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Schlagwort: Terror (Seite 3 von 4)

Volker Kutscher: Märzgefallene

Der fünfte Teil der Reihe um Kriminalkommissar Gereon Rath ist äußerst stimmungsvoll um einen sehr spannenden Fall gewoben. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.

Gelesen – natürlich im März. Neunzig Jahre nach den Ereignissen, die den historischen Hintergrund für den fünften Mordfall bilden, den Kommissar Gereon Rath zu lösen hat; wann passt die Lektüre schon einmal so gut? Und wann ist ein Roman so gut informiert, versteht es, den Zeitgeist, braun und gewalttätig, so mitreißend einzufangen, ohne den Zeigefinger studienrätisch zu schwingen, sondern einen wirklich spannenden Kriminal-Thriller zu erschaffen?

Das Wort »Kulisse« wäre herabwürdigend, denn Volker Kutscher hat Märzgefallene so gestaltet, dass die historischen Ereignisse den Gang der Ermittlungen massiv beeinflussen. Rath und seine Verlobte, Charlotte Ritter, werden in den Mahlstrom der Ereignisse nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler hineingezogen, der Brand des Reichstags, die Grausamkeiten der zur Hilfspolizei aufgewerteten SA und die Durchdringung der Behörden durch die neuen Machthaber.

Vom Zauber und Charme der Weimarer Republik ist nicht mehr viel geblieben. Hakenkreuzfahnen allüberall, Aufläufe, brutale Gewalttaten, während viele Bürger versuchen, ihren normalen Alltag inmitten des radikal antidemokratischen Umsturzes zu leben, andere den neuen Machthabern in devoter Haltung entgegenkommen, sich anpassen, Opportunisten. Standfestigkeit führt aufs Abschiebegleis oder zieht Schlimmeres nach sich.

Der geschönte Krieg, für die Familie daheim.

Volker Kutscher: Märzgefallene

In beklemmenden Szenen zeichnet Kutscher nach, wie aus den Vorbänden bekannte Figuren, etwa der bereits geschasste Polizeipräsident Bernhard Weiß, um ihr Leben bangen müssen, wenn der braune Mob heranwalzt und von der Schutzpolizei nicht gehindert die Privatwohnung stürmt. Mit den Hauptfiguren, vor allem Charlotte Ritter, fühlt man die Hilflosigkeit und Ohnmacht, mit Gereon Rath die Neigung, Wegzusehen, Abzuwiegeln und Weiterzuwurschteln.

Wer nicht entkommen kann, nimmt Schaden an Leib und Leben. Das bekommt auch die Unterwelt zu spüren, die in Gestalt von Johann Marlow auch in diesem Teil wieder mitmischt, was dem Autor vielfältige kreative Spielräume eröffnet, die dieser weidlich nutzt. Auf diesem Weg nimmt Kutscher nämlich den Leser mit hinab ins Inferno der SA-Gefängnisse, in denen schon ganz zu Beginn des so genannten »Dritten Reichs« tausende gebrochen, versehrt und getötet wurden, nach unsäglichen Qualen.

Rath muss in diesem tobenden Durcheinander mehrfach seinen geschmeidigen Umgang mit Recht, Ordnung und Regeln unter Beweis stellen, um nicht zwischen den Mühlsteinen zermahlen zu werden. Bei allen Auseinandersetzungen zwischen dem sich unpolitisch gebenden Rath und der engagierten und klarsichtigen Charlotte Ritter geben beide dem Drang zu Extratouren allzu gern nach, um der Ödnis des Dienstes zu entgehen und den Fall voranzutreiben.

Dieser berührt einen Todesfall ganz besonderer Art, der seine Wurzel – wie so oft bei Kutscher – in der noch weiter zurückliegenden Vergangenheit. Märzgefallene bezieht sich auch auf Ereignisse aus dem März 1917, als während einer Rückzugsoperation gewaltige Zerstörungen im Frontgebiet angerichtet wurden. Dabei soll es zu einer folgenschweren Tat gekommen sein, die einen Beteiligten sechszehn Jahre später zu der Veröffentlichung eines Romans animiert, mit dem Titel: Märzgefallene.

