Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Preußen

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Ein historisches Epos mit einer barocken Sprache. Man sollte sich Zeit nehmen, um es langsam und voller Genuss zu lesen. Cover Liebeskind-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der britische Comedian, Schauspieler, Autor und damit noch lange nicht erschöpfend beschriebene Ricky Gervais hat sich einmal über jene Menschen lustig gemacht, die angesichts von mehr als dreitausend Göttern in der Geschichte der Menschheit ausgerechnet jenen einen, an den sie glauben, als den einzig Wahren ansähen. Alle anderen wären nur Auswüchse von Nonsens. Müll.  Er macht sich also weder über Gott noch über den Glauben, sondern den kuriosen Absolutheitsanspruch angesichts der überwältigenden Konkurrenz lustig.

Für den Tod gilt das nicht. Es gibt nur einen einzigen Tod, vor dem tatsächlich alle Menschen gleich sind, denn alle Menschen müssen sterben. Manchem gilt diese wahrhaft göttliche Absolutheit des Todes als eigentlicher Grund für die Neigung des Menschen, sich Götter zu suchen: Ein Versuch, dem Tod in seiner Allmacht entgegenzutreten, ein Placebo gegen die Angst vor dem Sterben. Aber es gibt eben auch das Streben nach Unsterblichkeit, das in vielfältiger Weise Einzug in menschliches Leben gehalten hat.

Damit betreten wir das Erzählreich von Thomas Willmann, der sich in seinem Roman Der eiserne Marquis dem Bestreben mehrerer Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts widmet, das Geheimnis des Lebens zu ergründen und den Tod zu besiegen. Schon im Prolog erfährt der Leser, dass die Sache schrecklich schiefgegangen ist, die Hauptfigur sitzt fest, mutmaßlich ein Kerker, und bezichtigt sich gegenüber seinem Publikum, einigen Ratten, mehrerer schwerer Vergehen.

Mit jenen Sätzen, glaube ich heute, setzte er mich erst recht auf die Bahn meiner fatalen Suche nach der treibenden, lebenden Kraft unserer Welt.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Bis alle Gründe für die missliche Lage offenbart sind und die letzte aller Schuld offengelegt ist, vergehen neunhunder opulent gefüllte Seiten. Die Erzählung beginnt in der Provinz, eine klassisch anmutende Begabten-Geschichte, in der jener vom Schicksal mit einigen Talenten ausgestattete Held mit seinem eher schlichten Umfeld kollidiert. Dank einer hilfreichen Hand gelingt es ihm nach Wien zu gelangen und Lehrbub beim angesehenen Uhrmacher Servasius Weisz zu werden.

Die Fein-Mechanik ist das Gebiet, in dem die Talente der Hauptfigur liegen. Die Uhrmacher-Zunft bietet ihm ein interessantes Betätigungsfeld, zumindest wenn die Uhren die nötige Qualität und Komplexität aufweisen. Darüber hinaus eröffnet die Kaiserstadt noch zahlreiche andere Möglichkeiten der Bildung, vor allem mit einem kundigen Führer wie Ferdinand, der ebenfalls für Weisz arbeitet.

Der Leser ist zu diesem Zeitpunkt längst im üppigen, bildstrotzenden Erzählstil Willmanns versunken, dessen Sprache vom einem geradezu märchenhaften Reichtum ist. Die Welt, in der sich die Figuren tummeln, wird so lebendig. Aber auch die Innenwelten der Personen, insbesondere der Hauptperson, die sich dank der Rückschau immer wieder selbst durchleuchtet und bestimmte Charakterzüge hervorhebt, meist verbunden mit Selbstbezichtigungen.

