Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Stalinismus

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym

Ein bewegtes Leben voller radikaler Wendungen und Brüche, immer politisch und historisch sowie literarisch hochproduktiv. Cover C.Bertelsmann, Bild mit Canva erstellt.

Es dürfte nicht allzu oft vorkommen, dass ein Gedicht Gegenstand einer Debatte im Landtag wird. Stefan Heym alias Helmut Flieg ist dieses Kunststück gelungen, es hat ihm allerdings weder Ruhm noch Ehre eingetragen. 1931 hat er ein Poem unter dem Titel Exportgeschäft veröffentlicht, das in der »Chemnitzer Volksstimme« abgedruckt wurde. Dafür hat er ein Honorar von dreißig Reichsmark erhalten und ist von der Schule geflogen.

Die »Sektion Chemnitz Mitte der NSDAP« forderte den Verweis des Schülers, die bedrückenden Illustrationen unterstreichen, wie sehr die Gedicht-Zeilen Empörung und Wut in bestimmten Kreisen hervorriefen: Aufgestachelte Leser, Schulpersonal und Schüler, die den »Schmierfink« körperlich traktierten, wobei es wenig hilfreich war, dass Helmut Flieg als Jude galt.

Ich benutze diese leicht gewundene Formulierung, um deutlich zu machen, dass »Jude« in den 1930er Jahren auch eine Zuschreibung von außen auf Menschen war, die gar keine Juden sein wollten bzw. im Leben nicht darauf gekommen wären, »jüdischer Abstammung« zu sein oder als »Jude« zu gelten. Die Nationalsozialisten haben viele Menschen erst zu Juden gemacht und – ganz wichtig – darauf reduziert. Helmut Fliegs Judentum ist eher weltlicher Natur gewesen.

Die Eltern bzw. der Familienrat, dem der Betroffene selbst gar nicht angehörte, beschlossen, dass der junge Dichter nicht auf der Schule und nicht in Chemnitz bleiben könne; das bildete den Auftakt zur ersten Flucht Fliegs / Heyms, diesmal noch innerhalb Deutschlands: Er zog nach Berlin. Mit dabei eine Schreibmaschine, die er für das Honorar gekauft hatte, und die ihm über viele Jahrzehnte während aller folgenden Fluchten treu blieb.

Wir exportieren! Wir exportieren!
Wir machen Export in Offizieren!
Wir machen Export! Wir machen Export!
Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport!

Der Anfang von Helmut Fliegs Gedicht: Exportgeschäft

Der Auslöser für das Spektakel, das Gedicht Exportgeschäft, ist in Die Sieben leben des Stefan Heym abgedruckt, wie viele andere auch. Sie sind für sich genommen nicht unbedingt Gipfelstürmer der Poesie, beeindrucken aber dennoch, weil sie großartig zu den Illustrationen passen und diese zu ihnen. Wenn Flieg einige Dutzende Seiten später Deutschland verlassen und nach Prag fliehen muss, sind die gedichteten Zeilen ganz wunderbare Spiegel seines Inneren.

Flieg / Heym ist immer politisch gewesen, so auch bei seiner literarischen Feuertaufe: Exportgeschäft befasst sich mit der militärischen Zusammenarbeit des Deutschen Reichs und Chinas, das neben Waffen, Ausrüstung und Ausbildung auch den »Export« von Offizieren vorsah. Das ist übrigens der Grund dafür, warum chinesische Soldaten auf Bilder aus dieser Zeit oder in Filmen wie John Rabe irritierenderweise Wehrmachtsstahlhelme tragen. In den 1930er Jahren hat Hitler entschieden, statt auf China lieber auf Japan zu setzen.

Chinesische Soldaten mit deutschen Stahlhelmen.

Kurz nach der Machtübertragung an Adolf Hitler floh Helmut Flieg nach Prag, unter dramatischen und prekären Umständen. Dort wird er zu Stefan Heym, ein Deckname zunächst, dann ein Pseudonym und wohl auch eine neue Identität. Es ist erstaunlich, wie sehr das Leben von Flieg / Heym mit den politisch-historischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts verknüpft ist und genau darin liegt ein ganz großer Vorzug dieser wunderbaren Graphic Novel.

