, ein Remis hätte anders aussehen können und bald müssen als ein Status Quo Ante. Der war ab einem gewissen Punkt unmöglich, gleiches gilt aber für einen »Sieg«. Die Fokussierung auf den Siegfrieden hat den Krieg in einer Weise verlängert, dass auch die Sieger dramatisch beschädigt waren. Russland beispielsweise wurde über seine Möglichkeiten hinausgehend im Krieg gehalten und brach in einer Weise zusammen, die in der Folge mehr Menschen das Leben kosten sollte, als der Erste Weltkrieg.

Die Vorstellung, das Deutsche Reich habe nach der kontinentalen Vorherrschaft gestrebt, ist eine krasse Vereinfachung der Wirklichkeit und im Kern falsch.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Jahrzehntelang stand die so genannte »Schuldfrage« wie der berüchtigte Elefant im Raum und versperrte bzw. verzerrte die Sicht auf wesentliche Faktoren, die den Krieg bestimmten. Etwa die aggressiven, imperialistischen, expansionistischen und »provinziellen« Kriegsziele der Entente, namentlich Frankreichs und Italiens, aber auch Englands und Wilsons eher unrühmliche Absichten. Sie entgrenzten den Krieg ohne Rücksicht auf die absehbar selbstbeschädigenden Folgen.

Afflerbach sieht die Verlängerung des Krieges als Folge dieser Kriegszielpolitik und der unseligen Fokussierung auf einen Siegfrieden. Was harmlos klingt, führt zur Quintessenz seiner Analyse: Am Ende gab es keinen »Sieg« und keinen »Frieden«. Die Folgen des Krieges machten auch die militärischen Gewinner zu Verlierern. Faschismus, Stalinismus, Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, Holocaust – die nachfolgende Geschichte 20. Jahrhunderts gilt für den Autor als Kronzeugin dieser Einschätzung.

Die Entwicklung, darauf legt Afflerbach Wert, war auch nach 1918 weder zwingend noch zwangsläufig, im Gegenteil. Selbst der Friedensvertrag von Versailles hätte Möglichkeiten geboten, die von Zeitgenossen durchaus gesehen wurden; ein Zufall waren die verheerenden Entwicklungen nach 1918 aber nicht. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, ein »negativer Verlauf des 20. Jahrhunderts« wäre durch den endlosen, blutigen Krieg vorgezeichnet und schwer vermeidbar gewesen. Entgegenkommen der Sieger  war angesichts der Verwüstungen und horrenden Verluste erst später möglich, zu spät für die junge, schwache Republik von Weimar.

Es ist jedoch eine historische Tragödie, dass viele der Nachbesserungen zu spät kamen und nicht der jungen deutschen Republik zufielen, sondern ihrem Totengräber Adolf Hitler.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Militärisch und politisch ist der Erste Weltkrieg von deutscher Seite, aber auch Österreich-Ungarns, durch katastrophale Fehlentscheidungen geprägt. Auch ohne die vermaledeite Kriegsschuldfrage ist der politisch orchestrierte Weg der Doppelmonarchie in den Krieg geprägt von geradezu grotesken Entschlüssen. Das setzte sich nach Kriegsausbruch fort, militärisch wie politisch. Przemysl etwa, das »Stalingrad des Ersten Weltkrieges«, oder der Kriegseintritt Italiens, der politisch durchaus hätte verhindert werden können.

Italiens Kriegseintritt 1915 hat laut Afflerbach einen bis dahin denkbaren Sieg der Mittelmächte nahezu unmöglich gemacht. Zwar haben die Italiener militärisch zu keinem Zeitpunkt etwas Bedeutsames erreicht, doch die Bindung hunderttausender Soldaten der Donaumonarchie, die weitere wirtschaftliche Abschnürung verbunden mit der Überlastung der Eisenbahnlogistik reichte bereits aus, um die Waage kippen zu lassen.

Es war der erste Schritt zu einer Entgrenzung des Krieges und seiner verheerenden Verlängerung. Ein Punkt, der auch immer wieder zu schwach gewichtet wird, ist die Veränderung der Koalitionen: Im Kriegsverlauf erweiterte sich die Zahl der Kriegsteilnehmer auf beiden Seiten. Entscheidend war dabei der Kriegseintritt der USA 1917: Hier schloss sich für die Mittelmächte das Fenster zu einem Remis mit der Entente, das laut Afflerbach um die Jahreswende 1916/17 durchaus offenstand.

Im Winter 1916/17 bot sich dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten eine vollwertige Chance, den Krieg mit einem Remis zu beenden, und zwar in der von den Zeitgenossen verkannten Verschränkung zwischen amerikanischer Friedensvermittlung und prärevolutionärer Situation in Russland. 