Auch Weiszens Antlitz machte erste Anstalten, sich dem Alter zu ergeben – unter Kind und Augen begann die noch gut ausgepolsterte Haut herabzusacken, feines Adergekrakel schrieb ihm die Neigung zu üppiger Speise und Trank auf die Wangen; und selbst die Fröhlichkeit hatte in seinen Zügen als Schnitzmesser für Fältlein gewirkt.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Das Beispiel zeigt schön, auf welche Reise sich der Leser dieses Romans begibt. Wer so schreiben und Bilder erschaffen kann, dem ist es möglich, die vielfältigen Zwischenwelten der menschlichen Existenz stärker auszuleuchten, als es viele andere Schriftsteller können. Das braucht Zeit, der Autor hat sie sich genommen und der Leser sollte es ihm nachtun und diese literarische Reise durchschreiten, um sie zu einem Erlebnis zu machen, das sich einem im Leseleben nicht oft bietet.

In Wien erleidet der Protagonist einen verheerenden Schicksalsschlag, den er zwar nicht ausgeführt hat, aber hätte abwenden können. Er verliebt sich in eine Grafentochter namens Amalia, es gelingt ihm sogar, sich ihr zu nähern, was Willmann in einer wirklich fabelhaften Weise erdacht hat, doch will er zu viel und beschwört durch seine kindische, dickköpfige, selbstverliebte und larmoyante Art eine Katastrophe herauf.

Ein Zwischenspiel folgt, die Hauptfigur flieht aus Wien und nimmt einen klingenden Namen an: Jacob Kainer. Er tritt der preußischen Armee bei und kämpft im Siebenjährigen Krieg, allerdings nicht mit dem Gewehr, sondern der Trommel, wenn man so will, dem Taktgeber der Armee und damit eine Art Echo des Uhrwerks. Willmann lässt den Leser an den Unbilden des Kriegsdienstes und Kriegsgeschehens mehr teilhaben, als diesem manchmal lieb ist. 

Alles, was noch geschehen sollte, war nicht Strafe oder zwingende Folge seiner bedingungslosen Hingabe an die Vernunft – sondern eben seine letztlich menschliche Fehlbarkeit darin.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Die Schlachtfelder verlässt Jacob Kainer versehrt und wird in einem Lazarett von einem Marquis entdeckt, nach Paris mitgenommen und werkelt dort gemeinsam mit seinem neuen Gönner, Freund und Schicksalsgenossen daran, dem Leben sein Geheimnis zu entlocken und dem Tod die Stirn zu bieten. Wie das Zitat zeigt, folgt das Duo, das sich ab einem gewissen Zeitpunkt durch die bezaubernde und kluge Arianne zu einem Trio erweitert und von einem stummen Diener namens Mael unterstützt wird, zunächst dem Pfad der Vernunft.

Der weitaus größte Teil des Romans widmet sich diesem Wirken, über den Inhalt will ich kein Wort mehr verlieren. Was geschieht und wie ist ganz wunderbare Literatur, die tief hineinführt in die großen menschlichen Fragen. Der Kampf gegen den Tod ist vor zweihundertfünfzig Jahren so aussichtslos wie in der Gegenwart, wer auf das »sture, bedächtige Voranschreiten der Vernunft und Verantwortlichkeit« setzt, kann angesichts der verstreichenden Lebenszeit das Ziel persönlich nur verfehlen.

Das Dilemma kann man akzeptieren, man kann sich selbst und seine Tätigkeit aufgeben oder den Pfad der Vernunft verlassen und ins Obskure, Okkulte abgleiten. Dieses Nebeneinander von Vernunft und Aberglaube prägt den Roman auf großartige Weise. Im Falle des Marquis sind beide Strömungen in einer Person enthalten, anders als bei Theodor Storms Der Schimmelreiter, in dem Moderne (neuer Deich) und Aberglaube (etwas Lebendiges muss ins Fundament des Deiches) unterschiedlichen Personengruppen zugeordnet ist.

›Meine Vernunft?! Oh, die ließ mich schon lange! Mir blieb meine Verzweiflung.‹

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Der Marquis ist hochgebildet, aufgeklärt, spöttisch gegenüber dem Aberglauben (und vielen anderen Dingen) und macht sich trotzdem auf den Weg des dumpfen, morastigen Geschwurbels. Der Mensch in diesem Roman, selbst der hoch veranlagte, ist eben trotzdem zum Scheitern, zum Abgleiten verurteilt, seine Stärke nur ein Schein, der in der Konfrontation mit dem Tod, mit Krankheit und Vergehen zusehens verblasst.