»Die Operation Alberich«, sagte Roddeck. »Ich war seinerzeit mittendrin. Wir haben das Gebiet evakuiert, Straßen vermint, Schienen zerstört und in den verlassenen Dörfern Sprengfallen gelegt, Brunnen vergiftet und was sonst noch alles nötig war.«

Volker Kutscher: Märzgefallene

Volker Kutscher ist es wiederum gelungen, einen schlüssig aufgebauten, vielschichtigen Fall zu konstruieren, die unvermeidlichen Twists bei der Aufdeckung der Motive und Hintergründe erscheinen folgerichtig und logisch. Vor allem sind sie spannend und verwickelt, so dass auch Leser gewöhnlicher Krimis auf ihre Kosten kommen.

Doch ist die Atmosphäre, die Kutscher in seinen Märzgefallenen zu schaffen versteht, der heimliche Star dieses Romans. Wenn der Showdown naht, der verwickelte und komplizierte Fall gelöst ist und Rath eine Idee entwickelt, das Ganze zu einem halbwegs verträglichen Ende zu führen, wütet zeitgleich die berüchtigte Bücherverbrennung. Das ist keinesfalls nur Kulisse, aber selbst als solche wäre sie einfach großartig.

Eine Besonderheit kostet der Autor auch im fünften Band seiner Reihe voll aus: Kommissar Gereon Rath ist nicht pflegeleicht oder gar stromlinienförmig. Er hat ein gutes Händchen, Motive und Zusammenhänge aufzudecken, aber auch, sich persönlich in Schwierigkeiten zu bringen. Er ist katholisch in dem Sinne, dass Paris eine Messe wert ist – etwa durch Gefälligkeiten für und von dem Unterweltboss Johann Marlow. Diese Kooperation macht Rath faktisch zu einem bestechlichen Beamten.

Rath nickte.

Volker Kutscher: Märzgefallene

Die Ambivalenz reicht darüber hinaus in den politischen Bereich, dem die Hauptfigur mit naiver Verharmlosung und einem gehörigen Konservativismus begegnet. Das führt zu massiven Spannungen mit Charlotte Ritter, die als hehre Verteidigerin von Demokratie gezeichnet ist, Ohnmacht empfindet, Ekel und Trauer, während sie versucht, den herabstürzenden Trümmern des zerbrechenden Systems auszuweichen.

Für mich als historisch interessierten Leser sind die Verbindungen zu anderen Büchern faszinierend. Wunderbar ergänzend zu den ersten fünf Teile der Reihe ist etwa Höhenrausch von Harald Jähner, wer das Buch kennt, für den gewinnt die Handlung noch einmal beträchtlich an Tiefe. Das gilt bei der Lektüre von Märzgefallene auch für Uwe Wittstocks, Februar 33: Während Gereon Rath noch glaubt, es könne sich alles zum Guten wenden, hat ein Brain Drain durch massenhafte Intellektuellen-Flucht schon stattgefunden.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Lunapark.
Volker Kutscher: Marlow.
Volker Kutscher: Olympia.
Volker Kutscher: Transatlantik.

Volker Kutscher: Märzgefallene
Kiepenheuer&Witsch 2014
Gebunden 608 Seiten
ISBN: 978-3-462-04707-3

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Manche Kapitel lassen den Leser fassungslos zurück. Martin Sabrows detaillreiche Studie vermeidet glücklicherweise Gleichsetzungen mit der Gegenwart. Cover Wallstein-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

In der vierten Staffel der Spielfilmserie »Babylon Berlin« findet ein Gerichtsprozess statt, der die Veröffentlichung von Details über die geheime, vertragswidrige und das Völkerrecht brechende Aufrüstung Deutschland behandelt. Ein Unrechtsprozess, entwürdigend für die angeklagten Journalisten, empörend für deren Verteidiger und die Zuschauer vor dem Bildschirm; ja, auch ein wenig stiefelig in seiner grobgezeichneten Art.

Die Meinung über die zunächst holzschnittartige Darstellung des Richters und der Prozessumstände relativiert sich auf eine – ja, man kann es nicht anders nennen – dramatische Weise bei der Lektüre von Martin Sabrows ausgezeichnetem Buch Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution. Die historische Wirklichkeit war in monströser Weise grotesk; zugleich wird die Motivation von Zeitgenossen wie dem Film-Richter aus »Babylon Berlin« von dem Vorwurf, nur ein vergröbernder Holzschnitt zu sein, freigesprochen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt stand der Republik ein Gegner gegenüber, der nach Stärke und Taktik für einen neuen Anlauf zum Kampf um die Macht im Land ungleich besser gerüstet war als beim ersten Putschversuch vom März 1920.