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Die USA waren unter Wilson parteiisch. Sie wollten laut Afflerbach unter keinen Umständen einen Sieg der Mittelmächte, aber auch nicht unbedingt einen Sieg der Entente, sondern den Aufstieg der USA zur globalen Vorherrschaft. In Deutschland wussten nur sehr wenige wirklich über das Land jenseits des Atlantiks Bescheid, wenige sahen die entscheidende Auswirkung eines Kriegseintritts der USA, ja viele hielten diesen für unwahrscheinlich.

Für die Entente war die Kriegserklärung der USA Anfang April 1917 der Schritt über die Schwelle, den Krieg notfalls noch jahrelang weiterführen zu können, bis die Mittelmächte zusammenbrachen. Anders als Russland, das längst militärisch, wirtschaftlich und politisch überfordert war und nach der Februar-Revolution 1917 den Krieg hätte beenden müssen, um den eigenen Untergang zu vermeiden, waren die USA faktisch unbezwingbar.

Für die Entente bestand demnach nach dem Zusammenbruch Russlands kein Grund, vom Konzept des militärischen Siegfriedens abzurücken, wenn das auch kurzsichtig gedacht war. Allein die bodenlose Verschuldung wirkte wie ein Gift auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung nach 1918. Gleichzeitig waren die Kriegsziele der Entente, die durch die Bolschewiki veröffentlich wurden, Wasser auf die Mühlen der Kriegspartei in Deutschland und bei seinen Verbündeten.

Die verbissene und ungeheuer schädliche alliierte Siegfriedensstrategie, die letztlich diese „wahnsinnige Selbstzerfleischung“ Europas zu verantworten hatte, hätte ihre Berechtigung gehabt, wenn das kaiserliche Deutschland durch den Krieg einen kohärenten Eroberungsplan hätte durchsetzen wollen. (…)

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Es gehört zu den ironischen Aspekten dieses Krieges, dass Zeitgenossen wie Ludendorff, die auf einen militärischen Sieg fixiert waren, ein Entgegenkommen der Gegner fürchteten. Afflerbach meint zurecht, dass die Entente auf diese Weise den Kräften im Reich, die auf eine Beendigung des Krieges drängten, das schärfste Schwert aus der Hand schlug, nämlich die Aussicht auf einen Kompromiss.

Wichtig ist aber auch, dass es in Deutschland eine Friedenspartei gab! Im Zweiten Weltkrieg war das nicht mehr der Fall. Wer also aus Auf Messers Schneide etwas für die Gegenwart ableiten möchte, sollte diesen Aspekt unbedingt im Auge behalten. Entgegenkommen ohne Kompromisswilligkeit auf der Seite des Eroberungskriegers ist Appeasement im schlimmsten Sinne.

Es bleibt jedoch dahingestellt, ob es 1916/17 wirklich die Aussicht auf einen Kompromissfrieden gegeben hat. Denn die deutsche Gesellschaft war im Krieg von der Welt abgeschnitten. Aus dieser »klaustrophobischen« Lage wurde sie auch dank der »lebensbedrohlichen Verknappungen« (Hunger, Kälte) von der »paranoiden und bösartigen« Vorstellung getrieben, England wolle das Reich »erwürgen« und die Zivilbevölkerung verhungern lassen.

Das führte zu einer breiten, öffentlichen Unterstützung des verhängnisvollen U-Boot-Krieges. Den zu verhindern fehlten Persönlichkeiten, die neben Einsicht auch die nötige Macht und Entschlossenheit gehabt hätten, sich durchzusetzen. Das gilt auch für einen Kompromissfrieden, der eben auch deutscherseits Entgegenkommen trotz der großen Opfer  beinhalten musste. Angesichts der öffentlichen Stimmung und des dysfunktionalen politischen Systems eine Herkulesaufgabe, die niemand schultern konnte.

Der Erste Weltkrieg war, in der deutschen Innensicht, kein Eroberungsfeldzug, sondern eine chaotische Interaktion konkurrierender Entscheidungszentren, in die Akteure von einer oft selbstverschuldeten Notlage zur nächsten hetzten.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Der »Waffenstillstand« von 1918 war nach Einschätzung Afflerbachs keiner, sondern eine Kapitulation unter bestimmten Bedingungen. Die Verhandlungen von Versailles haben diese Bedingungen jedoch übergangen, was wie ein Brandbeschleuniger auf die Empörung in Deutschland wirkte, die es den Gegnern einer Republik wesentlich erleichterte, den Friedensschluss und ihre Unterzeichner innenpolitisch zu diskreditieren und diffamieren – im Kampf um die Macht. Das bittere Ende für die »Sieger« von 1918 ist bekannt.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor
C.H.Beck 2022
Paperback 664 Seiten
ISBN: 978-340677743-1