Willmanns Der eiserne Marquis beginnt nicht nur im Untergründigen, Dunkeln, Verlies, sondern endet dort auch, sowohl im übertragenen wie im realen Sinne. Der Weg in den Abgrund beginnt viel früher, wie der Erzähler dank der Rückschau durchaus erkennt; er führt die Personen in ihrem verzweifelten Kampf gegen den Tod in ein schauriges Reich, das bereits Mary Shelley mit Frankenstein literarisch betreten hat.

Jede Form von Horror-Literatur ist mir zutiefst zuwider, das gilt auch für ihre zahllosen Ableger und Sub-Genres, auch die viel geschätzte Mystery. Daher ist mir anlässlich des Finales ein wenig unbehaglich geworden, was viele andere Leser nicht weiter schrecken wird. Willmann hat seinen Marquis aber zu einem wirklich überzeugenden Ende geführt. So darf ich uneingeschränkt froh darüber sein, dass sich der Autor auf das Abenteuer eingelassen hat, über mehr als ein Jahrzehnt dieses Opus zu schaffen.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis
Liebeskind Verlag 2023
Gebunden, 928 Seiten
ISBN: 978-3-95438-165-4

Angela Steidele: Aufklärung

Ein Historischer Roman aus der Sicht einer Tochter Johann Sebastian Bachs, stimmungsvoll, atmosphärisch und in besten Sinne aufklärerisch. Cover Insel-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ein literarisches Gegenspiel, eine Gegenbiographie, die aufklärt darüber, wie es nach Ansicht des erzählenden Ichs tatsächlich gewesen ist. Das weicht erheblich von dem ab, was aus Männerfedern auf Papier geflossen ist und die Überlieferung geprägt hat. Doch geht die Autorin noch – mindestens – einen Schritt weiter und lässt ihre Erzählstimme keineswegs unangefochten berichten – sie wird immer wieder infrage gestellt, unterbrochen, korrigiert, während sie schreibt. Kleine Sätze der Rechtfertigung sind hier und da in Klammern eingeflochten.

Im besten Sinne der Aufklärung bleibt es also am Ende beim Leser, wem und was er Glauben schenken will. Aufklärung ist ein großer Lesespaß! Man muss sich ein wenig einlesen, in den Stil, den die Autorin Angela Steidele sanft koloriert hat und etwas zeithistorisch klingen lässt, was den Lesefluss befördert sowie lustig und einfach schön ist, ohne diese träge, staubige Schwere alter Grammatik.

Die Geschichte ist in der Ich-Form präsentiert, die Erzählerin ist Dorothea Bach, eine Tochter von Johann Sebastian Bach, von der nahezu nichts überliefert ist. Ein gefundenes Fressen für eine Autorin von einem Historischen Roman, denn diese Leerstellen wollen gefüllt werden – mit Fiktion. Steidele widmet sich dieser Aufgabe mit Hingabe, Leichtigkeit, Humor, bisweilen bissigem Sarkasmus und lässt eine ganz wundervolle Welt vor den Augen der Leser entstehen.

Sie ist voller Musik, Herzenswärme, Literatur, gelehrten Gesprächen, Spott, Neid, Eifersucht, Streit – aber auch berührt von den Unbilden der Zeit. Der Macht des Todes, der Krankheit, der Armut, die Verheerungen der Kriege Friedrichs II. und die Zudringlichkeiten einer unaufgeklärten Welt. Dabei gelingt es Steidele, den leichten Tonfall beizubehalten, hier wird nicht stiefeltrampelig einer Wahrheit Bahn gebrochen, der Leser wird geradezu aufgefordert, selbst zu denken.

