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Schlagwort: Sowjetunion (Seite 2 von 4)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Das Entsetzen über die deutsche Besatzungspolitik in Polen ergriff Hosenfeld bereits wenige Wochen nach dem militärischen Sieg. Dennoch brauchte es noch einige Zeit, ehe sich ganz vom Regime distanzierte und die heraufdämmernde Niederlage mit großer Klarheit kommen sah. Cover DVA, Bild mit Canva erstellt.

Das sind keine Menschen, nicht einmal Tiere, das sind Teufel. (28.12. 1943 über die SS, Gestapo)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Der Film Der Pianist von Roman Polanski hat den deutschen Hauptmann Wilm Hosenfeld bekannt gemacht. Der 2002 erschienene Streifen über den polnischen Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman erzählt dessen Schicksal während der deutschen Okkupation Polens zwischen 1939 und 1944. Hosenfeld hat Szpilman das Leben gerettet, eine entscheidende, aber für den gesamten Weg des Verfolgten durch die schreckliche Zeit eben auch nur eine Episode.

Polanski hat den Fokus auf die Opfer gelegt, sein herausragender Film ist für mich noch erschütternder gewesen als Schindlers Liste von Steven Spielberg von 1993. Er ist in gewisser Hinsicht schlichter, geradliniger und stiller als das amerikanische Pendant, die völlige Unerbittlichkeit des Kriegsgeschehens und Besatzungsregimes wirkt unmittelbarer. Am Ende nennt der Film noch den Namen des Retters und sagt, man wisse nicht mehr über ihn als seinen Tod im sowjetischen Kriegsgefangenschaft.

Das Buch »Ich versuche jeden zu retten« zeigt, dass dies eine unkorrekte Information ist, was aber selbstverständlich völlig legitim ist: Polanskis Anliegen war wie gesagt das der Opfer, nicht das eines untypischen Deutschen. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen geben eine Menge über den Person namens Wilm Hosenfeld preis, ein spektakulärer Einblick in das Leben, Denken und Fühlen eines Mannes, der ebenso Teil der Nationalsozialistischen Welt war wie sich davon abhob. Die Widersprüchlichkeit ist atemberaubend, das zeigen auch nachfolgende Zitate:

Goebbels ist ein großartiger Volksredner. Er überzeugt […] (10.03.1936)

Oder warum wird keine öffentliche Abstimmung im ganzen Reich durchgeführt? Allgemeine, geheime, freie Wahl. (30.04.1936)

Die Partei arbeitet mit Lüge, Verdrehung und Verleumdung, und wo das nicht genügt, mit Terror. (05.05.1936)

Wieder ergreift mich das Erlebnis der großen Gemeinschaft, in das wir marschieren. Es ist wie im Krieg. (12.09.1936)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Die zeitliche Dichte der Äußerungen, die zugleich eine große Nähe und Distanz zum Regime ausdrücken, Bewunderung und offene Kritik, verblüfft. Die Forderung Hosenfelds nach Wahlen (zu der Frage der Schulform) sticht besonders heraus. Wie viele andere patriotisch gesinnte Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges mit konservativer Haltung war auch Hosenfeld gegen den Versailler Vertrag eingestellt und stand der Weimarer Republik bestenfalls reserviert gegenüber.

Sein schneller Eintritt in die SA, die positiven Äußerungen zu Hitlers Erfolgen auf internationaler Ebene und die Erleichterung über die Auflösung der Bestimmungen des Friedensvertrages, der auch von Hosenfeld als Diktat angesehen wurde, unterstreichen die Affinität zum NS-Regime. Ausgerechnet eine demokratisches Instrument zu fordern, wenn die Herrschenden etwas durchsetzen, was dem Tagebuchschreiber nicht passt, wirkt kurios.

Und doch ist es ein Fingerzeig, dass in diktatorischen Systemen Kritik an bestimmten Umständen nicht zu verwechseln ist mit grundlegender Kritik am System selbst. Im Gegenteil: Das zeitlich letzte Zitat zeigt, wie sehr sich Hosenfeld 1936 trotz recht scharfer Kritik an einer Maßnahme des Regimes als Teil der großen Gemeinschaft fühlt.

Der letzte Satz bezieht sich auf die Stimmung im Kaiserreich 1914, als es tatsächlich zu einer recht lange andauernden inneren Ruhe kam. Die Weimarer Republik galt dagegen als zerrissen, ein Kritik-Motiv, das die Nazis geschickt mit ihrer Volksgemeinschafts-Propaganda bedienten. In Kriegszeiten kommt Hosenfeld darauf oft mit kritischen Worten zurück.

Trotzdem zeigen einige von Hosenfelds Bemerkungen, wie wenig er tatsächlich Teil der »großen Gemeinschaft« war, sondern eher isoliert. Die Gemeinschaftsabende der SA und anderer Verbände ödeten ihn fürchterlich an, das Beifallsgebrüll, die Bierseligkeit und schulter- und sprücheklopfende Kameradschaft war ihm zuwider. Es wirkt, als wäre das Zitat vom September 1936, das Erleben einer »Gemeinschaft« nicht mehr als ein frommer Wunsch.

Die Juden haben nichts zu lachen, mich empört die rohe Behandlung. (16.09.1939)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Besonders schwere Irritationen ergaben sich für Hosenfeld, je weiter sich Hitlers Herrschaft etablierte und der Antisemitismus Teil der Lebensrealität wurde. Dem stand Hosenfeld ablehnend gegenüber, was auch für die rassistische Weltanschauung des Nationalsozialismus galt. Nach Kriegsausbruch wurde er in Polen Zeuge, wie Juden und die polnische Zivilbevölkerung misshandelt wurden, was ihn empörte und zu offenem Widerspruch herausforderte.