Tom Hillenbrand: Der Kaffeedieb

Ein ganz wunderbarer Schmöker mit einer sehr gelungenen Mischung aus Abenteuer und Raubzug, wie er auch in modernen Filmen á la Ocean’s Eleven umgesetzt wird. Cover Kiepenheuer&Witsch-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Als passionierter Kaffeetrinker hat mich der Titel natürlich sofort angesprochen und selbstverständlich furchte sich meine Stirn bei der Frage: Wie kann man Kaffee stehlen? Besser gesagt: Warum sollte man Kaffee stehlen, wenn man ihn doch mehr oder weniger überall erstehen kann bzw. in der Welt, in der Hillenbrands Roman Der Kaffeedieb leicht erwerben konnte? Gut, das Angebot war geringer, es handelte sich um ein Luxusgut, aber wer würde ohne Not für einen Diebstahl die grausamen Strafen dieser Zeit in Kauf nehmen?

Es ist ein richtig guter Buchtitel, das machen meine einleitenden Worte schon deutlich, denn die offenen Fragen erzeugen Neugier und damit die Motivation, ein Buch lesen zu wollen. Die Erzählung, die Der Kaffeedieb zu bieten hat, konnte alle Erwartungen deutlich übertreffen. Das beginnt schon mit der Notlage, in die sich der Held Obediah Chalon bringt. Als alter Börsianer weiß ich es sehr zu schätzen, wie er sich verspekuliert und auch noch mit gefälschten Wechseln. Herrlich!

Auch die Strafe, die er erdulden muss, ist sehr originell – sie dient als klassische Mausefalle für einen Gestrauchelten, der so vor eine Wahl gestellt wird, die gar keine ist: Obediah muss einen Auftrag annehmen, der einem Himmelfahrtskommando ohne sonderliche Aussichten auf Erfolg gleicht. Sein Auftraggeber ist zudem für seine brutale, gewissenlose Grausamkeit bekannt: die Niederländische Ostindienkompanie. Kompanie meint hier: Gesellschaft.

Obediah nimmt nolens volens an. Eine haarsträubende Geschichte voller abenteuerlicher Wendungen, Begegnungen, beinahen und tatsächlichen Katastrophen, Rückschlägen und überraschenden Fortschritten, Verfolgungen, Schleichwegen, ausufernden Plänen und Absichten, Zufällen und Gefahren in mehr oder weniger fremden, immer gefährlichen Ländern entwickelt sich. Alles, um Kaffee zu stehlen – da ich nicht gern spoilere, belasse ich es bei einer nichtssagenden Angabe: Es geht um mehr als eine Schale voll lauwarmer Kaffee-Plörre.

Der Kaffeedieb besticht durch die Gestaltung seiner Hauptfigur. Ein Virtuoso, weitreichend vernetzt mit anderen Gelehrten dieser Zeit, in der Newton, Leibnitz und wie sie alle hießen das Wissen der Menschheit von den Tumbheiten religöser Eiferei befreiten und auf eine rationale Grundlage stellten. Briefe wurden verfasst und empfangen, man könnte meinen, es hätte so etwas wie einen Gelehrtenstaat gegeben, basierend auf dem Wort, der Schrift und dem Gedanken.

Das gibt dem Roman die gewisse Würze und bewahrt Leser wie mich vor dem bloßen Action-Gedöns – das ich nur selten zu schätzen weiß. Manche mögen das vielleicht als geschwätzig, weitschweifig und langatmig empfinden, weil nicht alle zwei Seiten die Säbel gekreuzt werden und die Kanonen donnern, sondern nachgedacht, gestritten, debattiert und aufgeklärt wird.

Und, ja – da wäre noch der Höhepunkt der Erzählung, wenn der gewagte, gewundene Plan in die Tat umgesetzt wird und Hillenbrand einfach die Perspektive wechselt. Das Spektakel wird in der Rückschau von einem alt gewordenen Augenzeugen berichtet, der seinen Zuhörern, einer Schar Kinder, eine recht eigenwillige Auslegung der Ereignisse darbietet. Der Leser weiß genug, um das alles auf die Pläne Obediahs übertragen zu können – den Rest muss er sich halt selbst ausmalen. Chapeau!

Es gibt Motive in Romanen (und Filmen), die eine Kaminfeuerwärme bei mir erzeugen. Die Zusammenstellung einer Gefährtengruppe gehört dazu. Obediah kann das Unternehmen nicht allein bewältigen, er braucht Unterstützer, die bei so einem Unternehmen nicht gerade zu der sozialverträglichsten Sorte gehören. Der Kaffeedieb schart seinen Trupp eigenwilliger Persönlichkeiten um sich und muss mit ihnen klarkommen – bis zum bitteren Ende. Auch das ist übrigens in jeder Hinsicht sehr gelungen.

Tom Hillenbrand: Der Kaffeedieb
Kiepenheuer&Witsch 2016
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-462-04851-3

© 2025 Alexander Preuße

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