Ganz besonders atmosphärisch sind die kleinen Anmerkungen unten auf der Seite, die auf die Werke Johann Sebastian Bachs verweisen, von denen in der Erzählung die Rede ist. Man kann sie problemlos anhören und mit dem vergleichen, was die Erzählstimme und andere Zeitgenossen zu sagen haben. Aber auch Literatur ist aufgeführt, Dramen, Theaterstücke, Romane, Sachbücher aller Art, in die ohne große Schwierigkeiten ein Blick geworfen werden kann, denn diese zeitgenössische Literatur steht im Internet zumeist zur Verfügung.

Apropos Internet. Anlässlich einer Lesung beim Göttinger Literaturherbst hat Angela Steidele neben vielen anderen sehr aufschlussreichen Bemerkungen auch gesagt, sie habe heimlich etwas über die Gegenwart erzählen wollen. Das wollen – gute – Historische Romane ja oft. Und so darf man sich fragen, ob Lautentius Gugl nur zufällig diesen Namen trägt oder die Zwitscherblättchen, die – weil gedruckt – anonym über andere Zeitgenossen herziehen, vielleicht auf eine moderne Kommunikationserscheinung anspielen.

Angela Steidele macht sich zudem ein großes Vergnügen daraus, große Männer von ihren Sockeln zu holen. Gotthold Ephraim Lessing etwa kommt nicht gerade gut weg, Friedrich II., der so genannte „Große“, verdiente sich ganz andere Beinamen. 

Rousseau? „Ein armes Irrlicht aus Genf, der sich mit allen verkracht“, lässt sie den Leser aus dem Munde Luise Gottscheds wissen, verbunden mit einem didaktischen Hinweis für die Gegenwart: „Weil sich jeder über ihn aufregt, erhält er so viel Resonanz. Da müssen wir seine absurden Ansichten nicht auch noch ventilieren.“  Don´t feed the troll, würde man heute sagen.

Das Ende ist ganz fabelhaft gelungen. Vier Zeilen eines Gedichtes machen noch einmal deutlich, worum es in dem Roman Aufklärung eigentlich geht: Jene ins richtige Licht rücken, die bislang im Schatten standen, dorthin das Licht leuchten lassen, wo Dunkelheit, (Ver-)Schweigen und Vergessen bis heute Vieles verborgen hat, was ans Licht gehört.

Mit großem Vergnügen verweise ich auf eine ebenso vorzügliche wie ausführliche Buchvorstellung von Marius Müller, der durch seinen sehr anregenden Text verantwortlich dafür ist, dass ich diesen wunderbaren Roman gelesen habe.

Angela Steidele: Aufklärung
Insel Verlag 2022
Gebunden 602 Seiten
ISBN: 978-3-458-64340-1

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Vor 175 Jahren entfachte die Französische Februarrevolution auch in Deutschland eine revoultionäre Stimmung. Cover Kiepenheuer&Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Wem die Sympathien des Autors gehören und auf wessen Seite er sich stellt, erschließt sich schon aus dem Titel Die Flamme der Freiheit. Letzte Zweifel räumt der Blick in die Würdigung aus, die den frühen Demokratinnen und Demokraten der Jahre 1848/49 gilt. Entsprechend ist dieses Buch gehalten, eine engagierte Streitschrift für die demokratischen, republikanischen und sozialen Bestrebungen im Gefolge der Februarrevolution in Frankreich 1848.

175 Jahre ist es nun her, dass in Paris innerhalb dreier Tage die Regierung des französischen Königs Louis-Philippe hinweggefegt und das Tor zu Freiheit aufgestoßen wurde. Mit auf den Barrikaden dabei sind deutsche Exilanten, denn Paris ist zu diesem Zeitpunkt die achtgrößte deutsche Stadt. Mehr als 60.000 leben dort, keineswegs nur politische Flüchtlinge á la Heine, sondern auch aus dem Nordhessischen stammende Straßenfeger.