Didaktisch ist das Buch sehr gut aufgebaut, der Leser ist (dank erklärender Kästchen, einem Zeitstrahl mit Ortsangabe) gut orientiert. Das Buch wirkt dabei sehr ausgewogen, erfreulicherweise wird der nämliche Anteil rechtsradikaler Serben an dem Weg in den Ersten Weltkrieg, wie ihn Christopher Clark in Die Schlafwandler herausgearbeitet hat, genannt, statt nur von deutscher Kriegsschuld zu schwadronieren.

Auch die fürchterlichen Abgründe in Stalins Reich bleiben nicht unerwähnt. Das ist in vielfacher Hinsicht wichtig, weil linke Intellektuelle in Westeuropa lange an einem Phantombild der Sowjetunion festhielten, Arbeitslager (Gulag), Massentötung, Erschießungen und gezielte Hungernöte mit Millionen Toten (Holodomor, Ascharschylyq) sowie die aggressive, militärische Expansion einfach ignorierten.

Die Nase rümpfen muss ich allerdings bei der Erwähnung des späteren Korea-Krieges, hier wird der Eindruck vermittelt, der ginge allein auf die USA zurück, denen auch noch die Brutalität des Krieges und die zivilen Kriegsopfer zugeschrieben werden – was tatsächlich Unfug ist. Die Autoren haben ihren Band so gestaltet, dass sie vor allem Heyms Texte sprechen lassen – möglicherweise hätte hier deutlicher werden müssen, dass es sich um die spezifische Sicht des Autors handelt.

Nachdem die USA in Korea einen für Stefan Heym unerträglichen und brutalen Krieg mit Millionen ziviler Opfer geführt hatten […], [gab] er sein Reserveoffizierspatent und seinen  Orden mit der Begründung zurück, dass dieser durch den ungerechten Krieg gegen das koreanisch Volk entehrt worden sei.

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym

Konsequent ist allerdings, dass Heym trotz seiner US-Staatsbürgerschaft, der Ablehnung, die ihm in Europa, namentlich Prag, Warschau und Moskau entgegengeschlagen ist, seine militärische Auszeichnung zurückgab. Diese Unangepasstheit setzte ihn zwischen alle Stühle, mit einer bemerkenswerten Beharrlichkeit hat der Autor an jedem Ort der Welt gegen das aufbegehrt, was ihm an den Lebensverhältnissen misshagte, sei es in den USA, sei es in der DDR.

So entstand ein Lebensweg, der bereits 1945 mit derart vielen dramatischen Wendungen versehen war, dass der Titel Die sieben Leben des Stefan Heym mehr als berechtigt erscheint. Es handelt sich tatsächlich um eine Novel, denn oft kommen Teile seines Werkes zu Wort, was in Kombination mit den wirklich großartigen Illustrationen einen Einblick in das Denken des Autors erlaubt.

Mir hat das Bild auf dem Cover besonders gut gefallen. Es wirkt, als stellte es den Einzelnen im (Mahl)Strom der Geschichte dar. Das mag etwas arg pathetisch klingen, doch trifft es das Leben des Schriftstellers recht gut, denn bei allem Engagement, bei allem Aufbegehren und Kämpfen, waren die Umstände immer mächtiger.

[Rezensionsexemplar]

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym
C.Bertelsmann 2024
Graphic Novel
Hardcover, 280 Seiten
ISBN: 978-3-570-10471-2

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Der Roman des Cubaners Leonardo Padura gehört zu den drei besten, die ich je gelesen habe. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Wie bringt man jemanden dazu, einen Menschen zu töten? Auf diese Frage gibt es unzählige Antworten, abhängig davon, unter welchen Umständen der Tötungsakt vollzogen werden soll. Der cubanische Schriftsteller Leonardo Padura führt in seinem großen Roman vor, welchen Weg Ramón Mercader, der Mörder von Leo Trotzki, gegangen ist; oder besser: entlang getrieben wurde, denn erst eine massive Manipulation unter anderem seitens der eigenen Mutter sowie Mitarbeitern von Stalins Geheimdienst hat ihn zu der Bluttat befähigt.

Die Vielschichtigkeit der Charaktere in »Der Mann, der Hunde liebte« gehört zu den Stärken des Romans. Wenn ich Ramóns Mutter und Geheimdienst-Schergen den Schwarzen Peter im einleitenden Absatz zuschiebe, bleibt wenig Raum für Verständnis; ihr Antrieb zum Handeln ist aber ebenfalls vielschichtig, sie haben alle ihre Beweggründe, die sie aber auch als Waffe einsetzen, um ihr Ziel zu erreichen, oft verstärkt durch Lügen.