Besonders interessant sind die Passagen, in denen Hosenfeld von den Schwierigkeiten berichtet, die große Masse an gefangenen polnischen Soldaten halbwegs menschlich zu behandeln. Obgleich ihm daran lag, diese mit Nahrungsmitteln, Unterkünften, Medikamenten usw. zu versorgen und er alle Anstrengungen unternahm, war es im Chaos der ersten Tage faktisch unmöglich, das zu bewerkstelligen.

Natürlich ist Vorsicht geboten, aber Hosenfelds Haltung zu den Polen, auf die er mit einer gewissen paternalistischen und sehr deutschen Kultur-Überheblichkeit blickte, war geprägt von Achtung, Respekt und Menschlichkeit. Er meinte beispielsweise, die polnische Nation wäre verloren, das polnische Volk werde bestehen; ihm gefiel etwa die nationalstolze polnische Hilfskraft mit ihrer unverhohlenen Ablehnung gegenüber den Deutschen.

Wie gern bin ich Soldat gewesen, aber heute möchte ich den grauen Rock in Fetzen reißen. (10.11.1939)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass innerhalb einiger Monate die Stimmung Hosenfelds ins Negative kippte. Die Zustände im besetzten Polen, die Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung, die so genannten Umsiedlungen, die mitleidlos umgesetzt wurden und für großes Leid sorgten, haben ihn erschüttert. Aber Führerglaube und die Empfänglichkeit gegenüber der Propaganda blieben trotzdem!

Schon für die letzten Friedensmonate wirkt die Naivität Hosenfelds oft erstaunlich. Er ging der Propaganda buchstäblich auf den Leim. Ein Grund lag sicher in der Ablehnung des Versailler Vertrages, der die außenpolitischen Maßnahmen Hitlers als große Erfolge erscheinen ließ. Das öffnete der völlig falschen Ansicht, Hitler stehe zum Frieden, Tür und Tor. Noch drei Tage vor Kriegsausbruch dachte Hosenfeld, Hitler werde »jede Verhandlungsmöglichkeit ergreifen«.

Hosenfeld rechtfertigte den Krieg gegen Polen in einigen Schreiben. Auch als er bereits harsche Kritik am Besatzungsregime äußerte, stand er dem Krieg an sich und seinen propagandistisch orchestrierten Motiven aufgeschlossen gegenüber.

Das Leben des Soldaten Wilm Hosenfeld ist geprägt von seiner grundsätzlichen Offenheit gegenüber den Umständen und Menschen, seinem tiefen katholischen Glauben, der unstillbaren Sehnsucht nach seinem Zuhause, seiner Frau und seinen Kindern. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Briefe, auch die Unzufriedenheit mit seiner eigenen Situation und dem Versuch, sich irgendwie einzurichten.

Hitler hat selten eine so überzeugende Rede gehalten wie die vom 9. November. Er ist doch ein fabelhafter Mensch. (15. 11. 1940)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Hosenfeld war als Offizier – selbstverständlich – am Kriegsgeschehen und den außenpolitischen Aktivitäten in Europa interessiert. Er gab Kommentare ab, mit denen er zunächst oft völlig falsch lag. Das ist insofern sehr interessant, weil ein Zivilist wie Hermann Stresau in seinen Tagebüchern Als lebe man unter Vorbehalt neben einigen Irrtümern oft verblüffend stimmige Einschätzungen zu der Entwicklung abgab. Im Verlauf des Krieges wurden die Einschätzungen Hosenfelds viel realistischer, etwa 1942, als er die Chancen der neuen Ost-Offensive bemerkenswert illusionslos sah.

Die Kriegserklärung an die USA im Dezember wertete der Autor glockenklar als Menetekel für eine Niederlage Deutschlands. Er sprach von »Untergangsstimmung« und, dass er »in einer Ecke sitzen und die Wand anstieren« könne. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung: Bei einer Einigkeit wie 1914 wäre es seiner Ansicht nach vielleicht möglich, zu bestehen; doch bestehe diese Einigkeit im NS-Deutschland nicht.

Verblüffend klar hob sich diese Meinung von der NS-Propaganda einer »Volksgemeinschaft« ab. Hosenfeld empfand diese angebliche Gemeinschaft nie , im Gegenteil machte er an vielen einzelnen Stellen klare Brüche aus. Wie das nachfolgende Zitat zeigt, übte er auf spektakuläre Weise Kritik am System, denn der Begriff »Abschaum« umfasst die Partei und ihre Gliederungen sowie sämtliche Formationen, die nicht an der Front kämpfen.

Amerika im Krieg mit der Achse. Die neue Welt hat den vorigen Krieg entschieden. Sie wird ihn auch diesesmal zu unserm Unglück entscheiden. […] Dieser Krieg ist für D[eutschland] eine gewaltige Gegenauslese: Die besten Männer bleiben auf dem Schlachtfeld, der Abschaum wird erhalten; damit wird das Gegenteil erreicht, was der Nationalsozialismus mit seiner Rassenlehre erreichen wollte. (Dezember 1941)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Nicht minder überraschend sind die zum Teil absurd naiv wirkenden Ansichten, etwa, dass die Geschichte »eben doch von einzelnen Genies gemacht« werde. Damit meinte er auch Hitler, obwohl Hosenfeld sehr genau wusste, was im Schatten dieses »Genies« an Verbrechen verübt wurde. Auschwitz war etwa im April 1942 bereits bekannt als »ein gefürchtetes Lager im Osten«, in dem die Gestapo die Menschen zu Tode quäle oder sie im Schnellverfahren in »Gaszellen« mit Gas töte.

Er wusste von den Foltermethoden, wusste von den vielen Unschuldigen, die dem ausgesetzt sind, wusste von der sinnlosen, kontraproduktiven Gewalt der Besatzungsmacht in Polen, mit der die Einheimischen immer stärker in den gewaltsamen Widerstand getrieben werden. In einem Tagebucheintrag am 17. April 1942 führte Hosenfeld eine Reihe von recht aktuellen Vorgängen in Warschau auf, die verdeutlichen, wie verheerend das alltägliche Wirken der Deutschen in Polen war.