Die Erzählung hebt dort an und endet nur wenige Wochen später, als alles östlich des Rheins in einem schauderhaften Gemetzel, einer ungeheuren Bedrückung endet, begleitet von brutalen Übergriffen gegenüber Unschuldigen und für schuldig Erklärten. Den Exildeutschen kommt in diesem Drama eine tragische Rolle zu, sie werden zum Gegenstand einer wüsten Propagandaschlacht reaktionärer Kräfte, über ihnen geht ein Sturzbach erfundener Vorwürfe und Verunglimpfungen nieder – ein bis in die Gegenwart probates Mittel, um Erhebungen aller Art zu desavouieren.

Die Feinde der Demokratie, gleich welcher Couleur, haben meist keine Probleme, skrupellos zu sein, jedes Mittel ist recht – wohingegen die Demokraten sich schwertun, ihre Feinde zu bekämpfen.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Jörg Bong widmet der medialen Dreckschleuder der so genannten Liberalen bzw. Ordnungspartei bzw. Konstitutionellen viel Raum, völlig zu recht, denn eine der Schwächen auf Seiten der Demokraten bestand darin, sich gegen die Lügenpropaganda nicht zu Wehr setzen zu können. Überhaupt ist Die Flamme der Freiheit für verträumte Revolutions-Schwärmer eine bedrückende Lektüre.

Denn skrupulöse Demokratie stößt hier auf brutalen, gut geführten, strategisch und taktisch sachverständigen Widerstand, den Bong gekonnt nachzeichnet. Selbstverständlich seitens der Fürsten, die – wie in Berlin – den Aufruhr auf brutalste Weise niederschießen lassen, Kreide fressen, zum Schein entgegenkommen und im Geheimen die Reaktion vorbereiten.

Schlimmer noch: Die Liberalen, die eine konstitutionelle Monarchie anstreben, von Sozialpolitik ebenso wenig wissen wollen wie von breiter Demokratie und Republik, geschweige denn Frauenrechten, erweisen sich als die schamlosesten Gegner der Demokraten. Lieber keine Freiheit als keine Ordnung, notfalls eine deutsche Einheit auch ohne Freiheit. Die Konstitutionellen wissen genau, was sie tun.

Das Vivat auf die Ordnung steht vor dem auf die Freiheit.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Sie werfen ihre Medienmaschine an, lassen sich mit Pöstchen abfinden und werden zum Büttel des überkommenen Systems aus Eigeninteresse. Sie fechten mit großem Geschick und einer bemerkenswerten Ruchlosigkeit, manövrieren die Demokraten nach Strich und Faden aus, bis das Momentum der Revolution verflogen ist. Bis zum bitteren Ende sind viele Meilensteine vorübergezogen, an denen hätte eine schärfere Gangart eingeschlagen werden können. Die Ausrufung der Republik begleitet von einem frühen bewaffneten Aufstand.

Hätte. Wäre. Schreckliche Worte, denn sie suggerieren oft Optionen, die nur vom Ende her besehen »besser« erscheinen. Für die von Skrupeln gebremsten Demokraten gab es gute Gründe für ihre Zurückhaltung. Die Französische Revolution watete durch Blut und mündete in einer Gewaltherrschaft, die Europa mit einem verheerenden Dauerkrieg überzog.

Umgekehrt wäre Louis-Phillippe ohne das Wissen um die potenzielle Gefahr, die von dem Umsturz für ihn persönlich ausging, nicht ohne Weiteres gewichen; hätten die deutschen Fürsten nicht solche Angst vor der Revolution gehabt. Im Wissen um das, was auf 1848/49 folgte, Bismarck, drei Kriege, Erster und Zweiter Weltkrieg, ehe endlich die Demokratie von den USA nach Deutschland gebracht wurde, ist es leicht, die Zögerlichkeit der Demokraten zu rügen.