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Den Leser von Sabrows detailreicher und umfassender Darstellung beschleicht recht bald ein Frösteln, das sich spätestens bei dem Kapitel über den Prozess gegen die »Organisation Consul« in großes Frieren verwandelt hat. Das, was dort geschildert wird, war kein Justizversagen; es war der gelungene Versuch, über eine Terror- und Umsturzorganisation einen Schleier zu werfen. Die Gegner agierten taktisch und strategisch vor Gericht gut, trotzdem: ohne den Beistand der Anklage (!) hätte auch das nicht gereicht.

Natürlich liest man aus der Sofaperspektive des Jahres 2023 in der Retrospektive mit, was seither geschah, den Untergang der Weimarer Republik und den Zivilisationsbruch, der Europa in den Abgrund stürzte und Millionen in den Tod riss. Die Zeitgenossen wussten das alles nicht, trotzdem waren sie hellsichtig genug, den Prozess richtig einzuordnen. Genutzt hat es nichts.

Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz.

Kurt Tucholsky, zitiert nach Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Timothy Snyder hat völlig zurecht darauf verwiesen, wie viele kluge Leute zur Zeit der Weimarer Republik lebten, wie viele von ihnen treu zur Verfassung standen, ihre Ansichten in dem breiten Spektrum an Medien kundtaten, in zum Teil herausragender Weise, sprachlich und analytisch die Abgründe ausleuchteten und aufzeigten. Das reichte nicht, um die Republik zu retten; sicher auch, weil es eine breitenwirksame Presse gab, der die Republik verhasst war. 

Zu den wirklich kuriosen Dingen gehört, dass sich der Staat in Gestalt der verfassungstreuen Parteien der Gefahr wohlbewusst war; um den schädlichen Einfluss der Justiz, die schon 1921 als fürchterlich antidemokratisch galt, einzudämmen, wurde ein Staatsgerichtshof in Leipzig gegründet, der sich mit staatsgefährdenden Umtrieben befassen sollte – ausgerechnet dort kam es zu der absurden Verkehrung von Anklage und Verteidigung.

Martin Sabrow schildert die Gegebenheiten und Entwicklungen mit nüchternem und kühl-analytischem Tonfall, die regelmäßig eingestreuten Pressezitate reichen neben den reinen Fakten völlig aus, den Leser unter Spannung zu halten. Ein großer Wert dieses Buches liegt darin, einmal genau zu zeigen, was es tatsächlich bedeutete, wenn eher allgemein von einer rechtslastigen Justiz die Rede ist; und wie sehr der Versailler Vertrag auch hier eine bedeutende Rolle bei der Handlungsmotivation spielte.

Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts. Joseph Wirth, Reichskanzler

Reichskanzler Wirth, zitiert nach Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Außerdem werden generelle Aspekte der Weimarer Republik deutlich. Einmal bestand eine tiefe Kluft zwischen Stadt und Land, während die urbanen Zentren von großen Wogen der Empörung über die Attentate durchwogt wurden, blieb die Provinz im dumpfen Zustand von Ignoranz und Gleichgültigkeit. Mancher lokale Mandatsträger wusste nichts von einem Außenminister Rathenau, geschweige denn von seiner Ermordung; die Flüchtigen erhielten trotz massiver Strafandrohung Unterstützung, keineswegs nur aus den Reihen der »Organisation Consul«.

Zweitens gelang es den demokratischen Kräften nicht, die strukturellen Defizite der Republik abzumildern. Weder die Justiz noch die Reichswehr noch die vielfältigen völkisch-rassistischen Verbände noch Verweigerer- und Rechtsbruchstaaten wie Bayern sowie erzkonservative Kräfte der Wirtschaft konnten auf einen verfassungsmäßigen Kurs gebracht werden.