Seine allgemein pessimistische Einschätzung gipfelte in einem hoffnungslosen Blick auf die militärische Lage, überhaupt erweist sich Hosenfeld zunehmend als realistisch, was die Kriegsaussichten anbelangt. Für den Leser erscheint es rätselhaft, warum Hosenfeld trotz derartiger Einsichten von Hitler als »Genie« spricht. Wenn dieser die Weltgeschichte bestimmte, wäre er eben für die von Hosenfeld beklagten Zustände verantwortlich und nicht nur der »Abschaum«, der sein Unwesen treibt. Auch dieser faktisch unauflösliche Widerspruch erscheint lehrreich.

Menschen sind widersprüchlich, inkonsequent und wechselhaft und möglicherweise gar nicht so hehr, wie oft dargestellt oder gewünscht. Hosenfeld war ein Schwärmer, ein Idealist, der seine in der osthessischen Provinz zusammengemaltes Bild an der harschen Realität zerschellen sah. Solche Wendungen vollziehen sich nur im Trivial-Roman bzw. -Film stringent, die historische (und gegenwärtige) Wirklichkeit ist anders, vielschichtiger, komplizierter, in sich durchaus gegenläufig.

Was hier in Warschau mit den Juden geschieht, das kannst du Dir nicht denken. Das ist, solange die Erde von Menschen bevölkert ist, sicher noch nicht dagewesen. Da verliert man jeden Glauben und jede Hoffnung. Wie tief sind wir gesunken. (1. August 1942 [Brief an die Ehefrau])

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

An manchen Stellen beklagte sich Hosenfeld über sich selbst, seine Untätigkeit, seine Ohnmacht, seine fehlende Courage. So sehr er mit sich ins Gericht ging, so wenig traf das auf die Realitäten zu. Das belegt bereits seine 1944 erfolgte Rettungstat, die Szpilman vor dem Tod bewahrte. Doch das war keineswegs die einzige Tat in dieser Weise. Wie aus dem begleitenden Text zu sehen, nutzte Hosenfeld seine Tätigkeit als Sport-Offizier, um für verschiedene Polen eine Art Schutzraum zu schaffen, die sie vor der Verfolgung bewahrte.

Es versteht sich von selbst, dass Hosenfeld davon in seinen Aufzeichnungen nichts berichtete. Das gilt erst recht für die Briefe, die der Zensur unterlagen. Zum Glück gibt es andere Quellen für dieses Wirken. Die Aufzeichnungen und Briefe zeigen eher, wer der Mensch hinter diesen Taten war. Eine unheroische Person, die den Leser mit ihren Schwankungen, Depressionen, Schwärmereien und manchmal auch hochfliegendem Pathos vor einige Zumutungen stellt.

Diese Herausforderung ist allerdings das Spektakuläre an diesem Buch. Eine historische Person tritt dem Leser in einer ganz ungewohnten Mehrdimensionalität entgegen, ohne die verzerrenden Reduzierungen und Fokussierungen. Hosenfeld war kein »Retter« per Geburt, er wurde dazu, peu á peu und aus ganz verschiedenen, durchaus widersprüchlichen Quellen gespeist.

Hosenfelds Sterben in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ist ebenso tragisch wie passend, der rettende Deutsche wird Opfer des Stalinismus, des zweiten, menschenverachtenden  Gewaltregimes des zwanzigsten Jahrhunderts. Sehr positiv an der Ausgabe sind die umfangreichen Anmerkungen, die auch Laien die Texte Hosenfelds verständlich machen, außerdem hilft der einführende Beitrag zum Leben, sich in der Fülle der Aufzeichnungen zurechtzufinden.

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern
Hrsg. von Thomas Vogel
DVA 2004
Gebunden, 1.194 Seiten
ISBN: 978-3-42105776-1

Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Ein intensiv erzählter Roman über die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Bei der Lektüre des Roman Ritchie Girl von Andreas Pflüger hat mich manchmal erstaunt, wie sehr dieser Roman von der Gegenwart zu erzählen scheint. Seit Russland seinen genozidalem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, gehen sie doch wieder um, die »Geister der Vergangenheit«, die gar nicht mehr so geisterhaft ihr blutiges Handwerk betreiben.

Im Gegensatz zum Vernichtungskrieg der Wehrmacht findet dieser vor aller Augen statt, für jeden unübersehbar. Umso bitterer, dass »Wegschauen, Schulterzucken« wieder in Mode sind, ebenso die larmoyante Kriegsmüdigkeit, das Folgen von Lügen und Propaganda – aus vielerlei Gründen. Wer sich fragt, die »das« damals geschehen konnte, bekommt Antworten präsentiert, die sehr unbequem und ernüchternd sind.

Das wirkt zurück auf die Betrachtung der Nazi-Zeit und auch zu dem, was Pflüger in seinem Roman vor dem Leser mit hoher Erzählintensität ausbreitet. Die Geschichte entfaltet sich aus der Sicht einer US-Amerikanerin namens Paula Bloom, die gegen Kriegsende nach ihrer Zeit im Camp Ritchie nach Europa zurückkehrt. Sehr intensiv erfährt der Leser das Grauen des Krieges auf den ersten Seiten, der gruseligen Überfahrt folgen grausame Eindrücke hinter der nach Norden vorrückenden Front in Italien.

Paula hat eine ungewöhnliche Biographie. Sie ist die Tochter eines Amerikaners, der in Berlin während 1930er Jahre lebte und arbeitete. Für US-Firmen, die mit deutschen Unternehmen gute Geschäfte machten, auch mit den später berüchtigten IG Farben. Moral stand hinten an, wie heute, wenn Sanktionen gegenüber Russland umgangen werden und Hochtechnologie aus dem Westen dem Aggressor ermöglicht, Krieg zu führen.

In Italien macht Paula als Übersetzerin Bekanntschaft mit einem SS-Offizier und begegnet Georg wieder, einem deutschen Offizier, an den sie ihr Herz verloren hat. Eine wildbewegte Geschichte entspannt sich, denn noch vor der Kapitulation der Deutschen wetterleuchtet der Kalte Krieg am Horizont, neue Bündnisse entstehen, Feinde, auch hochbelastete Täter aus dem Vernichtungskrieg werden wieder interessant.

Die Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Entwicklungen, der Nürnberger Prozess und der Rückgriff auf deutsches Personal, die oft zynisch erscheint, durchzieht den gesamten Roman wie ein Bittermandelaroma. Paula wird auf einen aus Österreich stammenden Juden angesetzt, der als Top-Spion der Nazis galt. Sie soll ihm auf den Zahn fühlen, herausfinden, ob dieser Johann Kupfer lügt oder ein wertvoller Geheimdienstmann sein könnte.

Die Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht verwickelt, eine einfache Haltung einzunehmen ist für die handelnden Personen unmöglich, wie Paula zu spüren bekommt. Ihre eigene Vergangenheit, das erstickende Gefühl von Schuld wegen ihres Vaters und einer jüdischen Freundin, aber auch ihre noch immer glimmenden Gefühle gegenüber Georg holen sie ein. Ganz nebenbei erzählt Ritchie Girl auch von dem starken Gefälle zwischen Männern und Frauen in dieser Zeit, der latente und strukturelle Rassismus der US-Streitkräfte wird auch nicht verschwiegen.

Der Roman ist sehr unterhaltsam und spannend zu lesen, man fliegt durch die Seiten, vor allem, wenn die Zeitgeschichte und die handelnden Personen bekannt sind. Denn das Personentableau ist üppig geraten, der Erzählstil wirkt manchmal etwas flüchtig und ruppig, was allerdings der Handlungsdynamik sehr zugute kommt.

Beindruckend und erschütternd sind und bleiben die fürchterlichen Wechselfälle des Lebens unter der Knute von SS, Wehrmacht und Kollaborateuren während des Krieges; ebenso das, was Entnazifizierung genannt wurde, aber in vielerlei Hinsicht nicht war. Mit dem Ende konnte ich hingegen nur wenig anfangen, einige Dinge, wie das Schicksal Georgs und Kupfers, wirken inkonsequent. Das ist gemessen am gesamten Roman letztlich eine Petitesse.

Andreas Pflüger: Ritchie Girl
Suhrkamp 2022
Taschenbuch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-518-47267-5

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Im Frühjahr 1918 unternahm das Deutsche Kaiserreich einen letzten, erfolglosen Großangriff im Westen, doch der Krieg war bereits zugunsten der Entente entschieden. Der Kriegseintritt der USA gab den Ausschlag. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Das Schlüsselwort in diesem vorzüglichen Buch Auf Messers Schneide lautet »Unentschieden«. Schon im Vorwort begegnet es dem Leser und erweitert das scheinbar konkurrenz- oder alternativlose Begriffspaar »Sieg« und »Niederlage« um eine dritte Option. Es handelt sich nach Einschätzung des Autors Holger Afflerbach sogar um das „vorgezeichnete und praktisch unausweichliche Ergebnis der strategischen Lage“, zumindest „während der längeren, der europäischen Phase des Krieges.“

Diese Einschätzung unterscheidet sich von dem, was während meines Studiums Anfang der 1990er Jahre diskutiert wurde. Seinerzeit kämpfte gerade die deutsche Historiographie noch immer mit Fritz Fischers allzu bequemen Phantasien von einem deutschen „Griff nach der Weltmacht“ und dem trübseligen Historikerstreit. Für den Zweiten Weltkrieg und Hitlers bzw. die nationalsozialistischen Kriegsziele kann man getrost von einem Eroberungskrieg sprechen, für das Deutsche Kaiserreich gilt das nicht.

Deutschlands Gegner, die Entente-Mächte, hatten zu keinem Zeitpunkt des Krieges ein gesteigertes Interesse daran, mit ihren Kontrahenten einen Kompromissfrieden zu schließen. Die wiederum haben eine Reihe von Chancen verpasst, die Alliierten entsprechend unter Druck zu setzen. Das wird in der Analyse Afflerbachs sehr deutlich. Er spart auch nicht mit Kritik, etwa an Reichskanzler Bethmann-Hollweg und seiner unentschlossenen, widersprüchlichen und lavierenden Form der Politikführung.

Unentschieden meint übrigens nicht, dass alles so hätte sein müssen, wie vor Kriegsausbruch, ein Remis hätte anders aussehen können und bald müssen als ein Status Quo Ante. Der war ab einem gewissen Punkt unmöglich, gleiches gilt aber für einen »Sieg«. Die Fokussierung auf den Siegfrieden hat den Krieg in einer Weise verlängert, dass auch die Sieger dramatisch beschädigt waren. Russland beispielsweise wurde über seine Möglichkeiten hinausgehend im Krieg gehalten und brach in einer Weise zusammen, die in der Folge mehr Menschen das Leben kosten sollte, als der Erste Weltkrieg.

Die Vorstellung, das Deutsche Reich habe nach der kontinentalen Vorherrschaft gestrebt, ist eine krasse Vereinfachung der Wirklichkeit und im Kern falsch.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Jahrzehntelang stand die so genannte »Schuldfrage« wie der berüchtigte Elefant im Raum und versperrte bzw. verzerrte die Sicht auf wesentliche Faktoren, die den Krieg bestimmten. Etwa die aggressiven, imperialistischen, expansionistischen und »provinziellen« Kriegsziele der Entente, namentlich Frankreichs und Italiens, aber auch Englands und Wilsons eher unrühmliche Absichten. Sie entgrenzten den Krieg ohne Rücksicht auf die absehbar selbstbeschädigenden Folgen.

Afflerbach sieht die Verlängerung des Krieges als Folge dieser Kriegszielpolitik und der unseligen Fokussierung auf einen Siegfrieden. Was harmlos klingt, führt zur Quintessenz seiner Analyse: Am Ende gab es keinen »Sieg« und keinen »Frieden«. Die Folgen des Krieges machten auch die militärischen Gewinner zu Verlierern. Faschismus, Stalinismus, Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, Holocaust – die nachfolgende Geschichte 20. Jahrhunderts gilt für den Autor als Kronzeugin dieser Einschätzung.

Die Entwicklung, darauf legt Afflerbach Wert, war auch nach 1918 weder zwingend noch zwangsläufig, im Gegenteil. Selbst der Friedensvertrag von Versailles hätte Möglichkeiten geboten, die von Zeitgenossen durchaus gesehen wurden; ein Zufall waren die verheerenden Entwicklungen nach 1918 aber nicht. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, ein »negativer Verlauf des 20. Jahrhunderts« wäre durch den endlosen, blutigen Krieg vorgezeichnet und schwer vermeidbar gewesen. Entgegenkommen der Sieger  war angesichts der Verwüstungen und horrenden Verluste erst später möglich, zu spät für die junge, schwache Republik von Weimar.

Es ist jedoch eine historische Tragödie, dass viele der Nachbesserungen zu spät kamen und nicht der jungen deutschen Republik zufielen, sondern ihrem Totengräber Adolf Hitler.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Militärisch und politisch ist der Erste Weltkrieg von deutscher Seite, aber auch Österreich-Ungarns, durch katastrophale Fehlentscheidungen geprägt. Auch ohne die vermaledeite Kriegsschuldfrage ist der politisch orchestrierte Weg der Doppelmonarchie in den Krieg geprägt von geradezu grotesken Entschlüssen. Das setzte sich nach Kriegsausbruch fort, militärisch wie politisch. Przemysl etwa, das »Stalingrad des Ersten Weltkrieges«, oder der Kriegseintritt Italiens, der politisch durchaus hätte verhindert werden können.

Italiens Kriegseintritt 1915 hat laut Afflerbach einen bis dahin denkbaren Sieg der Mittelmächte nahezu unmöglich gemacht. Zwar haben die Italiener militärisch zu keinem Zeitpunkt etwas Bedeutsames erreicht, doch die Bindung hunderttausender Soldaten der Donaumonarchie, die weitere wirtschaftliche Abschnürung verbunden mit der Überlastung der Eisenbahnlogistik reichte bereits aus, um die Waage kippen zu lassen.

Es war der erste Schritt zu einer Entgrenzung des Krieges und seiner verheerenden Verlängerung. Ein Punkt, der auch immer wieder zu schwach gewichtet wird, ist die Veränderung der Koalitionen: Im Kriegsverlauf erweiterte sich die Zahl der Kriegsteilnehmer auf beiden Seiten. Entscheidend war dabei der Kriegseintritt der USA 1917: Hier schloss sich für die Mittelmächte das Fenster zu einem Remis mit der Entente, das laut Afflerbach um die Jahreswende 1916/17 durchaus offenstand.

Im Winter 1916/17 bot sich dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten eine vollwertige Chance, den Krieg mit einem Remis zu beenden, und zwar in der von den Zeitgenossen verkannten Verschränkung zwischen amerikanischer Friedensvermittlung und prärevolutionärer Situation in Russland. 

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Die USA waren unter Wilson parteiisch. Sie wollten laut Afflerbach unter keinen Umständen einen Sieg der Mittelmächte, aber auch nicht unbedingt einen Sieg der Entente, sondern den Aufstieg der USA zur globalen Vorherrschaft. In Deutschland wussten nur sehr wenige wirklich über das Land jenseits des Atlantiks Bescheid, wenige sahen die entscheidende Auswirkung eines Kriegseintritts der USA, ja viele hielten diesen für unwahrscheinlich.

Für die Entente war die Kriegserklärung der USA Anfang April 1917 der Schritt über die Schwelle, den Krieg notfalls noch jahrelang weiterführen zu können, bis die Mittelmächte zusammenbrachen. Anders als Russland, das längst militärisch, wirtschaftlich und politisch überfordert war und nach der Februar-Revolution 1917 den Krieg hätte beenden müssen, um den eigenen Untergang zu vermeiden, waren die USA faktisch unbezwingbar.

Für die Entente bestand demnach nach dem Zusammenbruch Russlands kein Grund, vom Konzept des militärischen Siegfriedens abzurücken, wenn das auch kurzsichtig gedacht war. Allein die bodenlose Verschuldung wirkte wie ein Gift auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung nach 1918. Gleichzeitig waren die Kriegsziele der Entente, die durch die Bolschewiki veröffentlich wurden, Wasser auf die Mühlen der Kriegspartei in Deutschland und bei seinen Verbündeten.

Die verbissene und ungeheuer schädliche alliierte Siegfriedensstrategie, die letztlich diese „wahnsinnige Selbstzerfleischung“ Europas zu verantworten hatte, hätte ihre Berechtigung gehabt, wenn das kaiserliche Deutschland durch den Krieg einen kohärenten Eroberungsplan hätte durchsetzen wollen. (…)

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Es gehört zu den ironischen Aspekten dieses Krieges, dass Zeitgenossen wie Ludendorff, die auf einen militärischen Sieg fixiert waren, ein Entgegenkommen der Gegner fürchteten. Afflerbach meint zurecht, dass die Entente auf diese Weise den Kräften im Reich, die auf eine Beendigung des Krieges drängten, das schärfste Schwert aus der Hand schlug, nämlich die Aussicht auf einen Kompromiss.

Wichtig ist aber auch, dass es in Deutschland eine Friedenspartei gab! Im Zweiten Weltkrieg war das nicht mehr der Fall. Wer also aus Auf Messers Schneide etwas für die Gegenwart ableiten möchte, sollte diesen Aspekt unbedingt im Auge behalten. Entgegenkommen ohne Kompromisswilligkeit auf der Seite des Eroberungskriegers ist Appeasement im schlimmsten Sinne.

Es bleibt jedoch dahingestellt, ob es 1916/17 wirklich die Aussicht auf einen Kompromissfrieden gegeben hat. Denn die deutsche Gesellschaft war im Krieg von der Welt abgeschnitten. Aus dieser »klaustrophobischen« Lage wurde sie auch dank der »lebensbedrohlichen Verknappungen« (Hunger, Kälte) von der »paranoiden und bösartigen« Vorstellung getrieben, England wolle das Reich »erwürgen« und die Zivilbevölkerung verhungern lassen.

Das führte zu einer breiten, öffentlichen Unterstützung des verhängnisvollen U-Boot-Krieges. Den zu verhindern fehlten Persönlichkeiten, die neben Einsicht auch die nötige Macht und Entschlossenheit gehabt hätten, sich durchzusetzen. Das gilt auch für einen Kompromissfrieden, der eben auch deutscherseits Entgegenkommen trotz der großen Opfer  beinhalten musste. Angesichts der öffentlichen Stimmung und des dysfunktionalen politischen Systems eine Herkulesaufgabe, die niemand schultern konnte.

Der Erste Weltkrieg war, in der deutschen Innensicht, kein Eroberungsfeldzug, sondern eine chaotische Interaktion konkurrierender Entscheidungszentren, in die Akteure von einer oft selbstverschuldeten Notlage zur nächsten hetzten.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Der »Waffenstillstand« von 1918 war nach Einschätzung Afflerbachs keiner, sondern eine Kapitulation unter bestimmten Bedingungen. Die Verhandlungen von Versailles haben diese Bedingungen jedoch übergangen, was wie ein Brandbeschleuniger auf die Empörung in Deutschland wirkte, die es den Gegnern einer Republik wesentlich erleichterte, den Friedensschluss und ihre Unterzeichner innenpolitisch zu diskreditieren und diffamieren – im Kampf um die Macht. Das bittere Ende für die »Sieger« von 1918 ist bekannt.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor
C.H.Beck 2022
Paperback 664 Seiten
ISBN: 978-340677743-1

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Ins geteilte Berlin mitten im Kalten Krieg führt dieser ungewöhnliche Spionageroman mit einem Helden, der für Furore sorgte. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Welches Bild auch immer der Begriff „Aspik“ in den Kopf zaubern mag, ein darin eingelegter – kann man sagen: eingelegt? – Dandy (ausgerechnet) wirkt mindestens schräg, in jedem Fall schillernd und ein wenig unappetitlich. Man assoziiert am ehesten jenen sprichwörtlich im Beton eines Bauwerks entsorgten Ermordeten, der aber dadurch aus dem Blickfeld verschwindet. Was in Aspik verwahrt wird, bleibt verzerrt sichtbar.

Mit dem Titel des Spionage-Klassikers von Derek Marlowe sind die Seltsamkeiten dieses Romans nicht beendet. Die Hauptfigur von Ein Dandy in Aspik tritt dem Leser reichlich dubios entgegen. Zurückgezogen, geradezu isoliert führt Alexander Eberlin sein Leben, ein schweigsamer Hausangestellter ist die einzige Person, die regelmäßig in seinem Haushalt auftritt.

Eberlin ist 36 Jahre alt und findet das Alter missvergnüglich. Zu alt für Übermut und Tatkraft der Jugend, zu jung für die Respektabilität des gesetzten Alters – eine schnoddrig-kauzige Haltung, die zum Dandy recht gut passt, wie seine gute Kleidung. Aber dieses stimmige Bild bekommt früh in der Handlung Risse, denn der billige Wein, der laut Eberlin wie Abwasser schmecke, gehört in eine andere, unkultivierte Welt.

In einer Ecke saßen drei arbeitslose Schauspieler und sprachen von sich selber.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Während der gesamten Romanhandlung wird der Leser immer wieder mit derartigen Brüchen konfrontiert. Dabei handelt es sich nicht etwa um „Fehler“ des Autors, sondern ein gezielt eingesetztes Stilmittel. Der Leser soll stutzen, verwirrt blinzeln und aufmerksam weiterlesen, ob und wie sich derlei Seltsames irgendwann aufklärt.

Das Leben des Alexander Eberlin ist jedenfalls nicht das, was es zu sein vorgibt. Da wäre der Masarati Mistrale, ein schnittiger Sportwagen im Stile eines James Bond-Autos, mit dem man wunderbar durch das kurvenreiche Südfrankreich brausen kann. Er steht in einer Werkstatt bei Lyon – was Eberlin zur Nutzung von Taxis und Öffentlichen Verkehrsmitteln zwingt.

Martin Compart verweist in seinem vorzüglichen Nachwort zurecht auf die geradezu groteske Vorstellung, James Bond, die Ikone des Kalten-Krieg-Spions, würde mit Bus oder Taxi fahren müssen. Dieser tiefgreifende Bruch mit dem monolithischen Bild des souverän agierenden Agenten-Helden ist Ausdruck eines viel weiter reichenden Risses: Eberlin ist Doppelagent.

Sein eigentlicher Name ist Krasnevin, seine Tätigkeit für die Briten nur Tarnung, eine ziemlich gute, um seinem Job nachzugehen: Töten. Eberlin / Kransnevins Aufgabe besteht darin, gefährliche Agenten auf Seiten der Briten auszuschalten. Er agiert in dieser Hinsicht durchaus erfolgreich.

