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Timothy Snyder: Über Freiheit

Gefängnisse in den USA sind Teil der Unfreiheit, so Timothy Snyder in seinem ebenso bereichernden wie herausfordernden Buch, das dem Leser reichlich Anlass zum Nachdenken bietet. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die Maschinen (d.h. Algorithmen) sperren uns in festere Schubladen: ethnische Herkunft, Geschlecht, Einkommen, Wohnort; sie definieren uns durch unsere wahrscheinlichsten Zustände, durch das, was wir online oder unter Überwachung tun, nicht durch das, was wir auf Berggipfeln oder unter Wasser oder bei lauter Musik oder in unseren Träumen tun.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Es gibt Bücher, an denen führt kein Weg vorbei. Timothy Snyders Über Freiheit gehört für mich dazu. Seit der amerikanische Historiker sein Buch Bloodlands veröffentlicht hat, lasse ich mir gern vom ihm die Welt und seine Sicht darauf erklären. Bloodlands hat meine Perspektive auf Gegenwart und Geschichte derart nachhaltig und tiefgreifend verändert, wie es bei Büchern selten der Fall ist (Ganz normale Männer von Christopher Browning wäre ein anderes Beispiel), dass ich immer sehr gespannt bin, wenn etwas Neues von ihm veröffentlicht wird.

Über Freiheit  wäre ein Buch, das man FDP-Anhängern ganz dringend zur Lektüre empfehlen würde. Deren immer und überall postuliertes »Freiheit« ist hohl wie eine leere Dose, reduziert auf Fingerhutgröße und wird dem Begriff nicht gerecht. Die formelhafte Aushöhlung des Wortes wird in Über Freiheit schön aufgezeigt. Wie umfassend und durchaus vielschichtig »Freiheit« ist, zeigt sich schon auf den ersten Seiten des Buches. Auch wird deutlich, dass Synder es sich und seinen Lesern nicht leicht machen will.

Grundsätzlich ist man gut beraten, bei allem Gedankengut, das aus den USA über den Atlantik herüberschwappt, der Verlockung zu widerstehen, das eins zu ein auf Deutschland und Europa zu übertragen. Ein herrliches Beispiel ist die These, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße. Selbst in den USA darf das bezweifelt werden, in Europa ist es schlichtweg falsch und zwar auf allen Bedeutungsebenen. Man braucht dazu nicht einmal den berüchtigten »Generalplan Ost« zu exhumieren, es reicht ein Blick auf das, was über die Ukraine und ihre Bewohner gesagt wird. Aus Russland, aber auch aus dem Westen, kommt eine Menge Rassismus, offenem und verdecktem.

Freiheit kann nicht gegeben werden. Sie ist kein Erbe. […] In dem Moment, in dem wir glauben, das Freiheit gegeben ist, ist sie weg.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Diese Vorsicht ist auch für Über Freiheit von Timothy Snyder angebracht. Wenn dort beispielsweise etwas über das wirtschaftliche und soziale System gesagt wird, meint es vor allem das der USA, nicht aber das der Europäischen Union und erst recht nicht das einzelner europäischer Staaten mit ihren vielfältigen Eigenheiten. Selbstverständlich gibt es globale Einflüsse, die besonders von den USA beeinflusst werden. Trotzdem gibt es dramatische Unterschiede und die sollte man immer im Hinterkopf haben.

Man sollte sich also einerseits davor hüten, die Kritik unreflektiert zu übertragen, andererseits auch keine Kritik am Buch selbst üben, weil das der eigenen Sicht des spezifisch deutschen respektive europäischen Systems widerspricht. Sonst landet man zwangsläufig bei Plattitüden auf der Ebene von »Kapitalismuskritik« oder »Globalisierungskritik«. Man sollte das ernst nehmen, denn nicht umsonst sagt Snyder sagt selbst über sein Vorhaben:

Ich wurde gefragt, wie ein besseres Amerika aussehen könnte. Dies hier ist meine Antwort.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyder beginnt sein Buch aber mit einer europäischen Perspektive. Das Vorwort von Über Freiheit ist im Zug von Kyjiw nach Westen geschrieben worden. Das ist in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig, denn in der Ukraine entscheidet sich tatsächlich das Schicksal der gesamten Welt für die kommenden Jahre, eventuell Jahrzehnte. Hält die Ukraine dem russländischen Angriffskrieg stand, hält vor allem der Westen dem seit Jahren von Russland geführten hybriden Krieg gegen sein demokratisches und offenes System stand, dann wird vielleicht Schlimmeres abgewendet werden können. Ein Angriff Chinas auf Taiwan etwa, dessen Folgen derart dramatisch sein würden, dass die Turbulenzen aus dem Krieg Russlands recht bescheiden erscheinen mögen.

In der Ukraine wurden von der russländischen Armee im Jahr 2022 Gebiete besetzt und im gleichen Jahr von ukrainischen Streitkräften »befreit«. Snyder erzählt von Marija, einer 85 Jahre alten Dame, die in einer Notunterkunft bei Psad-Pokrovske lebt, nachdem die Invasoren vertrieben wurden.  Der Ort wurde befreit, sie wurde befreit – doch ist sie auch frei? Synder verneint. Er hält den Begriff »Befreiung« für irreführend, »Deokkupation«, wie ihn die Ukrainer gebrauchen, erscheint ihm passender. Denn so erst könnte man die Frage stellen, was eigentlich nötig ist, um »frei« zu sein. Konkret: Was fehlt Marija zur »Freiheit«?

Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyders Mission ist, dem allzu oft gebrauchten, missbrauchten Wort »Freiheit« wieder Leben einzuhauchen, der bloßen Hülle ein Wesen zu geben. Er will den Begriff definieren. Seine amerikanischen (!) Landsleute gebrauchten den Begriff oft als Abwesenheit von etwas, von Besatzung, Unterdrückung, einer Regierung. Das nennt er »negative Freiheit«, der eine »positive Freiheit« gegenüberstellt. Das Begriffspaar wirkt zunächst schematisch und auch konturlos, die Beispiele aber, wie zum Beispiel Ukrainer Freiheit definieren, beinhalten allesamt etwas Positives.

In der Ukraine betrachten laut Snyder die Menschen Städte und Orte erst dann als befreit, wenn der Bahnverkehr wieder funktioniert. (Im Gegensatz sind die Ansiedlungen, die von russländischen Soldaten »befreit« wurden, zerstört.) Die Struktur ist also wiederhergestellt, doch muss sie erst gefüllt werden, um von Freiheit zu sprechen. Die Möglichkeit zur Mobilität ist ein zentraler Punkt für Freiheit, doch muss der Mensch sie auch selbst nutzen, um Freiheit zu erlangen. Sie ist weder einfach so da noch dauert sie an oder kann vererbt werden. Umgekehrt kann eine Voraussetzung für Freiheit bzw. Unfreiheit sehr wohl vererbt werden, Vermögen bzw. vererbte Armut.

Auf insgesamt sechs Feldern versucht sich Snyder dem Phänomen Freiheit anzunähern: Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität, Solidarität und Regierung. Die Auswahl überrascht vielleicht, damit hätte das Buch den Punkt der »Unberechenbarkeit« schon mal erfüllt. Doch das ist nur die Form, die grobe Struktur, die Snyder mit durchaus verblüffendem Inhalt füllt. Der Autor mutet seinen Lesern einiges zu, etwa die nicht ganz einfache Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib«, bei der er auf die deutsche Philosophin Edith Stein und die französische Philosophin Simone Weil zurückgreift. Er wendet sich Politik-Bereichen zu, die von Macho-Politikern gern als »Gedöns« abgetan wurden und werden.

Eine Gesellschaft, der die Freiheit am Herzen liegt, würde diese Menschen [Care-Tätigkeiten wie Erzieherinnen, Lehrer, Pflegerinnen] mit Respekt behandeln und sie ordentlich bezahlen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Für Snyder ist essentiell, dass Freiheit aus dem Menschen heraus erwächst und in die Welt hineinwirkt. Das Individuum ist dabei nie allein, isoliert, keine »Ich-AG«, sondern gerade in den ersten Lebensjahren auf andere zwingend angewiesen. Erst in der Verbindung zu anderen wird die Voraussetzung geschaffen, Freiheit und damit Autonomie entstehen zu lassen. Isolierte Kinder, wie sie die Realität tatsächlich kennt, können sich nicht entwickeln und auch nicht frei sein.

Snyders Ansatz ist auf den Menschen zugeschnitten und sehr persönlich ausgestaltet, zunächst spielen »große Politik« oder gar »Geopolitik« gar keine Rolle. Das politische System kommt dabei aber nicht zu kurz, wie der Rückgriff auf Václav Havel zeigt. Das Kapitel heißt »Unberechenbarkeit« und beschäftigt sich mit der Tyrannei durch Berechenbarkeit. Statt der bis 1968 bekannten brutalen Unterdrückung mit militärischen Mitteln setzten die Regime unter dem roten Banner des Kommunismus in der Zeit danach auf Bildschirme.

Wichtig ist dabei, dass diese Form der Unfreiheit nichts mehr mit der Ideologie von Marx, Engels, Lenin oder anderen kommunistischen Denkern zu tun hatte, sondern mit Breshnews Ziel, das seit 1945 bestehende Imperium zu erhalten. Die Bildschirme dienten demzufolge nicht dazu, sozialistische Ideen zu verbreiten, sondern die Konformitäts-Formeln zu streuen und den Zuschauern einzureden, es gäbe nur diese eine und sonst keine Form der politisch-sozialen Ordnung.

In den Führungszirkeln der Sowjetunion nach 1968 glaubte niemand mehr an Sozialismus, in den Rängen der Partei und ihrer Formationen sicher auch viele nicht. Lippenbekenntnisse statt Überzeugung dürften vielleicht auch für die Mehrheit der Menschen das Wesen ihres politischen Lebens gewesen sein. Allerdings hat Zustimmung und Nachbeten einen Haken, nämlich dass diese auf eine Form reduzierte, entleerte Normalität auf den Menschen rückkoppelt.

Sie [die Normalisierung] ist die Gewohnheit, das zu sagen (und dann zu denken), was notwendig erscheint, während man implizit (und dann explizit) übereinstimmt, dass nichts wirklich wichtig ist.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Das ist frappierend. Wenn nichts wichtig ist, dann ist alles egal und implizit durch fehlende Werte auch erlaubt. Das ist der Kern der Putin-Propaganda, die im Grunde genommen keine echte Propaganda mehr ist, sondern eine Weiterentwicklung. »Alles ist Scheiße« steht am Ende einer immer widersprüchlicher, einander letztlich ausschließender Flut von Informations-Müll, der »Lügenkaskaden« (Anne Applebaum). Ohne jeden moralischen Maßstab lässt sich alles rechtfertigen, der Zwang zur Rechtfertigung entfällt.