Die offene Auseinandersetzung scheuten die Republikaner oft mit ängstlichem Blick auf die öffentliche Ordnung, Aufstände, wilde Streiks, Gewalt gegen Rechts und natürlich die immer beschworene Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes waren diesen Kräften ein Gräuel; ihre Gegner hatten diese Skrupel nicht, ein Strukturmerkmal, das schon 1848 geprägt und für großes Unheil gesorgt hat. In diesem Fall hätte es vielleicht den Absichten der Putschisten in die Hände gespielt.

So ergibt sich am Ende ein ambivalentes Fazit: Die vom Weimarer Rechtsputschismus gelegte Spur der Gewalt reichte weit über 1921/22 hinaus, aber in einer ungebrochenen Kontinuitätslinie zum Rechtsterrorismus nach 1945 steht sie nicht.

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution

Die größte Stärke von Martin Sabrows Buch bildet zugleich die größte Herausforderung für den Leser: Detailreichtum und Vielschichtigkeit der einander überlappenden Themenbereiche aus unterschiedlichen Perspektiven entreißen dem Zwielicht eine umfassende rechtsgerichtete Verschwörung gegen die junge Republik und grenzen sie gegenüber der – letztlich siegreichen – nationalsozialistisch-völkischen ab. Hier die überkommene putschistische Hermann Ehrhardts, dort die populistische Adolf Hitlers.

Ganz besonders segensreich an diesem sehr lesenswerten Buch ist, dass der Autor der Verlockung entgegentritt, die Morde der 1920er Jahre mit denen der Gegenwart gleichzusetzen; er vergleicht, nennt Gemeinsamkeiten und weist nachdrücklich auf die Unterschiede der Mordserie in der frühen Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1990 hin. Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution bildet eine wunderbare Grundlage dafür, um über Rechtsterrorismus und Rechtsstaat in unserer Zeit nachzudenken.

Verwiesen sei in diesem Zusammenhang noch auf den Roman von Das Spinnennetz von Joseph Roth, der von Oktober bis November 1923 als Fortsetzungsroman erschien und in seiner abrupten, temporeichen Form geradezu wie ein literarisches Echolot der rechten Gewalt wirkt – wenige Tage von Hitlers Novemberputsch. Auch die Verfilmung des Romans mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle des Weltkriegsleutnants Theodor Lohse ist sehenswert. 

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution
Wallstein-Verlag 2022
Gebunden 334 Seiten
ISBN: 978-3-8353-5174-5

Anachronistisches Echo

Es ist ein stilistisches Mittel, um einen inhaltlichen Apsekt massiv zu verstärken, eine Art literarischer Katalysator. Bild mit Canva erstellt.

Der Roman Sand von Wolfgang Herrndorf enthält eine Passage, die auf mich wie ein Echo auf den Mehrfach-Terroranschlag vom 11. September 2001 und die folgenden Jahre wirkt, in denen die USA in ihrem »Krieg gegen den Terror« einen sehr dunklen Pfad beschritten haben: Abu Ghraib, Guantanamo, Geheimgefängnisse etc. Im Roman schlägt sich das nieder – allerdings 1972. Zu dieser Zeit spielt der Roman, fast dreißig Jahre vor 9/11. 

Ein Echo ist normalerweise Folge von etwas. Das muss keineswegs im wörtlichen Sinne sein, nämlich dem Wiederhall eines Lautes an einem bestimmten Ort, zum Beispiel in den Bergen. Der Begriff des Echos wird im übertragenen Sinne verwandt, wenn zum Beispiel in einem Raum jemand spricht und gleichzeitig ein anderer leise dazwischen- oder gegenredet. »Haben wir ein Echo hier im Raum?« Der Bezug ist die zeitliche Folge und der Charakter des sich abschwächenden Tons. Durch die beißend ironische Frage wundervoll herabsetzend und verletzend eingesetzt.

Immer wenn ich Wagner höre, spüre ich den inneren Drang, in Polen einmarschieren zu müssen.

Woody Allen

Das Zitat von Woody Allen ist auch eine Art Echo, das bereits ein anachronistisches Element enthält. Zunächst echot es die Vorliebe der Nationalsozialisten für eine dumpf-deutsche germanisch-tümelnde Auslegung des Ring-Zyklus. Herfried Münkler hat in Die Deutschen und ihre Mythen völlig zurecht darauf hingewiesen, dass die Deutschen sich ausgerechnet einen Nationalmythos angeschafft haben, der im Untergang endet. 1945 wurde aus Mythos Realität.

Da das nationalsozialistische Deutschland tatsächlich in Polen einmarschiert ist, was nicht nur den Beginn des Zweiten Weltkrieges sondern auch eines beispiellosen Vernichtungskrieges markiert, ist das Echo verständlich. Auf eine wunderbar boshafte und zugleich komische Weise nimmt Allen nicht nur die Nazis und ihre verquere Wagner-Vorliebe aufs Korn, sondern weist Wagner-Liebhaber in der Gegenwart auf die dunklen Flecken hin, die an der Rezeption der Musik haften.

Wichtig ist, dass es um die Rezeption der Musik geht, nicht um Wagner selbst. Der war zweifellos Antisemit, umstritten ist, ob sich das in seinem Werk widerspiegelt. Zumindest den Nazis dürfte es nicht schwergefallen sein, das für sie Wünschenswerte herausgehört zu haben. Allerdings kann man dem Schöpfer des Nibelungen-Ring-Zyklus nicht vorwerfen, er hätte in Polen einmarschieren wollen. Polen gab es zu seiner Lebenszeit als Nation nicht, entsprechend war ein Einmarsch im Sinne von 1939 unmöglich.

Wir sind die Good Guys!

Wolfgang Herrndorf: Sand

Der Autor Wolfgang Herrndorf geht einen Schritt weiter. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, das es sich um meine Rezeption des Buches Sand handelt, nicht um eine Intention des Schriftstellers. Diese ist mir unbekannt. Im einer sehr langen, erbarmungslosen Passage wird eine Person von US-Amerikanern und ihren Helfern gefoltert. Herrndorf ist bei dieser Schilderung absolut gnadenlos.

Er spielt mit den Facetten der Folter, lässt die Ausführenden ihrem Opfer sogar darlegen, welche wissenschaftlichen Arbeiten belegen, dass sie sehr wirksam ist. Sie nennen ihr Ziel, Millionen Menschen vor dem Tod (durch Weiterverbreitung von Nuklearwaffen) zu bewahren, also sind sie die »good guys«, ausgestattet mit Werkzeug und moralischer Berechtigung zur Folter.

Erbarmungslos lässt Herrndorf den Leser mit seiner Figur in dieser völlig aussichtslosen Lage leiden – ich will nicht zu viel spoilern, aber die Brutalität wird durch die Unschuld des Gefolterten ins Grenzenlose verstärkt. Die Folterer führen Statistik zu ihrer Rechtfertigung an: In 99 von Hundert Fällen wäre der Gefolterte schuldig, in einem Fall unschuldig, also wäre ihr Handeln auch mathematisch gerechtfertigt.

»Es ist eher hinzunehmen, dass ein Schuldiger freigesprochen, als dass ein Unschuldiger verurteilt wird.«

Voltaire

Das hebelt sämtliche Grundlagen eines Rechtsstaats aus und verkehrt auf zynische Weise Voltaires berühmtes Zitat ins Gegenteil: »Es ist eher hinzunehmen, dass ein Schuldiger freigesprochen, als dass ein Unschuldiger verurteilt wird.« Für die Rettung des Weltfriedens ist jedes Mittel recht, eine Linie, die mich sehr an die Zeit nach 9/11 erinnert hat.

Die Wirkung des »anachronistischen Echos« besteht darin, etwas aus dem gegenwärtigen, gewohnten und leicht als selbstverständlich wahrgenommenen Kontextes in einen anderen zu pressen und die Konturen zu schärfen. Es spielt dabei eine untergeordnete Rolle, ob dieser andere Kontext erfunden oder wirklich ist, wichtig ist die massiv vertärkende Wirkung durch das Echo. Es ist eine Art literarischer Katalysator.

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

Trotz der Schwächen ein lesenswerter Roman, der ein wichtiges, hierzulande oft übersehenes Thema touchiert: Putins Tschetschenienkrieg. Cover Ullstein, Bild mit Canva erstellt.

Stellen wir uns diesen Roman als Landschaft vor, die sich vor unseren Augen ausbreitet. Anders als in der Wirklichkeit sehen wir nicht nur verschiedene Orte, sondern auch unterschiedliche Zeiten. Alles nebeneinander angeordnet, wie ein Flickenteppich. Entlang eines roten Fadens wird der Leser von der Autorin hindurchgeführt, dank der fehlenden Chronologie und wechselnder Erzählhaltungen ein immens abwechslungsreicher Marsch. Ab und zu mogelt sich eine sumpfige oder matschige Stelle dazwischen, die das Vorwärtskommen erschwert.

So habe ich den Roman „Die Katze und der General“ von Nino Haratischwili empfunden, den ich für lesenswert halte, ohne einige Schwächen verschweigen zu wollen. Die Qualität des Erzählens unterliegt beträchtlichen Schwankungen, einige Passagen wirken überladen, redundant und manchmal auch schlichtweg vernachlässigenswert, was den Gesamteindruck etwas trübt. Der Hauptkritikpunkt ist aber der Persönlichkeitstwist, aus dem der „General“ hervorgeht, eine eher ins Reich der Fabel weisende Saulus-Paulus-Blitzwandlung.

Ein großer Wert des Romans liegt in der Perspektive, die dem Leser von der Autorin eröffnet wird. Ferne, vom woken, ichfixierten Westeuropa vergessene oder einfach ignorierte Landstricherücken ins Licht. Tschetschenien, irgendwo im Kaukasus, nur politisch Interessierten als Ort unendlich brutaler Kriege geläufig und noch weniger Personen als Ausgangspunkt allen Unheils, das angeschwollen und die Ukraine mit einem blutigen Vernichtungskrieg überzieht.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurde darauf verwiesen, dass Putin bereits in den 1990er Jahren zum Kriegsverbrecher geworden sei. Was das für die Menschen dort, aber auch für die Soldaten aus Russland bedeutete, was das sinnlose, blutige Gemetzel mit ihnen angerichtet hat, bekommt der Leser zu spüren.

…einfach nur da stehend, staunend, etwas überfordert, aber vor allem verloren und mit dem alles dominierenden Gefühl, fehl am Platz zu sein.

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

Die menschliche Niedertracht, die der Krieg aus der schützenden Hülle namens Zivilisation befreit, wird von Nino Haratischwili vorgeführt. Es sind nicht nur die Politiker, die kommandierenden Generäle und Offiziere, die sich vergehen, es ist nicht nur ihr Krieg. Auch die einfachen Mannschaftsränge bedienen sich. Die Autorin stellt dem gewöhnlichen die Ausnahme entgegen, um das Abscheuliche hervorzuheben.

Doch ist „Die Katze und der General“ ganz erheblich vielschichtiger, was den Roman insgesamt zu einem Leseerlebnis macht. Es geht um Schuld, Sühne, den komplexen, keineswegs vorbestimmten Weg zum Verbrechen und den Versuch, Rache zu nehmen. Schließlich ist es auch ein verwickelter Rachefeldzug, der oberflächlich Unbeteiligte und doch irgendwie Verstrickte in das Dunkel des Unheils hineinzieht.

Was mir ganz besonders gefallen hat, sind einige handelnde Personen. Vor allem diejenigen, die aus Russland nach Tschetschenien gelangen, in diesem ekelhaften Krieg, der Russland bis in die Gegenwart vergiftet hat und half, den Weg in eine erbarmungslose Diktatur zu eröffnen, sind großartig getroffen. Wer glaubt, Diktaturen würden, von einer kleinen Minderheit abgesehen, von ihren Bewohnern abgelehnt, wird eines Besseren belehrt. Wer glaubt, Kriege kennten nur Verlierer, ebenso.

Man vergaß, dass man sich als Rambo gewähnt hatte und die ganz östliche Hemisphäre zum Teufel hatte schicken wollen.

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

Doch geht es keineswegs nur um den Krieg. Haratischwilis Roman gibt den Blick frei auf die Verlorenen inmitten der westlichen Zivilisation, jene, die ohne Zwang den Propaganda-Tropf des Kreml der freien Vielfalt der Medien im Westen vorziehen. Und sie lässt den Leser die Gründe fühlen, jene unendliche Verlorenheit, das Lebensgefühl derjenigen, die aus den Trümmern des Sowjetreiches nach Deutschland gekommen sind.

Das ist kein Alleinstellungsmerkmal des Homo Sowjeticus! Wenn Margot Kässmann etwa über die Ukraine, Russland, Putin und die Nato räsoniert und ohne jede Scham den Vietnam-Krieg und ihre (!) Protestaktionen dagegen ins Feld führt, dann ist das im Kern das Gleiche, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Nach diesem Roman wird man besser verstehen, warum es Autokorsos in Deutschland gibt, die russische Fahnen schwingen; gutheißen wird man es nicht.

Diese Hölle stank zwar weiterhin nach Schwefel, aber immerhin war es ihre Hölle!

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

An manchen Stellen berührt der Roman die Fundamente des Westens. Ein Axiom der westlichen Aufklärer, der Mensch wäre von Grund auf gut, stellt Orlof, der „General“ infrage. Er geht davon aus, der Mensch wäre grundlegend böse, amoralisch und nur absolute Ausnahmen gäbe es, die bereit wären, für ihre Ideale in den Tod zu ziehen. Der Rest sind Opportunisten. In Abwandlung von Goethes berühmten Gedichtanfang: Käuflich sei der Mensch, boshaft und schlecht.

Nino Haratischwili: Die Katze und der General
Ullstein 2022
TB 768 Seiten
ISBN: 9783548066677

Wolfgang Herrndorf: Sand

Ein wilder, brutal-ehrlicher und zielstrebiger »Wüstenroman«, der bar aller Romantisierung den Zufall zum Herrn über Leben und Tod macht. Cover Rowohlt-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Alle Menschen müssen sterben. In der Regel liegt der Zeitpunkt des Todes in einer unbestimmten Zukunft. Es gibt Ausnahmen: Freitod; Hinrichtung; Strafbataillon der Roten Armee oder Wehrmacht; Vernichtungslager; eine tödliche, nicht therapierbare Krankheit, wie ein Glioblastom, an dem der Autor Wolfgang Herrndorf litt; Folter. In diesen Fällen nimmt der gewöhnlich nebulöse Tod eine sehr konkrete Gestalt an.

Es handelt sich um unerbittliche, erbarmungslose Situationen. Sie verheeren denjenigen, der ihnen ausgesetzt ist. Es gibt Literatur, verfasst von jenen, die eine Ausnahme dieser Ausnahmen waren und überlebten, was niemand überleben kann; und es gibt Arbeit und Struktur, einen Blog, der als Buch herausgegeben wurde, in dem Herrndorf die Zeit von der Diagnose bis kurz vor seinem Freitod niederlegt.

Der Roman Sand, den der Schriftsteller seinen »Wüstenroman« nennt, ist zumindest in Teilen während dieser Phase verwirklicht worden. Er stellt in gewisser Hinsicht ein Echo dessen dar, was in Arbeit und Struktur dem Leser entgegentritt. Herrndorf ist sprachmächtig gewesen und hat dort die richtigen Worte und Sätze gefunden, um dem, was ihn bewegte, auf eine Weise Ausdruck zu verleihen, die oft genug wie ein durchdringender Speerstoß wirkt. Und genau so ist auch Sand.

Von jeder Romantik, was »die Wüste« anbelangt, allem Märchenhaften ist das Werk weit entfernt. Diestelig wäre ein schönes Attribut, denn es geht zur Sache, bisweilen blutig und brutal, vor allem aber fern aller Heimeligkeit. Dabei hat Herrndorf wunderbar originelle Einfälle und auf eine messerscharfe Weise offen. Der Mensch und das angeblich unteilbare Menschenrecht werden zu einer Zahl degradiert.

Wichtiger als ein Menschenleben? […] Nichts ist wichtiger als ein Menschenleben. […] Auch wenn es das Leben eines Lügners ist, das Leben eines Schmugglers, eines Idioten und Berufsverbrechers. Jedes Leben ist unbezahlbar, einzigartig und schützenswert – sagt der Jurist. Das Problem ist, wir sind keine Juristen. Wir stehen nicht auf dem Standpunkt, dass man das Leben nicht gegen andere Güter oder andere Leben abwägen kann. Wir sind eher so die Statistikabteilung und Statistikabteilung bedeutet, es besteht eine einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, wie du sagst. […] Es besteht aber auch eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. […] Neunundneunzig Prozent, dass wir hier den Weltfrieden sichern. […] Und nur ein Prozent, dass unser peinliches Verhör einen Rückfall ins Mittelalter darstellt.

Wolfgang Herrndorf: Sand

Nur ein Zitat in der Buchvorstellung diesmal, dafür eines mit Wucht. Ein anachronistisches Echo auf 9/11 und was sich die USA herausgenommen haben, als sich die Menschenrechte doch als teilbar erwiesen. Willkommen in der Wirklichkeit. Denn die wiedergegebenen Worte stammen aus der Romanzeit im Jahr 1972 und könnten eben auch begründen, warum die USA den Weg in die Dunkelheit eingeschlagen haben.

Ein Alptraum, dem der Leser nicht entkommt. Wann immer es scheint, als würde sich endlich etwas zum Guten wenden, dreht und wendet und windet sich alles wieder und die wilde, nicht enden wollende Jagd geht weiter. Erschöpft wie die Hauptfigur, die übrigens keineswegs am Anfang eingeführt wird – ätsch, ihr Schreibratgeber! – taumelt man Seite für Seite voran, die Glieder schwer, der Kopf erschöpft und das Gemüt von schwindender Hoffnung auf ein Happy-End getrübt.

Schon der Weg ins Buch ist verworren. Wer gewöhnlich durch sauber geflieste, geputzte und barrierefreie literarische Flure schreitet, behütet von Triggerwarnungen und austarierter Diversität, und alles darüber hinaus als unerträgliche Zumutung betrachtet, sollte diesen Roman besser meiden. Sand schmerzt. Wer einmal einen Sandsturm erlebt hat, weiß, wie schräg ins Gesicht gefegter Sand sticht. Man muss dazu keine Wüste aufsuchen, ein stürmischer Nachmittag an der dänischen Nordsee reicht. Und so ist dieser Roman.

Langsam und auf verschlungenen Wegen entblättern sich die Hinter- und Abgründe der Figuren in diesem Drama. Herrndorf inszeniert das als wildes, brutales Puzzle scheinbar sinnloser Schnipsel, Fetzen einer gemarterten Erinnerung. Dabei kommt es zu grotesken Begegnungen, etwa mit potenziellen Informanten, mehr oder weniger organisierten Verbrechern, der Staatsmacht und Geheimdiensten.

Wer schon eine Weile lebt und seine Zeit mit Büchern und Filmen gefüllt hat, wird unweigerlich einmal, wahrscheinlich recht oft mit der Situation konfrontiert worden sein, die für die meisten Menschen großen Horror beinhaltet. Jemand will etwas von einer anderen Person und setzt diese unter Druck indem er die Angehörigen bedroht, sei es direkt oder indirekt, durch das Ankündigen von Gewalttaten.

Eine brillante Idee findet sich im fortgeschrittenen Teil des Buches, wenn Herrndorf diese geradezu klassische Szenerie durch die Beigabe einer Zutat namens Amnesie zu etwas Neuem, beunruhigend Spannendem und Verstörendem aufwertet. Was, wenn derjenige, der durch Drohungen gegenüber seinen Verwandten gebeugt werden soll, sich nicht mehr an sie erinnert? Was, wenn die Befrager das nicht wissen können und das Verhalten falsch einschätzen?

Herrndorf hat in seinem »Wüstenroman« das Szenario integriert und gekonnt bis zum Äußersten exekutiert. Es verbietet sich, es hier aufzulösen, ja wie an meinen windigen Formulierungen zu sehen, auch jede Kleinigkeit, die darauf hindeutet, wem es widerfahren wird und was sich daraus entwickelt. Und doch zeigt diese Neuerung, was der leider früh verstorbene Autor für ein literarisches Potenzial mitgebracht hat.

Sand ist ein spektakuläres Buch, voller Verwicklungen, Knoten, die sich nicht lösen lassen, Fäden, die im Nichts zu beginnen scheinen und sich mit anderen verschlingen und wieder in der Luft flattern. Und im Hintergrund schimmert die Zeitgeschichte, wenn etwa abends die Nachrichten im TV gesehen werden und man hört: Olympia. München. Jüdische Sportler. Palästinensisches Volk. 50 Jahre sind vergangen und was hat sich eigentlich geändert?

Wolfgang Herrndorf: Sand
Rowohlt 2013
Taschenbuch 480 Seiten
ISBN: 978-3-499-25864-0

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