Er hatte sie unterschätzt. Alles, was jahrelang sorgfältig geplant worden war, begann zusammenzustürzen.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Damit bekommt das zunächst obskur wirkende Verhalten Eberlins zumindest einen Sinn. Den Agenten ohne Auto plagt Heimweh nach Russland, er möchte zurück, was seine Vorgesetzten ablehnen. Das Motiv prägt die Verhaltensweise der Hauptfigur während des Romans und erklärt vielleicht auch, warum es diesem bisweilen an Professionalität mangelt.

Mehrfach wird er von anderen Agenten, insbesondere seiner Nemesis namens Gatiss, für sein unvorsichtiges, laienhaft dilettantisches Verhalten gerügt. Wieder liegt der Vergleich zu James Bond nahe – man stelle sich das einmal vor … Recht früh zeig sich, wie sehr Eberlin seinen Kontrahenten Gatiss fürchtet, er fürchtet eine Enttarnung.

Ein Dandy in Aspik spielt in den 1960er Jahren, mitten im Kalten Krieg, kurz nach dem Mauerbau – also in einer untergegangenen Welt. Die entlang klarer Linien verlaufende Konfrontation von West und Ost, Demokratie und Autokratie ging mit einer Dämonisierung des Gegners einher, der Typus des kommunistischen Ostagenten weicht von Eberlin / Krasnevin beträchtlich ab.

Derek Marlowe spielt in seinem Roman ein wenig mit diesem holzschnittartigen Gut-Böse-Schema, Heimweh will nämlich nicht recht zum Bild des ideologisch motivierten Agenten aus der Sowjetunion passen. Sicher ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Gatiss den hochprofessionellen, kalten, emotionslos-unmenschlich handelnden Agenten verkörpert, der für den Westen arbeitet.

Jetzt hatte er glücklich drei Namen. Eberlin, die Dreifaltigkeit.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Eberlin wird auf eine Mission nach Berlin entsandt, der symbolgeladenen Frontstadt des Kalten Krieges. Inter dem Decknamen George Dancer soll er nach Krasnevin suchen. Er jagt also sich selber, eine wunderbare Quelle für haarsträubende Situationen, die Marlowe weidlich ausnutzt. Besonders groteske Umstände ergeben sich anlässlich eines Versuchs, die Grenze nach Ostberlin zu überschreiten.

Eberlin / Krasnevin / Dancer versucht, nach Osten zu entkommen, um sich der persönlichen Gefährdung zu entziehen und seinem Heimweh gegen den Willen seiner Vorgesetzten den Stachel zu nehmen. Wer einmal selbst einen Grenzübertritt in die DDR unternommen hat, wird die Umstände von Eberlins Versuch als schauerliche Reminiszenz empfinden, jene uniformiert-abweisende Unhöflichkeit, kaum verborgen vom Schleier bürokratischer Worthülsen und Ausflüchte.

Die Zwangslage, in der sich Eberlin befindet, spitzt sich stets zu, die Handlung ist zunehmend von Rasanz und abrupten Wendungen geprägt. Fast unnötig zu erwähnen, wie spannend das ist, obwohl Marlowe es versteht, auch das mit einem ironischen, sarkastischen Unterton zu erzählen.

Viele Dialoge von Ein Dandy in Aspik sind von befremdlicher Krautigkeit. Wo professionell-kühle Gesprächsführung zu erwarten wäre, sind die Wortbeiträge oft ein sprunghaftes, von Assoziationen getriebenes Mäandern. Vielleicht ist das auch ein Echo eines spezifischen Lebensgefühls, das möglicherweise viele Zeitgenossen befallen hatte, sei es im mauerdurchschnittenen Berlin, sei es auf den britischen Inseln: der Eindruck, in einer unwirklichen Welt zu leben.

Wie bei den anderen Bänden der Klassiker-Reihe aus dem Elsinor-Verlag ist auch bei Ein Dandy in Aspik das Nachwort von Martin Compart absolut lesenswert, denn es erhellt den Entstehungsprozess des Buches und gibt dem Leser einen Einblick in das Leben des Autors. Hinzu kommt noch ein sehr interessanter Beitrag Rolf Giesen über die kuriosen Umstände der Verfilmung des Buches.

[Rezensionsexemplar]

Weitere Besprechungen der Klassiker-Reihe:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
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Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Die Schilderungen der Pogrome sind oft schwer erträglich, dafür bietet das Buch einen detaillierten Blick auf die Gewalttaten und ihre Folgen für die Opfer, aber auch ihren Platz auf dem Weg in den Holocaust. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Am Ende lässt Jeffrey Veidlinger sein Buch Mitten im zivilisierten Europa in den Holocaust ab Juni 1941 münden, der über die jüdischen Bürger Osteuropas hereinbrach, als die deutsche Wehrmacht ihren Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion entfesselte. Die letzten Seiten dieses bemerkenswerten, oftmals schwer erträglichen Buches gehören den ersten Mord- und Gewalttaten in den gerade eroberten Gebieten.

Befeuert von Einsatzgruppen, SS und Wehrmacht haben Einheimische Pogrome gegen ihre jüdischen Mitbürger entfacht, wieder wurden Nachbarn und nichtjüdische Mitmenschen zu Tätern, wie schon in den Jahren 1918 bis 1921. Geradezu gespenstisch wirkt es, wenn Veidlinger darauf verweist, dass Täter der älteren Gewalttaten wieder mitmischten, zum Teil von den Nationalsozialisten an prominenter Stelle installiert.

Jeffrey Veidlingers Buch Mitten im zivilisierten Europa widmet sich einem ebenso schmerzlichen wie wichtigen Thema, das den Brückenschlag darstellt, dem hierzulande nicht die nötige Aufmerksamkeit in der Erinnerungskultur zukommt. Es gibt eine gewisse Kontinuität bei den Gewalttaten gegenüber Juden, gerade zu Beginn des Vernichtungskrieges, die von deutscher Seite durch Einsatzgruppen, Ghettoisierung und Vernichtungslager dramatisch eskaliert wurde.

Zumindest in den Köpfen der Opfer war also die Gewalt, die sie 1941 erlebten, direkt mit dem Blutvergießen von 1918 verbunden.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Die »Vorgeschichte des Holocaust«, also der »wahre Beginn desselben Holocaust«, der seit vielen Jahrzehnten umfassend erforscht und in unzähligen Darstellungen besprochen wurde, ist der Kern dieses vorzüglichen Buches. Die Geschichte muss nicht neu geschrieben werden, SS, Wehrmacht und Einsatzgruppen werden kein Jota entlastet, aber einige Dinge, die während des Zweiten Weltkrieges geschehen sind, erscheinen klarer.

Veidlinger weist darauf hin, dass 1941 rund ein Drittel der Opfer in der Nähe ihrer Wohnhäuser getötet wurden, wie in früheren Zeiten haben sie die Gewalt als Pogrom empfunden. Der Holocaust, der im Rahmen des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion durchgeführt wurde, ist also in Teilen (!) noch mit den zu Unrecht als überkommen angesehenen Begriff des »Pogroms« zu beschreiben.

Diese Pogrome hatten eine Vorgeschichte, die Veidlinger nachzeichnet; sind doch zwischen November 1918 und März 1921 ungleich mehr Menschen auf barbarische Weise getötet, vergewaltigt, gedemütigt, beraubt und vertrieben worden als in allen Pogromen zuvor, sie haben ihre Lebensgrundlage im Wortsinne verloren, sodass sie fliehen mussten. Mehr als eine halbe Million jüdische Menschen haben sich ins Ausland aufgemacht, insgesamt flohen vor der Gewalt des brutalen Bürgerkrieges mehr als zwei Millionen Menschen.

Eine Flüchtlingskrise war die Folge, die damals wie heute massive Auswirkungen auf die aufnehmenden Staaten hatte. Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung und ihre Flucht waren dabei bedeutsam, denn Juden wurden in den aufnehmenden Staaten besonders wahrgenommen, ja galten als das Bild des Flüchtlings, obwohl sie nur ein Viertel der Fliehenden stellten. Rechte Hetzer haben die Steilvorlage aufgenommen und die ohnehin vorhandenen antisemitischen und antikommunistischen Stimmungen geschürt. Die Verschwörungserzählungen waren ebenso abstrus wie wirksam.

Wie jedes geschichtliches Ereignis war der Holocaust unvorhersehbar, doch seine allgemeinen Umrisse wurden vorausgeahnt.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

In diesem Sinne ist das Buch sehr lehrreich und mit Blick auf die realpolitischen Verhältnisse niederschmetternd. Man ist geneigt, zum Misanthropen zu werden, angesichts der grotesken  Vorwürfe, die gegen die Juden erhoben und geglaubt wurden. Obgleich viele von ihnen wegen der Bolschewiki und ihrer Ideologie bzw. deren erbarmungsloser Durchsetzung auf dem Rücken von Millionen Opfern geflohen sind, wurden sie als angebliche Multiplikatoren ebenjener Gesinnung gebrandmarkt.

In den hanebüchenen Vorwürfen, die gegen Juden erhoben wurden, unterscheiden sich der zeitgenössische Osten und Westen nur graduell, vor allem das Motiv des Antibolschewismus, der Juden und Bolschewiki / Kommunisten gleichsetzte, ist überall anzutreffen. Pogrome wie jenseits der Oder gab es in Deutschland erst nach 1933, in dem Ausmaß und der Brutalität erst im Krieg, doch Massenerschießungen durch Einsatzgruppen und die industrialisierte Massentötung waren und bleiben etwas Einmaliges.

Besonders erschütternd ist die Feststellung, dass alle an antijüdischen Pogromen beteiligt gewesen sind: Polen, Ukrainer, Russen, Bolschewiki, Rote Armee, Weiße, Kosaken – aber auch ganz gewöhnliche Menschen, Nachbarn, Mitarbeiter, Angestellte, Bekannte, Kunden und Auftraggeber; buchstäblich alle konnten sich über Nacht in Denunzianten, Kollaborateure, Schaulustige oder Nutznießer eines Pogroms verwandeln.

Der Wert jüdischen Lebens war gesunken.

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa

Man kommt gar nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, was eigentlich von »Zivilisation« zu halten ist. Der Firnis, der sie gegenüber der Barbarei, der anarchischen Gewaltanwendung trennt, scheint recht dünn zu sein. Daran ändern auch die vielen Menschen wenig, die versucht haben, den Juden zu helfen; die sie warnten, versteckten, sich für sie einsetzten – denn am Ende blieben trotzdem verwüstete Städte, niedergebrannte Häuser und verkohlte Leichen übrig.

Die Monographie weist auf einige sehr wichtige Aspekte hin, die das historische Verständnis schärfen. Der Begriff des »Bürgerkriegs« vereinfacht laut Veidlinger die Umstände zu sehr. Dafür gab es viel zu viele Konfliktparteien, keineswegs zwei klar voneinander getrennte Lager, wie im amerikanischen Bürgerkrieg etwa. In der Ukraine dieser Jahre tobte ein Krieg ohne Fronten, mit oftmals kleinen, regionalen Machthabern bzw. Kriegsherren. Ein vorzüglicher Nährboden für Pogrome.

[Rezensionsexemplar]

Jeffrey Veidlinger: Mitten im zivilisierten Europa
Aus dem Englischen von Martin Richter
C.H.Beck 2022
ISBN: 978-3-406-79108-6
Hardcover 456 Seiten

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