Man hat die Revolution abermals vorbeiziehen lassen.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Die entscheidende Frage ist ohnehin eine ganz andere: Hätte es wirklich etwas geändert? Die Gegner wären auch dann skrupellos, klug, heimtückisch und im Besitz der militärischen Macht gewesen, insbesondere die Liberalen fehlten in den Reihen der Revolution. Die Demokratie-Gegner hatten auch noch Beistand von ganz Links, denn die Kommunisten waren ein dankbares Schreckgespenst, um die Demokraten als Aufrührer, Umstürzler, Gewalttäter zu brandmarken.

Vor allem aber stellt sich die Frage, ob Deutschland überhaupt bereit gewesen wäre, eine Revolution durchzuziehen. »Die Revolution begann systemkonform«, sie bediente sich vieler Petitionen, der Fokus ihrer Anführer liegt auf Ruhe und Ordnung. Man kann darüber spotten, doch das war auch ein – letztlich ungenügender – Versuch, den Gegnern den Wind aus den Propagandasegeln zu nehmen. Von den Gefahren wusste man auf Seiten der Republikaner ebenso wie von den revolutionären Abgründen.

Es wäre viel zu einfach, den Demokraten die alleinige Schuld zuzusprechen. Trotzdem ging ihnen auch die nötige Wehrhaftigkeit ab, um das Ziel zu erreichen. So folgt Rückschlag auf Rückschlag, Niederlage auf Niederlage, denn der Versuch, statt eines bewaffneten, allgemein revolutionären Aufstands einen ruhigeren, legitimierenden Weg einzuschlagen, spielte den Gegnern in die Karten. Als endlich zu den Waffen gegriffen wurde, war es zu spät, der April brachte ein dramatisches, tragisches Ende.

Das ist der Kern der demokratischen Ideen 1848/49: eine demokratische Bundesrepublik, eine verfassungsmäßige Herrschaft des Volkes.

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

Die Flamme der Freiheit ist ein sehr wichtiges und zeitgemäßes Buch. Es führt ein in die bedrückenden Umstände des von Metternich und Konsorten geprägten Europas, die sozialen Verwerfungen der anbrechenden industriellen Revolution und die vielen großartigen, hochmodernen Ideen, die bereits damals formuliert wurden.

Schön ist auch, dass Bong die Marginalisierung der ebenso engagierten wie klugen Frauen thematisiert und sie zu Wort kommen lässt, statt sie nur zu bedauern. Die hellsichtigen und klaren Äußerungen sind sehr interessant, zum Beispiel die entschiedene Ablehnung von Karl Marx’ Weltverbesserungsreligion durch Demokratinnen wie Emma Herwegh, was ihnen scharfe Anfeindungen des brausebärtigen Kommunisten einträgt.

Jörg Bong bezieht klar Position, stellt sich auf die Seite der Demokraten. Und er legt mit seinem Buch den Finger in jene Wunde, die bis in die Gegenwart schwärt, sich bereits in der kurzen Zeit der Weimarer Republik als verheerend erwiesen hat, auch im besonders schrecklichen Jahr 1923 und nach 1929, gleichermaßen in der von Putin und antidemokratischen Populisten geprägten Gegenwart:

»Eine reale Demokratie fußt auf wacher Wehrhaftigkeit und unbedingter Parteiname – mit klar begrenzter Toleranz für ihre Feinde.«

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit.
unter redaktioneller Mitarbeit von Simon Elson
Kiepenheuer&Witsch 2022
Gebunden 560 Seiten
ISBN: 978-3-462-00313-0

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland

Ein schönes, stimmungsvolles Cover, mit dem Haus Vaterland, gelungen wie der ganze Roman. Cover Kiepenheuer und Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Buchreihen sollten sich steigern. Volker Kutscher ist das mit seiner Reihe um Gereon Rath gelungen. Der vierte Band, Die Akte Vaterland, in der Reihe um den in Berlin tätigen Kommissar hat mir deutlich besser gefallen als die ohnehin guten Vorgänger. Das liegt an der größeren Vielschichtigkeit, sowohl der Handlungsstränge als auch der Themen. Die Handlung setzt im Sommer 1932 ein, die Weimarer Republik lauscht dem Lied vom Tod.

Rath, der Unpolitische, wird Zeuge von tiefgreifenden Veränderungen. Die Regierung Brüning ist gestürzt und ersetzt durch eine unter der Leitung von Papens. Die SA, Hitlers braungewandete Schlägerbande, terrorisiert wieder die Straßen, die Gewalt, die durch das zeitweilige Verbot unter Brüning eingedämmt wurde, schwillt wieder an. Für die Polizei eine zusätzliche Belastung – doch ist schon spürbar, wie die braune Gülle auch in deren Reihen eindringt.

Kutscher verknüpft auf ganz wunderbare Weise die veränderte Stimmungslage mit dem Fall, der Rath beschäftigt. Dieser wehrt sich nach Kräften, sich mit den politischen Verhältnissen auch nur zu beschäftigen, doch die Morde, denen er nachzugehen hat, sind mit Nationalismus, Rassismus und völkischem Gepöbel eng verwoben. Die Wurzeln und Motive der Tat, die nach und nach aufgedeckt werden, reichen in die Vergangenheit, in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, den blutigen Wirren im Osten.

Ganz nebenbei erfährt der Leser einiges über die – in der Rückschau – kaum fassbaren Verhältnisse dieser Zeit. Rath muss Berlin verlassen und seine Ermittlungen in Ostpreußen durchführen, genauer gesagt im Grenzbereich zu Polen. Vor Ort wird er mit der heiklen Wirklichkeit konfrontiert, die in einer unerschütterlichen Treue zu Preußen und dem Reich etwa der masurischen Bevölkerung besteht – die trotz ihrer eher dem Polnischen zuneigenden Sprache klar pro-deutsch eingestellt sind.

Sie glauben nicht, wer sich alles in diesem Land unter Preußens Krone eingefunden hat im Laufe der Jahrhunderte: Deutsche, Franzosen, Holländer, Schlesier, Litauer, Juden und natürlich Polen. Und alle verstehen sie sich als Preußen.

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland

Politische Agitatoren nutzen dies aus, schüren den Hass auf die polnischen Nachbarn, gestützt auf braun-uniformierte Schlägertrupps wird jedem Andersdenkenden zugesetzt. Ein Verhalten, das bereits Tradition besitzt, verändert haben sich die Äußerlichkeiten und der verschärfte Revanchismus. Kutscher hat diese Dinge geschickt in die Aufdeckung des Falles eingeflochten, der Leser wird – wie Rath – damit konfrontiert, ohne das Gefühl zu haben, im Geschichtsunterricht zu sitzen.

Was mir besonders gefällt, ist die Figur des Kommissars Gereon Rath, der neben Ecken und Kanten eben auch ganz unverkennbare Schatten in seiner Persönlichkeit hat. Er mag die Braunhemden nicht, ist aber nicht unbedingt ein erklärter oder gar aktiver Demokrat; er liebt seine Charlotte Ritter, bricht jedoch sein Wort und verhält sich in einer Weise, zeitgemäß mit viel Patina bedeckt ist, etwa in seiner ritterlichen Attitüde. Kein einfach gestrickter Held, mir umso lieber. Und so freue ich mich auf den fünften Teil.

Ein kleiner Lese-Tipp noch: Harald Jähners Höhenrausch ist ein perfekter Begleiter für die ersten Teile der Krimireihe von Volker Kutscher. Das Haus Vaterland spielt dort – wie vieles andere – auch eine Rolle, vor allem aber erfährt der Leser eine Menge über Stimmungen, Mentalitäten, Rollen und deren Entwicklung während der Weimarer Republik.

Weitere Romane in der Buchreihe, die ich besprochen habe:
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Lunapark.
Volker Kutscher: Marlow.
Volker Kutscher: Olympia.
Volker Kutscher: Transatlantik.

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland
Kiwi-TB 2014
576 Seiten
ISBN: 978-3-462-04646-5

© 2024 Alexander Preuße

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