»Ich war gläubig, aber ich habe dich gezwungen, an Dinge zu glauben, von denen ich wusste, dass es Lügen waren.«

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Padura hat zum Glück eine brillante Entscheidung getroffen und seinem Roman eine angemessen komplexe Struktur gegeben, statt sich nur auf die Geschichte des Mörders zu beschränken. Wer nun ein zähes Leseerlebnis befürchtet, sei beruhigt: Die Erzählung umschlingt den Leser unmittelbar und lässt ihn bis zum bitteren Ende nicht mehr los. Komplex heißt nämlich, dass schon die drei zeitlich getrennten, inhaltlich aber eng miteinander verwobenen Erzähllinien für eine immense Abwechslung und Spannung sorgen.

Das Endergebnis, der Tod Leo Trotzkis, steht mit der ersten Zeile des Romans fest, denn die ist nichts anderes als eine karge Zeitungsnotiz, gefolgt von dem Auszug eines Verhörprotokolls, in dem der Mörder schildert, wie er – mittels eines Eispickels – die Tat ausführt und wie – sehr wichtig! – Trotzki darauf reagiert. Diesen beiden Anfängen schließt sich die Schilderung einer Beerdigung an, nicht etwa des gemeuchelten Revolutionärs, sondern der nach langer Krankheit verstorbenen Frau des Erzählers namens Iván.

Kaum hatte Ramón Pawlowitsch den Hörer aufgelegt, hörte er wieder den Schrei.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Man stolpert also ein wenig in diese große Erzählung, ist verständlicherweise etwas verwirrt und orientierungslos – ein angemessener geistiger Zustand für diesen Roman. Denn für Iván, den – wie immer bei Padura – unvollendeten Schriftsteller, bricht durch seine Begegnung mit dem »Mann, der Hunde liebte« eine Welt zusammen. Der Zusammenbruch vollzieht sich langsam, streckt sich über Jahre und ist gewissermaßen eine Parallele zur Agonie des Sowjetreiches, ehe es schließlich innerhalb weniger Wochen implodierte.

Im Falle Iváns zerfällt sein Glaube an eine Ideologie zu Staub, während die Erkenntnis reift, über Jahre, Jahrzehnte hinweg belogen und betrogen worden zu sein. Als Kommunist auf der Insel Cuba unter dem Regime von Fidel Castro sah sich Iván als Mitstreiter für eine bessere und gerechtere Welt, was ihn übrigens sowohl mit Trotzki als auch mit dessen Mörder Ramón verbindet.

Ein naiver, zunächst aufstrebender Mitstreiter, dem das Regime auf brutale Weise klarmacht, dass es in Wahrheit um Konformismus geht und jede Form von Abweichung, ob gewollt oder unbewusst, erbarmungslos geahndet wird. Iván wird fast alles genommen, was sein Leben hätte ausmachen können – trotzdem ist die Konfrontation mit der Wahrheit, den unendlich brutalen, erbarmungslosen und zutiefst verlogenen Abgründen des Stalinismus auch für den Geschlagenen und Geprügelten ein tiefer Schock.

Den eigenen Glauben an eine gerechte Welt zu verlieren, ist eine Sache; die kommunistische Wirklichkeit als verlogene Hölle auf Erden zu durchschauen, eine ganz andere. Das verbindet Iván ebenfalls mit Trotzki und dem Attentäter Ramón. Alle drei machen eine Phase der Ernüchterung durch, der schmerzhaften Erkenntnis, dass ihre Träume nur als Alpträume realisiert worden sind.

Doch war meine erste Reaktion die, dass ich mir leidtat, ich und all jene, die an die in der damals untergegangenen Sowjetunion erreichte Utopie geglaubt hatten.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Padura doziert nicht. Er lässt den Leser miterleben, wie sich die drei Protagonisten Stück für Stück inmitten dieser grausamen Flut bewegen, abstrampeln und von ihr mitgerissen werden. Es ist auch ein Roman über mein ganz persönliches Herzensthema, wie der Einzelne  dem Phänomen namens Macht gegenübersteht. In Stalins Reich spielte das Individuum keine Rolle, auch wenn es sich mit vielen anderen zu Millionen aufsummierte; alles wurde dem Machterhalt untergeordnet, der vorgeblich dem Erreichen einer besseren Welt diente.