Über die Bildschirme heute flimmern nicht nur die TV-Programme wie zur Zeit von Václav Havel, auf den Nutzer stürzt eine unüberschaubare, überwältigende Flut an Informationen ein. Zu allem Gesagten kommt noch die rein quantitative Überforderung hinzu, mit der Folge, dass viele Zeitgenossen nicht mehr mit, sondern im Internet »leben« oder wie Snyder sagt: »im Bildschirm«.

Hinter dem, was wir sehen, stehen Algorithmen, die berechnen und berechenbar machen, was der Nutzer sieht; damit wird der Mensch berechenbar und verliert seine Freiheit, wenn man der Analyse von Snyder folgt. Die so genannten Sozialen Medien buhlen um Aufmerksamkeit, um Zeit und bedienen sich dabei jener Tricks, durch die einer Sucht verstärkt werden. Wie alle anderen Süchte ist das eine kurzzeitig bequeme Form, den Herausforderungen des wirklichen Lebens auszuweichen, eine dicke, dichte Schutzschicht zwischen sich und die Welt zu packen, wie es eine von OxyContin abhängige Künstlerin in Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe formulierte.

Berichten zufolge soll Mark Zuckerberg die frühen Nutzer von Facebook als »dumb fucks« bezeichnet haben, weil diese voller Vertrauen zu seiner Plattform gewesen seien. Das kann man als sprachliche Entgleisung eines überheblichen CEO sehen, man kann aber darin auch den Keim einer Entmenschlichung derjenigen sehen, die an die Versprechungen einer schönen, neuen Welt geglaubt haben. Das geschah ausgerechnet durch jenen, der das „Soziale“ Medium erschaffen hat und damit Geld scheffelt. Entwürdigungen dieser Art standen oft am Anfang von Entrechtung und Gewalt, der brutalen Form von Unfreiheit in Lagerwelten.

Freie Menschen sind berechenbar für sich selbst, aber unberechenbar für Machthaber und Maschinen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Spätestens an diesem Punkt muss man als Leser doch innehalten und sich selbst, sein alltägliches Verhalten reflektieren. Den eigenen Umgang mit den Sozialen Medien, das Verhältnis von Bildschirmleben zu »Real Life«, bis hin zur Manipulierbarkeit. Bücher wie Über Freiheit sind in diesem Sinne unbequem gefährlich, denn sie können zu beunruhigenden Fragestellungen an sich selbst führen. Für mich  ist das eines der ganz großen Komplimente, die man einem Werk machen kann, und die Basis für eine dringliche Leseempfehlung.

[Rezensionsexemplar]

Timothy Snyder: Über Freiheit
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck 2024
Gebunden, 410 Seiten
ISBN: 978-3-406-82140-0

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Barrikaden wurden in vielen Städten Europas errichtet, wie hier in Wien. Los ging es allerdings in Palermo, nach einem Vorspiel in der Schweiz. Cover DVA, Bild mit Canva erstellt.

Ein eher stiefmütterliches Dasein fristet die große europäische Revolution von 1848/49 im Geschichtsunterricht, möglicherweise auch im Studium des Faches. Vor derartigen Verallgemeinerungen sollte man sich normalerweise hüten, doch in diesem Fall gibt es einen guten Grund für das relative Desinteresse: Der Zivilisationsbruch nach 1933, dessen Gespenster auch nach der Niederlage von 1945 keineswegs verschwunden sind, ja, sogar wiederzukehren scheinen, überschattet mehr oder weniger alles andere in der deutschen Geschichte.

Höchste Zeit also, dass sich etwas daran ändert, nicht um die Schreckenszeit zwischen 1933 und 1945 zu relativieren, sondern sich von einer ganzen Reihe von allzu bequemen Irrtümern und naiven Klischees verabschieden. Christopher Clark hält in seinem monumentalen Werk Frühling der Revolution eine ganze Reihe von Zumutungen parat, die Sonderwegs- und Revolutionsphantasten gleichermaßen aufstoßen werden.

Clark richtet den Blick bewusst auf Europa, von Portugal bis zur Walachei bzw. Moldau. Er verzichtete darauf, sich der herkömmlichen nationalen Sichtweise anzuschließen und ebenso, die Februarrevolution in Frankreich als alleinigen und ausschlaggebenden revolutionären Ausgangsimpuls anzusehen – wie es zum Beispiel in einer Karte des frankozentrierten Altas Die Geschichte der Welt von Christian Grataloup geschieht.

Das Bild suggeriert, die Revolutionen von 1848/49 wären einem starken Impuls von Paris ausgehend entflammt; Christopher Clark zeichnet ein ganz anderes Bild, das den Anteil von Paris berücksichtigt, aber in vielfacher Hinsicht relativiert. 1830 war das übrigens etwas anders, denn da ging wirklich alles von Paris aus. Hilfreich ist die kleinere Karte, auf die globalen Auswirkungen der Revolutionen erahnbar werden.

Los geht es in – Palermo, nach einem Vorspiel in der Schweiz, dem so genannten Sonderbundskrieg 1847. Der Aufruhr in Sizilien Anfang 1848 war der eigentliche Impuls, Clark weist nach, dass davon in vielen Regionen Europas durchaus öffentlich die Rede war und eben nicht nur von den Ereignissen in Paris. Durch die Kommunikationskanäle jener Jahre mit einer Zeitverzögerung, die heute geradezu grotesk erscheint. Danach geschieht vieles gleichzeitig und zum Teil auch gegenläufig.

Ab Anfang März 1848 ist es unmöglich, die Revolutionen als lineare Abfolge von einem Schauplatz zum nächsten zu verfolgen. Wir treten in die Phase der Spaltung ein, in der fast gleichzeitige Explosionen komplexe Rückkopplungsschleifen entstehen lassen.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Durch diesen Ansatz ist es nahezu unmöglich, die Ereignisse chronologisch abzubilden – möglicherweise liegt hierin auch eine der Verlockungen der späteren Nationalisierung der Revolutionsgeschichte(n), mit erheblichen Folgen: Die Komplexität der Ereignisse und – ganz wichtig – ihre Verbindungen und gegenseitigen Beeinflussungen, aber auch die gleichzeitig an verschiedenen Orten ausbrechenden Empörungen verschwanden hinter dem Wahrnehmungshorizont.

Das ist nicht nur bedauerlich, sondern für die Gegenwart und das Verständnis von welterschütternden Ereignissen nachteilig. Clark hält den Februar 1848 für einen Tahir-Moment! Er stellt den so genannten »Arabischen Frühling« in eine Bedeutungslinie mit der großen europäischen Revolution von 1848/49. Beiden ist neben vielem anderen auch gemein, dass sie die Ziele der politischen, gesellschaftlichen und religiösen Emanzipation nicht erreicht haben.

Dennoch stellt sich die Frage, ob es nicht zu kurz greift, wenn man von einem Scheitern spricht, gar nicht zu reden von jenen, die den Aufständischen oder gar den »Völkern« dieser Region mangelnde Reife attestieren. Der Vorwurf der Unreife war bereits von 175 Jahren ein Mittel, mit dem Forderungen nach Emanzipation aller Art abgebügelt wurden.

Wie also sollte man die Revolutionen von 1848/49 bewerten?

War es wirklich nur eine jämmerliche Parodie der Revolution von 1789, wie Karl Marx meinte, oder sollte man dem bärtigen Kommunismus-Gläubigen unlautere Motive bei seiner Einschätzung unterstellen? Überhaupt ist Clarks Buch eine gute Anregung zum Weiterdenken – wie steht es allgemein mit Revolutionen und (gesellschaftlichem) Fortschritt? Waren die Revolutionen 1917/18 in diesem Sinne erfolgreich? Jene von 1989? Gab es jemals eine »erfolgreiche« Revolution?

Soziale Unzufriedenheit ›verursacht‹ keine Revolution – wenn sie das täte, käme es viel häufiger zu Revolutionen.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Die europäische Revolution von 1848/49 ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Clark zeichnet eine Reihe von Entwicklungen in den Jahrzehnten vor dem umfassenden Aufruhr nach. Der so genannte »Pauperismus« etwa gilt vielen als wichtiger Faktor oder gar der Auslöser der Revolution, dem Clark jedoch widerspricht. Während der Lektüre verfestigt sich eher der Eindruck, dass die soziale Frage vor allem bremste, Ängste bei liberalen Kräften auslöste und diese die Seiten wechseln ließ, mit verheerenden Folgen für den Verlauf der Revolution.

Schon bei diesem Zusammenhang wird klar, wie erkenntnisfördernd Clarks Vorgehen ist. Er arbeitet die großen Unterschiede heraus, die zwischen den Regionen Europas bestanden und zeigt, dass es eben keine direkte Linie zwischen den zum Teil verheerenden sozialen Auswirkungen der Hungersnöte 1847 und dem Revolutionsausbruch 1848 gegeben hat. Bedeutungslos waren sie nicht, allein der Faktor Angst beeinflusste den Revolutionsverlauf beträchtlich.

»Arme dulden« und machen keine Revolution. Wer aber dann? Eine Revolution ist politisch, also müssen politisch denkende und agierende Menschen dafür verantwortlich sein. Es gab zwischen dem Sieg über Napoleon Bonaparte und 1848 zahlreiche Aufstände, Erhebungen, Umstürze und Revolutionen, viele davon wurden wie Verschwörungen geplant und durchgeführt – der Staat wappnete sich mit Polizei und Militär geschickt dagegen. Aber 1848/49 half das wenig, denn mit den Massen, die den politischen Protestaktionen spontan in die öffentlichen Räume folgten, hatte man nicht gerechnet.

Das Militär und die Polizei in Paris – wie in vielen anderen Städten in ganz Europa – hatten sich in den vergangenen 18 Jahren auf die falsche Revolution vorbereitet.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Clark erklärt vor seiner Schilderung der Revolutionsereignisse zunächst einmal ausführlich jene Welt vor 175 Jahren. Bei den Ordnungskonzepten erwies sich ausgerechnet die Macht des Mannes über die Frau, insbesondere in der Ehe an, als unantastbar, während andere Bastionen zumindest ins Wanken gerieten: Feudalismus, Adelsprivilegien, Zunftrechte, Sklaverei. Die »geschlechtsbedingte Ungleichheit [wehrte] sich am hartnäckigsten gegen jede Veränderung.« Eine ebenso ernüchternde wie bittere Erkenntnis.

Bei dem Versuch, rückblickend Ordnungsprinzipien bzw. -gruppierungen zu erdenken, macht das disparate und von hoher Mobilität gekennzeichnete Verhalten Probleme. Es fällt schwer, zum Beispiel »Liberale«, »Demokraten« oder »Radikale« genau zu fassen; selbst »Konservative« unterschieden sich grundlegen. Ein Konservativer, der Revolutionäre für irregleitet hält, ist grundverschieden von einem, der in ihnen »satanische Rebellen gegen Gott« sieht.

Die französische Revolution von 1830 ist tatsächlich eine Art Initialzündung für nachahmende Aufstände in Italien, Polen und Deutschland gewesen, die massive Enttäuschung bezüglich der Ergebnisse führte zu politischen Oppositionsbewegungen in den Jahren danach. Es entspann sich ein reges Katz- und Mausspiel zwischen Opposition und Staat, das in Palermo am 12. Januar 1848 jäh endete und in einen Aufstand mündete, der zuvor per Plakat (!) angekündigt wurde.

Das ist nur die erste der an Kuriositäten reichen Geschichte der europäischen Erhebungen 1848/49, die insgesamt zeigen, wie dünn der Firnis ist, der eine scheinbar stabile Ordnung von ihrem Untergang trennt. Warum führte ausgerechnet die Revolutionen von 1848 zu einem – recht kurzen – Erfolg, nachdem so viele Anläufe zuvor scheiterten? Eine Antwort:

Liberale waren ausdrücklich keine Demokraten; sie waren überzeugte Anhänger eines begrenzten Wahlrechts.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Ein Blick nach England, das sich irrigerweise im Glauben wähnt(e), eine selbst angedichtete liberale Verfassung hätte einen Aufstand mehr oder weniger unnötig gemacht, offenbart die Bedeutung von umfassenden und geeigneten Sicherheitsmaßnahmen. Knüppel in großer Zahl haben auf der Insel schon den Aufruhr im Ansatz niedergehalten und hätten dank schierer Masse auch weiterreichende Ansätze erstickt, argumentiert Clark.

Das Regime in Großbritannien war besser vorbereitet als die auf dem Kontinent. Clark sagt mehrfach, dass man etwa in Frankreich auf den falschen Aufstand eingestellt war, in Deutschland waren die geheimdienstliche Gegenmaßnahmen vor 1848 sehr erfolgreich, dann aber zunächst nicht mehr. Für die Gegenwart lässt sich daraus die Lehre ziehen, dass die Erhebung 2020 in Belarus mit geringen Chancen in die Schlacht zog, stand hinter Lukaschenko doch Putin und ein ruchloses, erprobtes und ausgeklügeltes Repressionsmanagement.

Die Revolutionen von 1848/49 sind in eine erfolgreiche Gegenrevolution übergegangen, was durchaus als »Scheitern« interpretiert werden kann. Wer Clarks Darstellung aufmerksam folgt, merkt bereits während der Phase der Etablierung der neuen Revolutionsherrschaft, dass dieses »Scheitern« bereits hier seinen Anfang nimmt. Ein Beispiel: Steuern sind unbeliebt, aber nötig, um zu regieren; sie wirken aber wie Wasser und Sand auf das revolutionäre Freudenfeuer und führen zu Streit unter den Revolutionären.

Noch problematischer war der Gegensatz zwischen Stadt und Land, der verschärft wurde, durch eine leichtfertige und hartnäckige Ignoranz gegenüber den Verhältnissen außerhalb der urbanen Zentren – dort aber wohnte, arbeitete und litt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Sie ging den revolutionären Bewegungen rasch verloren, auch dort, wo die Landbevölkerung gegenüber den Erhebungen grundsätzlich positiv eingestellt war, weil ausnahmsweise von den Revolutionären auf die wenigen Einsichtsvollen gehört wurde. Aber auch in diesen Fällen ließen sich komplexe, vertrackte und von den bisherigen Privilegierten bis aufs Blut bekämpfte Strukturen nicht so einfach durch bessere ersetzen.

In Neapel zeigte sich, dass die Konterrevolution noch ein paar Asse im Ärmel hatte.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Ein ganz wichtiger Faktor, der bisweilen übersehen wird, ist die Stärke der Reaktion, der Konservativen, Adeligen, Monarchen und vor allem anderen: des Militärs. Einmal nur, in Baden, sind reguläre Truppen in nennenswerter Zahl auf die Gegenseite gewechselt, was 1849 zu einer ausgedehnten militärischen Kampagne mit großen Schlachten führte. Ungarn wäre vielleicht auch noch zu nennen, da waren die Verhältnisse jedoch anders und noch viel komplexer als in Süddeutschland. In beiden Fällen waren die Aufständischen der Gegenrevolution militärisch hoffnungslos unterlegen.

Die Verlässlichkeit des Militärs (und des Polizeiapparates) ist das vielleicht größte Plus gewesen, auf das sich die Gegenrevolution im Verlauf der Revolution stützen konnte. Dem hatten die Aufständischen nichts entgegenzusetzen, sie schwächten sich vielmehr selbst und spalteten sich entlang der scharf gezeichneten Bruchlinien auf. Psychologisch war die Revolution am Ende, als sie sich selbst entzauberte, indem sie ihr Angstpotential einbüßte. Das geschah wieder nicht in Paris oder Berlin, sondern in Neapel.

Zu den Kuriositäten, die auch Anfang des 21. Jahrhunderts nachdenklich machen sollten, gehört, dass es den Konterrevolutionären gelang, das Volksempfinden auf ihre Seite zu bringen. Clark zeigt wunderbar auf, wie auf das »Abflauen der Revolution« eine verblüffende »Mobilisierung des Volkes gegen sie« folgte. Das entspricht nun gar nicht den Bullerbü-Versionen von Revolutionen, wie sie in Romanen und Filmen so gern transportiert werden.

Überall in Europa waren Schaulustige und Dummköpfe entscheidend für die wechselhafte Mechanik der Machtverhältnisse.

Christopher Clark: Frühling der Revolution

Auch sind die Vorgänge um die Wahl Louis-Napoléon Bonapartes zum Präsidenten Frankreichs am 10. Dezember 1848 in höchstem Maße bedenklich. Es war ein völlig unerwarteter Erdrutschsieg, in dem Bonaparte fast drei Viertel (!) der Stimmen erhielt. Das Ergebnis wurde vorher als unwahrscheinlich erachtet, im Nachhinein als unvermeidlich dargestellt. Die Kalkulation der vorgeblich klugen, einsichtigen Konkurrenten waren offenkundig grundfalsch. Da der Mensch sich nicht ändert, dürfte derlei auch der der Gegenwart wieder vorkommen. Und wer dächte jetzt nicht an Trump?

Interessant ist auch, dass Russland während des voluminösen Buches recht wenig Raum einnimmt und wenn, dann in der Rolle der konterrevolutionären Interventionsmacht. Die konservativen und reaktionären Kreise des Landes, aber auch die Linken, Progressiven wandten sich massiv gegen »den Westen«, aus unterschiedlichen Motiven, doch mit allzu vertrauten Argumenten und der Erkenntnis, die man immer wieder berücksichtigen sollte: Russland gehört(e) nicht zu Europa.

Der Frühling der Revolution von Christopher Clark ist ein herausragendes, monumentales, vielschichtiges und hervorragend argumentierendes Werk über die Revolutionen von 1848/49 in Europa, das dem Leser allein durch seinen Umfang einiges abverlangt. Der Autor schreibt in einer fesselnden Weise, bleibt dabei differenziert und klar, was es enorm erleichtert, die Entwicklungen an so vielen Schauplätzen nachzuvollziehen. Die Zeit, die es braucht, ist gut investiert, denn man versteht die Vergangenheit und Gegenwart sehr viel besser, weil man die richtigen Fragen stellt.

[Rezensionsexemplar]

Christopher Clark: Frühling der Revolution
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz,Klaus-Dieter Schmidt, Andreas Wirthensohn
Hardcover 1.168 Seiten
mit 42 s/w-Abbildungen und 5 Karten
ISBN: 978-3-421-04829-5

Göttinger Literaturherbst 2023 – Nachlese

Fünf Bücher kann ich ohne Bedenken empfehlen, eines interessiert mich nicht und eines war eine Enttäuschung. Ein wenig Festspielatmosphäre, tolle Veranstaltungsorte, gute Lesungen mit interessanten Autoren und überwiegend guten Gesprächspartnern.

Der Applaus klingt noch im Ohr: Gerade erst habe ich die Veranstaltung mit Bonnie Garmus verlassen, die mit ihrem Roman Eine Frage der Chemie einen Bestseller gelandet hat. Das Buch kenne ich nicht und werde es auch nicht lesen, mich hat vor allem interessiert, wie eine Lesung verläuft, wie die Kommunikation funktioniert, Moderatorin und Vorleserin ihre Aufgabe lösen und das Publikum reagiert. Das war sehr aufschlussreich.

Ich bin zu insgesamt acht Veranstaltungen gegangen, was den Festival-Charakter des Göttinger Literaturherbst in Spurenelementen erlebbar machte. Das gilt besonders für den Freitagabend vorletzte Woche, als ich zunächst Daniel Kehlmann für Lichtspiel und direkt im Anschluss Andrej Kurkow mit Samson und das gestohlene Herz erleben durfte. Zwei Lesungen direkt nacheinander – geht das? Ja, ganz prima sogar.

Zweimal bin ich unvorbereitet zu einer Lesung aufgebrochen, im Falle von Ralf Rothmann an seinem Buch Die Therorie des Regens durchaus interessiert, was sich nach der Lesung jedoch erledigt hatte. Einen Roman werde ich von dem Autor sicher lesen, Im Frühling sterben steht schon im Regal bereit. Die Lesung war dennoch alles andere als eine Enttäuschung, Gespräch und Vortrag haben unterhalten, es gab kluge Fragen seitens des Gesprächspartners und aus dem Publikum.

Das ist ein gutes Stichwort, denn bei der Lesung von Andrej Kurkow wirkte der Gesprächspartner – nun, sagen wir: indisponiert. Das Gespräch versandete im Nebel des Ungewissen – glücklicherweise hatte das Publikum Fragen, die wie ein kommunikativer Rettungsring wirkten. Die Nachfragen erlaubten dem sehr sympathischen und gut Deutsch sprechenden Autor viel zu erzählen – auch zu anderen Romanen, von denen ich mir gleich einen gekauft habe. Graue Bienen, die wenigen Worte, die Kurkow darüber verloren hat, klangen sehr interessant.

Leichtigkeit heißt nicht oberflächlich

Leichtigkeit prägen Kurkows Samson-Romane wie auch Kehlmanns Lichtspiel, in Steffen Schroeders Planck – oder wie das Licht seine Leichtigkeit verlor, ist das Wort sogar Teil des Titels. Ganz besonders trifft es auch auf den Roman Aufklärung von Angela Steidele zu, wenngleich der Titel auf sperrige Kost schließen lässt. Mehrfach wurde thematisiert, wie die Schriftsteller ganz planmäßig versucht haben, die Lesbarkeit durch Elemente der Leichtigkeit zu erhöhen.

Aber Leichtigkeit ist nicht mit oberflächlich zu verwechseln! Leider habe ich bei mehreren Besprechungen und Rückmeldungen zu einigen Romanen schon merken müssen, dass zu leichtfertig, vielleicht auch zu flüchtig gelesen wurde. Das ist schade, denn die Leichtigkeit gibt dem Leser den nötigen Raum, um über die schweren Dinge der Handlung nachzudenken – das gilt für dieses Quartett, das ich nachdrücklich zur Lektüre empfehlen möchte.

Das gilt auch für den Brocken von einem Buch namens Der Frühling der Revolution von Christopher Clark. Der Historiker beleuchtet die Revolution von 1848/49 aus einer gesamteuropäischen Sicht, was eine Menge neuer Sichtweisen und Erkenntnisse öffnet, darunter einige hochspannende, die Revolutionsträumer wie eine kalte Dusche ernüchtern sollte. Sklavenbefreiung – eine gute Sache, aber mehr als ein Teufel steckt im Detail, zum Beispiel, wenn die Sklavenhalter gar keine Weißen sind, sondern Schwarze bzw. Angehörige einer Mischbevölkerung.

Eine Enttäuschung gab es auch: Felicitas Moklers Vortrag über das hochspannende Thema Kosmologie schöpfte wie ihr Buch nicht aus, was möglich wäre. Kurioserweise fehlt es an sprachlicher Präzision, didaktisch ansprechender Struktur und thematischer Verflechtung. Ich lese ihr Buch trotzdem, denn für meine Intention ist es durchaus geeignet: Ausloten, wo die Grenzen meines Verstehens sind.

Alles in allem bin ich sehr zufrieden und hoffe auf ein ähnlich gutes Programm im kommenden Jahr.

Alaa Al-Aswani: Die Republik der Träumer

Ein großer Roman über den so genannten Arabischen Frühling in Ägypten, Al-Aswani hat ein geniales Figurenensemble geschaffen, das die Seiten in dieser Revolution wunderbar abbildet, darunter auch die Instrumentalisierung des Antisemitismus. Cover Hanser Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ob jemand diesen Roman lesen kann, ohne bittere Wut zu empfinden? Jene bebende Wut, die aus dem Gefühl genährt wird, Ungerechtigkeit, Betrug und Verrat zu erleiden? Es mag seltsam erscheinen, wenn ein Leser aus dem – noch – ruhigen, demokratischen Deutschland so fühlt, wo es doch um den »Arabischen Frühling« in der ägyptischen Ausprägung geht.

Doch ist es für mich nur folgerichtig, denn mit dem Flammenmeer an Erhebungen in der arabischen Welt verbanden sich Hoffnungen. Keine allzu großen, zu oft schon war ich ferner Zeitzeuge, wenn irgendwo das Banner der Hoffnung wehte und alsbald in den Dreck fiel; oder gar der Sieg errungen zu sein schien und das Übel wieder aus verborgenen Löchern kroch.

Die Republik der Träumer ist in einem mitreißenden und zugleich oft nüchternen Tonfall verfasst. Alaa Al-Aswani hat äußerst geschickt ein vielfältiges Personenensemble zusammengestellt und in die aufgeheizte Lage vor der Revolution geschickt. Vom Geheimdienstchef über einen Ingenieur und Ex-Sozialisten bis hin zu den Studenten reicht die Palette, fast jeder mit seinen Widersprüchen, Sehnsüchten, Bedürfnissen und den daraus resultierenden Ängsten.

Ein Graben verläuft zwischen Alt und Jung. Die Älteren in diesem Roman sind zumeist etabliert, sei es in einem Leben geprägt von Reichtum und Macht, sei es in saturierter Armut und den Hoffnungen für den Nachwuchs. Die Jüngeren hingegen sind die Triebfeder des Aufruhrs, der Unruhe, oder sie lassen sich davon anstecken und mitreißen. Aber – die Fronten sind durchlässig.

Die Etablierten, vom autoritären Staat Hosni Mubaraks gepuderten Teilhaber an Ägyptens Reichtümern umgibt ein ganzer Strauß an Heuchelei, Bigotterie und Verlogenheit, mit der sie ihre Privilegien verteidigen. Die hilfreichen Lügen, Phrasen und haltlosen Plattitüden werden offen geäußert, Al-Aswani kontrastiert sie geschickt mit den Motiven der Jüngeren; er muss nicht kommentieren, es spricht alles für sich.

Der Leser findet bald seinen Platz in dem Spektakel, das gemächlich in Gang kommt, fast unmerklich hereinbricht und – wie so viele Revolutionen – fast aus dem Nichts zu kommen scheint. Was den Roman zu einem wirklich großen macht, ist die kunstvolle Gestaltung der mächtigen, klugen und geschickt handelnden Revolutionsgegner, was immens unangenehm ist, sich aber wohltuend vom naiven Hollywood-Film oder utopischen Bullerbüs á la Pantopia abhebt.

Jeder weiß,  wie „es“ ausgegangen ist, wie der »Arabische Frühling« zermalmt, zerredet und im Nachhinein  als naseweiser Revolutionsversuch dargestellt wurde, doch das „Wie“ hat in Die Republik der Träumer eine laute, mitreißende, hochspannende und aufwühlende Stimme erhalten. Apropos Stimme: Ich habe den Roman als Hörbuch gehört, Thorben Kessler liest großartig!

Ganz wunderbar passt dieser Roman zu der Revolution von 1848/49, die sich zum 175. Mal jährt, insbesondere in der europäischen Perspektive. Kein Geringerer als der weltbekannte Historiker Christopher Clark hat in seiner Monographie Frühling der Revolution explizit eine Brücke zum »Arabischen Frühling« geschlagen!

Alaa Al-Aswani: Die Republik der Träumer
Aus dem Arabischen von Markus Lemke
Hanser Verlag 2021
Fester Einband 464 Seiten
ISBN 978-3-446-26749-7

Göttinger Literaturherbst 2023

Meine glorreichen Sieben – das sind die Veranstaltungen des Göttinger Literaturherbstes 2023, auf die ich mich am meisten freue. Das Programm ist in diesem Jahr großartig, vielleicht schaue ich mir noch die eine oder andere Sache zusätzlich an, denn – von der ewig-hässlichen Stadthalle (brrr) einmal abgesehen – gibt es viele sehr schöne, atmosphärische Veranstaltungsräume.

Heute beginnt für mich der Göttinger Literaturherbst 2023 mit einer zweifellos großartigen Veranstaltung: Der Historiker Christopher Clark spricht über die Revolution von 1848/49 in Europa – womit das Thema aus seinen nationalen Brutkästen geholt wird. Clark hat ein voluminöses Buch zu dem Thema verfasst, das Frühling der Revolution betitelt ist. Wie in seinen berühmten und diskutierten Die Schlafwandler wird der Leser mit neuen Perspektiven konfrontiert, los geht es mit der Revolution in – nein, nicht Paris – Palermo (nach einem Vorspiel in der Schweiz).

Es ist das einzige historische Sachbuch meines persönlichen Programms, das – wie man sieht – vier Romane, ein historisches und ein naturwissenschaftliches Sachbuch sowie ein Kompendium mit einem sehr persönlichen Zugang zum Thema Schreiben umfasst.

Thematisch geht es historisch-politisch zu. Aufklärung von Angela Steidele ist zum Glück kein Buch über die Abgründe des Sexualkundeunterrichts, sondern führt den Leser ins 18. Jahrhundert, ein Historischer Roman, auf den ich mich sehr freue (danke noch einmal an Marius Müller von Buch-Haltung für die schöne Besprechung).

Andrej Kurkow lässt seine Helden Samson und Nadjeschda durch die blutigen Wirren des »Bürgerkriegs« im Gefolge des Ersten Weltkrieges in Kyjiw (Kiew), Ukraine, taumeln. Dabei ist es ihm in seinem ersten Teil gelungen, die Gewalt anklingen zu lassen, ohne in Voyeurismus zu verfallen; stattdessen wählt er einen plüschigen Ton, was die Ereignisse nicht weniger grausam, aber erträglicher gestaltet. Auf den zweiten Teil bin ich sehr gespannt – den werde ich allerdings erst im Anschluss lesen können.

Der Roman Lichtspiel von Daniel Kehlmann lässt den Leser am bewegten Leben des Regisseurs W.G. Pabst und zahlreichen anderen Zeitgenossen teilhaben. Schon das erste Viertel des Romans zeigt, was Kehlmann gelungen ist: Er hat eine leicht lesbare (laut Wolfgang Herrndorf eine unterschätzte literarische Qualität) und wirksame sowie angemessene Erzählform gefunden, ohne ins Seichte abzugleiten. 

Das lässt sich auch über Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor von Steffen Schroeder sagen, der den Leser in die Zeit führt, zu der das Hitlerreich in den Todeskampf eintrat und sich seine Monstrosität nach dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs nur noch durch einen Sieg der alliierten Truppen beenden ließ. Plancks Sohn ist ihm Mahlwerk der Gestapo und SS gefangen, der Tonfall der Erzählung bleibt dabei in einer gewissen Weise lakonisch, sarkastisch, boshaft-heiter.

Bei Lichtspiel und Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor wird ganz nebenbei immer auch deutlich, was Deutschland bzw. die deutschsprachige Welt der 1920er Jahre verloren hat, als das braune Pack die Macht übertragen bekam. Ich weigere mich jedoch, diese Romane als »wichtig« zu bezeichnen, weil sie »uns« etwas für unsere eigene Zeit zu sagen hätten oder eine Warnung bereithielten. »Wir« haben »uns« noch nie davon beeindrucken lassen.

Ralf Rothmann hat mit seiner Theorie des Regens ein Kompendium seiner Notizen aus vielen Jahrzehnten zusammengestellt. Hier werde ich ganz ohne vorherige Lektüre an der Veranstaltung teilnehmen, von Rothmann habe ich noch kein einziges Wort gelesen. Ich bin voller Neugier, auf das Gespräch und darauf, wie es ist, völlig unbedarft zuzuhören.

Schließlich noch eine Form des wissenschaftlichen Eskapismus. Felicitas Mokler hat ein Buch veröffentlich, dessen Titel für sich selbst spricht: Die Evolution des Universums: Vom Urknall bis in die Ewigkeit. Als alter Science Fiction-Leser und Teleskop-Sternegucker (es ist kalt in klaren Herbst- und Winternächten) lasse ich mich gern auf den neuesten Stand der Kosmologie bringen. Wobei – verstehen werde ich sicherlich nicht alles, doch darum geht es gar nicht. Die eigenen Grenzen des Verständnisses kennenzulernen, ist meines Erachtens oft genauso wertvoll, wie das Verstehen selbst.

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