Während Iván und mit Abstrichen auch Ramón tatsächlich keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge hatten, gilt das nicht für Leo Trotzki. Der ist selbst ein Massenmörder gewesen, ein roter Blutsäufer in himmelschreiendem Ausmaß. Auf sein Konto gehen – zum Erhalt der Macht – Entscheidungen, die Millionen Menschen in den Tod gerissen haben. Lange vor Stalins unmenschlichem Regime ist das (Lenins und) Trotzkis nichts anderes gewesen als eine erbärmlich verbrämte Schreckensherrschaft.

[…] und ohne Gesetz und Gnade eine rote Schreckensherrschaft zu installieren und mit Feuer und Schwert eine dahintaumelnde Revolution zu retten, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Wie kann man einem solchen Monster anders als mit tiefgreifender Antipathie folgen? Paduras Kniff ist, dessen Geschichte in dem Augenblick beginnen zu lassen, da er selbst zum ohnmächtigen Opfer wurde und vor ihm ein langer, qualvoller Weg in Bedeutungslosigkeit und Tod lag. Vor allem aber dessen hellsichtige Klarheit über das Stalinregime und dessen irrsinnige politische Manöver, die mithalfen, Hitler an die Macht zu bringen und Franco den Sieg in Spanischen Bürgerkrieg einzufahren, wecken ein gewisses Maß an Respekt.

Ramóns Weg beginnt später, in jenem Spanischen Bürgerkrieg. Zwischen seiner und der Erzähllinie Trotzkis liegen zunächst Jahre, der zeitliche Abstand schmilzt peu á peu dahin, je näher sich die Handlung dem Attentat nähert. Padura hat keinen Thriller verfasst, obwohl die Spannung über das »Wie« des Tötungsaktes bleibt; es geht ihm um eine Entzauberung, die der Mord für Ramón, aber auch für die gesamte Sowjetideologie bedeutet. Pars pro toto – ein Akt stellvertretend für ein ganzes Weltbild, das von Menschenfeinden bis in die Gegenwart verfochten wird.

Iváns Perspektive, die sich immer wieder in diesen tödlichen Paartanz zwischen Trotzki und Ramon, Opfer und Mörder, (Massen-)Mörder und Opfer, hineinwindet, füllt die öde Polit-Phrase vom Lernen aus der Geschichte mit Leben. Schmerzhafte Entscheidungen und Prozesse sind unvermeidlicher Teil dieses Lernens, das sonst keins ist. Es verlangt Taten, die sich mit der gepflegten Ideologie nicht vereinbaren lassen.

Padura führt seinen Leser durch Szenen von abgründiger Beklemmung, er braucht die Folterkeller in Stalins Reich nicht zu betreten, es reicht, einem der Schauprozesse beizuwohnen. Besondere Intensität wohnt der letzten Wegstrecke inne, die der Mörder zurücklegt, ehe er das Attentat ausführt. Zu den Kuriositäten der Literatur gehört, dass Spoiler die Spannung keineswegs zerstören (müssen), im Gegenteil: Jeder weiß, dass der Mord gelingt, dennoch ist die einengende Spannung schwer erträglich.

»[…] und deswegen habe ich euch, meine Kinder, zu dem gemacht, was ihr seid: Kinder des Hasses.«

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte

Ramón Mercader ist zu einem Killer ausgebildet worden, angefüllt mit Hass und auf vielfältige Weise manipuliert. Dennoch nagt der Zweifel an ihm wie eine gefräßige Ratte an einem Kadaver; er weiß, dass er eine Marionette geworden ist, er weiß, dass ihm der Tod droht, er spürt die Schwäche seiner Beweggründe und das knackende Eis unter seinen Füßen und trotzdem schreitet er zur Tat. Es mag sein, dass Wissen Macht ist; doch schützt es weder vor Ohnmacht noch vor Verbrechen.

Der letzte Teil des Romans trägt – anders als die ersten beiden – einen Titel: Apokalypse. Er trägt ihn zurecht, denn wie ein Hammer trifft auch den Mann, der Hunde liebte, die Erkenntnis vom tiefen Verrat an allem, was er geglaubt hat. Man stelle sich vor: Das gesamte Leben, alle Träume von einer gerechteren Welt, der Glaube an die Sowjetunion und ihre Führer zerfallen zu Asche, aus der wie ein Phönix eine blutgetränkte Wahrheit emporsteigt, die alle eigenen Opfer in Mittäterschaft verwandeln. Folgerichtig trägt das finale Kapitel den Titel: Requiem.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte
Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein
Unionsverlag 2012
Broschiert 736 Seiten
ISBN 978-3-293-20579-6

© 2024 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner