Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Zweiter Weltkrieg (Seite 1 von 13)

Neue Lektüre: Deutschland und die Ukraine

Der Titel ist sehr passend und stellt die erstaunliche Diagnose, dass man die flächenmäßig größte Nation Europas »übersehen« kann. Der Mensch ist zu wahrhaftigen Glanztaten fähig.

Am Anfang meiner Beschäftigung mit der Ukraine stand der Action-Film Mission Impossible. Wenn ich mich richtig erinnere, ist an einer Stelle von „Ukrainisch“ die Rede. Ich war damals verdutzt. Ukrainisch? Ist das eine eigene Sprache? Ich dachte, das wäre so etwas wie Bayerisch oder Nordhessisch, eine Mundart. Auch in der Romanreihe von Martin Cruz-Smith um den russischen Polizisten Arkadi Renko ist im fünften Teil von den angeblich geringen Unterschieden zwischen Russisch und Ukrainisch die Rede.

Mittlerweile habe ich mich eines Besseren belehren lassen. Das russische Imperium führte einen regelrechten Sprachkrieg gegen das Ukrainische, die Auslöschung der Ukraine stand und steht ganz oben auf der Agenda. Gen Westen wird Propaganda betrieben, der auch ich erlegen bin. Bücher wie Alles ist teurer als ukrainisches Leben sind ein wunderbares Gegengift. Doch wandelte sich mein Blick auf die Ukraine früher.

Anfang der 2000er Jahre habe ich in einem Atlas oder einer Ausgabe der Le Monde diplomatique eine Karte der Ukraine lange betrachtet, die mir erstmals ein präziseres Bild von dem Land verschaffte. Es ging um Geostrategie, Rohstoffe und Infrastruktur, aus der Karte ging hervor, wie reich die Ukraine eigentlich ist oder sein könnte. Über die problematischen gesellschaftlichen Zustände, aber auch die erste große Welle des Wandels in Gestalt einer »Farben«-Revolution konnte ich in meiner Tageszeitung einiges erfahren.

Trotzdem gingen auch die journalistischen Artikel über die Ukraine immer noch an den Realitäten vorbei. Die Süddeutsche Zeitung, die ich bis 2014 abonniert hatte, war weder in Bezug auf die Ukraine noch auf Putin und seine Machenschaften auf der Höhe der Zeit; sie ist es bis heute nicht. Sie hat keine angemessene Sprache gefunden, die für die Beschreibung der Wirklichkeit geeignet ist. Putin einen „Präsidenten“ zu nennen, weil er sich selbst so bezeichnet, ist eine Unwahrheit, notdürftig kaschiert mit einer angeblichen Neutralität des Beobachters. Trump und Steinmeier werden auch als „Präsident“ bezeichnet, so wahllos verwendet verliert jedes Wort seinen Sinn.

Die angeblich so neutrale Sichtweise hat es sich bequem gemacht in den Floskeln und Formeln russischer Lügen, etwa über die innere Teilung des Landes in einen prowestlichen und prorussischen Teil, deckungsgleich mit der angeblichen Trennung durch „Sprache“; oder dem angeblich »bürgerkriegsähnlichen Konflikt«, mit dem man schlicht die russische Tarnformulierung der aggressiven Intervention übernommen hat. Wer nun auf Trump zeigt, sitzt im Glashaus.

So stellte 2014 einen Bruch dar, auch in meiner Wahrnehmung. Längst hatte mich die Behandlung des Landes durch die deutsche Politik im Merkel-Zeitalter aufgebracht, die Verweigerung der Nato-Mitgliedschaft und der Bau von Nord-Stream 1. Bis heute bin ich fassungslos über Nordstream 2; die Entscheidung für die russische Pipeline trotz des verdeckten Krieges gegen die Ukraine und den Westen war die schwärzeste Stunde der flügellahmen Merkel-Jahre.

Der Titel des Buches Die übersehene Nation von Martin Schulze-Wessel ist sehr gut gewählt. Das bewusste oder unbewusste „Übersehen“ passt perfekt auf die deutsche Ostpolitik, angesichts der Größe der Ukraine zeigt es auch die gewollte Blindheit, an der sich bis zum heutigen Tag zahlreiche deutsche Politiker wie besessen festklammern. Umso besser, dass es Bücher gibt, die sich der Ukraine und ihren Beziehungen zu Deutschland und umgekehrt in den Fokus nehmen.

Neue Lektüre: Fluchtroute Balkan

Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler im Jahr 1933 begann der Exodus aus Deutschland. Viele Künstler, politisch und gewerkschaftlich Engagierte, Wissenschaftler und Personen, die in den Augen der Nazis als Juden galten, verließen das Land. Manche überstürzt, manche zögerlich, manche auch zu spät, um den Häschern zu entkommen. Dank der zielstrebigen Gleichschaltung des Reiches, der brutalen Gewalt und Ausgrenzung sowie der Enttäuschung, Hitler wäre nur ein schnelllebiger Spuk, riss der Strom der Exilanten nicht mehr ab.

Ein hierzulande wenig bekanntes Ziel vieler Fliehender war der Balkan, namentlich Jugoslawien. Manche machten sich zunächst nach Prag (z.B. Stefan Heym) oder Österreich auf, andere gingen direkt nach Jugoslawien. Das Buch Balkan-Odyssee* von Marie-Janine Calic widmet sich ihrem Schicksal und schließt damit eine wichtige Erinnerungslücke, denn diese Fluchtroute fristet ein Schattendasein im historischen Bewusstsein.

Eine Frage ist sicher: warum gerade der Balkan? Viele machten sich nach Westen auf, Frankreich, die Benelux-Staaten, England und die USA, andere nach Osten, in das angebliche Paradies der Werktätigen, das Stalin in eine Hölle auf Erden verwandelte. Wie es ihnen erging, ist nicht nur zuletzt durch Februar 33 und Marseille 1940 von Uwe Wittstock stärker ins Bewusstsein gerückt. Zweifellos spielen Zufälle und Kontakte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, wohin man fliehen würde.

Die zweite wichtige Frage ist, warum so viele so lange brauchten, um sich zu einer Flucht aus Deutschland zu entscheiden. Was diejenigen anbelangt, die von den Nazis als Juden angesehen und behandelt wurden, so sind die Gründe dafür, im Reich zu bleiben, ebenso vielfältig wie widersprüchlich gewesen. Die Zeitgenossen des herannahenden Unheils hätten es für undenkbar erachtet, was später grausame Wirklichkeit wurde.

Wenn der Satz, Hitlers Verbrechen seien unvorstellbar, einen Sinn hat, dann gilt er zuallererst für seine Zeitgenossen.

Uwe Wittstock: Februar 33

Darüber habe ich vor einigen Jahren zwei sehr aufschlussreiche Bücher gelesen, auf die ich hier gern verweisen möchte. Die große Illusion von John von Dippel beschäftigt sich mit den Gründen von Juden, in Deutschland zu bleiben; Der Mut zum Überleben von Marion Kaplan widmet sich insbesondere den jüdischen Frauen, die – tragischerweise – oft klüger waren als ihre Männer und lieber gegangen wären, sich jedoch unterordneten.

Ich danke dem Verlag C.H.Beck für das Rezensionsexemplar

Volker Kutscher: Westend

Der Schlussstein im weitläufigen Gebäude der Romane um den Berliner Polizisten Gereon Rath. Volker Kutscher wählt eine gelungene Form, Kat Menschik liefert stimmungsvolle Illustrationen. Cover Galiani, Bild mit Canva erstellt.

Lesen oder doch lieber nicht? Die Frage war für mich nicht so einfach zu klären, schließlich handelt es sich um einen knappen Folgeband einer umfangreichen und in mancher Hinsicht auch glanzvollen Buchreihe. Die Gefahr einer Enttäuschung oder Entzauberung ließ sich nicht ausschließen. Volker Kutscher hat mit Westend jedoch einen Joker ausgespielt, der über das schnöde Was-ist-mit-diesem-und-jener-passiert hinausgeht. Wer sich für die Schicksale interessiert, bekommt überraschende Antworten, auf eine spezifische Weise, denn am Ende ist eben nichts beendet und keineswegs alles geklärt. Und doch ist Westend tatschächlich Schlussstein der Gereon-Rath-Romane.

Rath, der Schlussband der zehnteiligen Buchreihe um Gereon Rath, hat einige Erzählfäden offengelassen. Mehr noch: Die letzten Seiten des Romans deuten ein außerordentliches Schicksal des Adoptivkindes von Gereon und Charlotte Rath, Friedrich Thormann, an, der in der schwarzen Uniform der SS eine riskante Form der Rache verfolgt. Dabei könnte man es belassen, eine Sequel-Reihe schreiben oder im Rahmen eines illustrierten Nachzöglings eben einige Schicksale im Mahlstrom der Apokalypse des Zweiten Weltkrieges skizzieren.

Volker Kutscher hat sich für letztere Variante entschieden und nach Moabit und Mitte mit Kat Meschik einen dritten Band ergänzend zu seiner Buchreihe verfasst. Westend führt in das Jahr 1973 und wählt eine überraschende Form des Erzählens: ein Interview, das auf Kassetten gespeichert wird. Ein Historiker befragt Rath, der – wie gewohnt nolens volens – Auskunft gibt; auf den ersten beiden Seiten erfährt der Leser von einer weiteren Person, die sich später hinzugesellt – Charlotte Böhm. Damit ist schon eine Menge verraten und ich werde an dieser Stelle nicht noch mehr vom Inhalt offenbaren.

Das waren die amerikanischen und britischen Bomber.

Volker Kutscher: Westend

Das bisher Gesagte ist keine große Hilfe bei der Beantwortung der Frage, ob man zu dem Buch greifen sollte oder nicht. Es gibt sehr gute Gründe, warum in Romanen nicht alles auserzählt wird. Im Falle Gereon Raths habe ich dennoch nach recht kurzer Bedenkzeit die Entscheidung getroffen, das Buch zu lesen. Neben der Neugier, was einige Protagonisten nach dem Ende des Romans Rath erlebten, lag der wichtigste Grund darin, dass eine meine anfängliche Hauptfrage, wie Rath sich im Vernichtungskrieg verhielte, ohnehin offenbleiben würde.

Gereon Rath ist 1899 geboren, Kriegsteilnehmer ohne Fronteinsatz und Polizist in den Jahren der Weimarer Republik. In den Romanen Kutschers tritt er als politisch ahnungsloser Zeitgenosse auf, ist korrupt und ein Meister des Lavierens. Als ich die ersten Romane der Reihe las, ist mir aufgegangen, hier dem Lebensweg eines jener „ganz normalen Männer“ (Browning) zu folgen, die ab 1941 in den berüchtigten Polizeibataillonen hinter der vorrückenden Wehrmacht auf dem Gebiet der “Bloodlands“ (Snyder) Millionen Juden erschossen. Ich war gespannt, wie der begnadete Lavierer in dieser totalen Situation reagieren würde.

Volker Kutscher hat seiner Romanfigur dieses Schicksal erspart. 1936 sollte die Buchreihe eigentlich enden, nach Olympia folgten noch zwei weitere Teile. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war; Brüche waren schwer vermeidlich. Der Ausweg, den Berliner Teil der Erzählung auf die Schultern von Charlotte Rath zu legen, funktioniert, hatte aber den Nachteil, dass der Fokus von der ursprünglichen Hauptfigur abrückt. Das gilt nicht umsonst als schwierig, aus guten Gründen, wie die Romane Transatlantik und Rath zeigen. Die größte Stärke der Reihe, die Atmosphäre, prägt auch die beiden Schlussbände.

Das sollte nicht als verkappte Kritik verstanden werden, die beiden Schlussteile der Buchreihe sind und bleiben sehr gute Romane; sie erzählen mehr, als ursprünglich gedacht war, zugleich bleibt das, was mich ganz besonders interessierte, offen. Das war letztlich ausschlaggebend, mich für die Lektüre von Westend zu entscheiden. Hinzu kommt noch die Verfilmung der ersten Bände der Buchreihe, Babylon Berlin scheitert auf grelle Weise beim Versuch, die Romane zu übertrumpfen, indem es überzieht und in schwurbelndes Raunen abdriftet. Zugleich verweigert die Film-Serie den Schritt in die Nazizeit, lässt also noch mehr offen als die Buchvorlage. Die Geschichte von Gereon Rath ist also in meiner Rezeption auch noch multimedial verzerrt. Was kann da schon bei einem Epilog aus der Feder des Autors schiefgehen?

Ich weiß nicht, was du willst, Gereon Rath. Das, was du willst, und das, was du anrichtest, das waren schon immer zwei paar Schuhe.

Volker Kutscher: Westend

Die Lektüre von Westend macht großen Spaß, was nicht zuletzt an den stimmungsvollen und den Geist der 1970er Jahre atmenden Illustrationen von Kat Meschik liegt. Es gibt einige Kostbarkeiten zu entdecken, eine Reminiszenz für die Zeitgenossen, ein Museums-Oha für die Nachgeborenen. Es ist begrüßenswert, dass Kutscher die Form des Interviews bzw. Dialogs gewählt hat, auch in der Form ist der Bruch mit den Romanen vollzogen – aber eben nur in der Form. Gereon Rath jedenfalls handelt so, wie man ihn in den Romanen kennengelernt hat, mit den bekannten Folgen.

Inhaltlich hat es Westend in sich, es geht nicht zuletzt um das Erinnern, den verlogenen Mythos der Stunde Null, Lügen privater und staatlicher Natur, zwischen denen der Einzelne zerrieben wird oder aber trotz aller Schuld davonkommt. Das Leben ist nicht gerecht. Es scheint nur vorgezeichnet, insbesondere in Zeiten dramatischer Umbrüche geraten die Lebenswege rasch zu Achterbahnen, auf deren Lauf der Einzelne nur wenig oder gar keinen Einfluss hat. Für die Gegenwart des Lesers ist das wie eine Art Spiegel, denn die Brüche haben seit 2014 epochalen Charakter. Es ist daher vielleicht auch mehr als ein Zufall, dass die zehn Romanbände Volker Kutschers von einem anderen fundamentalen Bruch erzählen. Westend bildet in diesem Sinne tatsächlich einen gelungenen Schlussstein.

Rezensionsexemplar, für das ich mich gern beim Galiani Verlag bedanke.

Volker Kutscher: Westend
Illustriert von Kat Meschik
Galiani Berlin 2025
Gebunden 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-323-6

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Was für eine Drohung. Sie kommt für den Ich-Erzähler ebenso überraschend wie für den Leser. Sie erscheint im ersten Moment seltsam, gemessen am Anlass und dem Erzählstil, doch ist Erinnern und Erinnertwerden nicht immer erwünscht. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Ich verstoße dich, hörst du.

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Wenn diese Worte gesagt werden, ist die Handlung des Romans Der Junge im Taxi schon so weit vorangeschritten, dass sie eine ganz besondere Wucht entfalten. Jemanden zu verstoßen ist keine leichtfertige Drohung. Ob im familiären oder gesellschaftlichen Kontext beinhaltet sie eine gefährliche Implikation: Wer sein soziales Netz verliert, könnte daran zugrunde gehen. Es liegt etwas Archaisches in diesen Worten.

Imma, die Großmutter des Ich-Erzählers Simon, schleudert diese Worte ihrem Enkel direkt ins Gesicht. Eiskalt ist die Stimme der über neunzig Jahre alten Frau, die erst vor einem Monat zur Witwe wurde und seit dem Tode ihres Mannes Malusci wieder auflebt. In dieser Situation aber brüllt sie ihn an, empört sich, überschüttet ihn mit Zorn und schließt diese Zusammenkunft mit einer Drohung ab, um Simon zu einem Versprechen zu zwingen.

Die geradezu brutale Wucht hebt sich von allem ab, was bis dahin erzählt wird. Im ersten Moment wirkt es geradezu deplatziert, es will weder zu der Person Imma passen noch zu dem Erzählstil des Romans. Sylvain Prudhomme lässt seinen Erzähler sehr genau hinsehen, Details schildern und assoziativ auslegen. In dieses feine Erzählgespinst haut dieser Satz wie ein Kriegshammer.

Perplex ist nicht nur Simon, der sich – zunächst – fügt. Doch passt der Ausbruch zu dem, was sich zeitlich Jahrzehnte vor diesem Moment abgespielt hat, ein wahrhaftiges Verstoßen, das Imma nicht wieder aufrühren, sondern im Vergessen beerdigen will. Da zwicken vermutlich ein schambehaftetes Schuldgefühl und persönliche Verletzungen, es gibt eine Leerstelle für die unwissenden Nachgeborenen, die leer bleiben soll.

In der Leerstelle ruht nämlich M., Sohn Maluscis mit einer Deutschen, mit der er ein Verhältnis hatte, während er als französischer Besatzungssoldat in der Nähe des Bodensees stationiert war. Simon weiß davon nichts, er erfährt es von (»nennen wir ihn«) Franz, dem Mann Julies, ein Onkel also, ausgerechnet auf der Beerdigungsfeier Maluscis. Franz spielt mit dem Gedanken, es öffentlich zu machen, am Sarg den unehelichen Sohn des Verstorbenen aus dem Schatten des Verschweigens zu holen. Er erzählt es stattdessen Simon.

M. der deutsche Sohn von Malusci du weißt doch dass dein Großvater in Deutschland einen Sohn gezeugt hat damals als er am Bodensee Besatzungssoldat war einen Sohn mit einer Deutschen die ein paar Wochen lang gekannt hat das wusstest du doch oder

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Dieses Kapitel ist dicht erzählt, dabei reflektierend, schonend in einer fast schon skrupulösen Zurückhaltung gefasst, nur an manchen Stellen wird zugespitzt formuliert. Die innere Auflösung Simons durch Franz’ Eröffnung spiegelt sich in der Auflösung der Zeichensetzung. Das Zitat zeigt das sehr schön, die Worte stehen in einem von allen ordnenden Zeichen freien Raum. Simons Welt gerät im Kleinen aus den Fugen.

Natürlich ist seine Neugier geweckt. Warum wurde M. so beharrlich verschwiegen? Prudhomme lässt seinen Erzähler über das Schweigen nachdenken, die Überlegungen gehören für mich zu den Glanzstücken des Romans. Eine Art »Faulheit« und Bequemlichkeit verhindert, die unangenehmen Dinge anzureißen, um den äußerlichen Familienfrieden bei gemeinsamen Essen oder anderen Begegnungen zu wahren.

Dahinter verbergen sich grundsätzliche Fragen. Ist Erinnern per se gut, auch wenn es Unfrieden stiftet? Ist Verschweigen, um Frieden zu wahren, nichts anderes als (feige) Verleugnung. Die Formulierungen erinnern an die Verweigerung hierzulande, sich den Gräueltaten während des Zweiten Weltkrieges zu stellen. Als deutscher Leser kann man gar nicht anders, als an die (zu) viel gerühmte »Erinnerungskultur« zu denken.

Der Junge im Taxi widmet sich einem prekären Thema. Mehr als 400.000 Kinder wurden von alliierten Soldaten mit deutschen Frauen gezeugt, heißt es an einer Stelle im Roman. Ich weiß nicht, ob diese Zahl auch die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee einschließt, unabhängig davon ist die Stigmatisierung als »Bastard« eines fremden Soldaten in jedem einzelnen Schicksal vorgezeichnet.

Trotz seines Versprechens gegenüber Imma begibt sich Simon auf die Suche nach Spuren. Da der Roman weder Detektiv- noch Ermittlungserzählung sein will, mäandert diese Suche durch einen Alltag, der von Simons Trennung von A. und den damit verbundenen Widrigkeiten geprägt ist. An manchen Stellen scheint das Thema regelrecht hinter dem Gewöhnlichen zu verschwinden. Doch das ist ebenso nahe an der Wirklichkeit, wie der Umstand, dass eben nicht alles aufgedeckt werden kann (und muss).

Danke an den Unionsverlag für das Rezensionsexemplar.

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Unionsverlag 2025
Gebunden 192 Seiten
ISBN: 9783293006324

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Was wäre, wenn Hitlerdeutschland den Krieg gewonnen hätte? Unter den Romanen, die sich mit diesem dystopischen Szenario einer alternativen Geschichte befassen, ragt dieser heraus. Der Autor konfrontiert den Leser mit einer vielschichtigen Erzählung, die mich begeistert. Cover Fischer-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Noch immer bin ich unentschieden, ob mir der englische Original-Titel The man in the High Castle oder die deutsche Übersetzung Das Orakel vom Berge besser gefällt. Philip K. Dicks Roman enthält beide Motive, die englische Version klingt martialischer, weckt Erwartungen beim Leser, mit denen der Autor ganz wunderbar spielt. Kein Wunder, dass die Verfilmung auch in Deutschland bei dieser Version bleibt.

Der deutsche Titel betont das Mysteriöse und Orakel haben eine bedeutende Rolle im Verlauf der Handlung: Viele Personen des Romans befragen das Orakel und versuchen, die Ergebnisse auf ihre aktuelle Situation zu beziehen. Keineswegs nur die japanischen Herren der amerikanischen Ostküsten, auch die weißen Amerikaner selbst. Ob Orakel auch im deutsch besetzten Teil der Ostküste Verwendung finden, ist zweifelhaft.

Bitte was? Japaner und Deutsche beherrschen die USA? Philip K. Dick hat einen Roman verfasst, in dem die Geschichte eine andere Wendung genommen hat. In dieser alternativen Welt haben das Dritte Reich und Nippon den Zweiten Weltkrieg gewonnen, von einem neutralen Teil in der Mitte der USA abgesehen, ist das Land wie eigentlich die gesamte Welt von den Siegern unterworfen worden.

Jedenfalls hatte es zweihundert Jahre gedauert, die amerikanischen Eingeborenen zu beseitigen, und Deutschland hatte es in Afrika beinahe in fünfzehn Jahren geschafft. Kritik war daher  nicht angebracht.

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Die Welt, in der die Leser des Romans eintauchen, ist nichts für schwache Nerven, wie das Zitat zeigt. Der militärische Sieg hat dem rassistischen Völkermordprogramm der Nazis den Weg freigemacht, nicht nur Juden und die im Osten Europas lebenden Menschen wurden ausgelöscht oder unterjocht, auch in Afrika gehen nur noch die »Geister ausgelöschter Stämme«.

Ein gravierender Unterschied zu den Japanern, wie einige der Amerikaner im Roman immer wieder betonen. Bisweilen werden die asiatischen wie ihre mitteleuropäischen Weltbeherrscher recht klischeehaft in ihren charakteristischen Eigenheiten gezeichnet; doch sind Holocaust, Genozid, Gaskammern bei den Japanern undenkbar.

Neben diesen Unterschieden gibt es noch einen gigantischen Technologievorsprung der Deutschen. Sie allein haben Atomwaffen, sie haben es zum Mond und Mars geschafft und kolonisieren nicht nur die entvölkerten Gebiete der Erde, sondern auch noch das Weltall. Woher die Menschen dafür kommen sollen, bleibt offen. Jedenfalls herrscht ein beträchtliches Ungleichgewicht zwischen Japan und Deutschland, technologisch und ideologisch.

Angenommen die Nazis zerstörten am Ende alles? Lassen sie bloß verstrahlte Asche übrig? Fähig dazu wären sie, schließlich haben sie die Wasserstoffbombe. Und zuzutrauen wäre es ihnen auch; ihr Denken neigt zur Götterdämmerung. Nicht auszuschließen dass sie sich im Grunde ihres Herzens nach dem allgemeinen Holocaust sehnen, ja, ihn sogar aktiv anstreben.

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Wer sich diese Gedanken macht, wird hier nicht verraten. Das Zitat zeigt, dass die Andeutungen und Hinweise vergangener Massenmorde durch die Nazis nicht grundlos eingestreut waren; das ist der Kern nationalsozialistischer Herrschaftsphantasien. Auch nach ihrem Sieg würden sie ihre ideologischen Denkmechanismen nicht einfach abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut.

Eine faszinierende Stelle, die deutlich macht, wie sehr Das Orakel vom Berge Literatur und keine reine Unterhaltung ist. Der Hinweis auf die Götterdämmerung ist brillant, Jahrzehnte nach Philip K. Dick hat ihn der bekannte Politologe Herfried Münkler in seinem Buch Die Deutschen und ihre Mythen ausführlich behandelt: Ausgerechnet ein Untergang, einschließlich der Selbstvernichtung bildete das mythologische Fundament der Deutschen.

Der Moment, in dem derlei auf der Tagesordnung steht, ist denkbar kritisch: Autoritäre Systeme haben traditionell ein Problem mit der Machtübertragung, wenn ein Herrscher stirbt. Die internen Machtblöcke geraten dann in Bewegung und kämpfen miteinander um die Macht. So auch im Roman, in dem Martin Bormann das Zeitliche segnet und Partei, Wehrmacht, SS und Geheimdienst um die Macht kämpfen. Wem soll man die Daumen drücken?

Das Böse dachte Tagomi. Ja, das stimmt. Und wir sollen ihm helfen, seine Macht zu stärken, um unser Leben zu retten? Ist dies das Paradoxon unseres irdischen Daseins?

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Wie das Zitat zeigt, ist die Frage nicht so einfach zu beantworten. Das ist eine der aus meiner Sicht brillanten erzählerischen Volten Philip K. Dicks. Das Böse ist recht klar verortet; doch selbst im Nazi-Reich gibt es Schattierungen und doch stehen Zeitgenossen vor der Frage, wem sie – falls möglich – Schützenhilfe leisten sollten, um der Vernichtung zu entgehen. 

Natürlich stellt sich auch die Frage, wie das herrschende System des Bösen überwunden werden könnte. Ab einem gewissen Grad scheint das nur von innen heraus zu gehen, nicht um sonst sind die meisten Attentate auf den realen Hitler nach 1939 aus dem Militär, einen zentralen Teil des Herrschaftssystems, unternommen worden. Die handelnden Figuren, unterworfene Amerikaner oder auch Japaner, stehen außen vor. Oder?

Hier drücke ich mich vor einer Antwort. Stattdessen noch der Hinweis auf Die Plage der Heuschrecke, einem Roman im Roman, der die alternative Geschichte erzählt, nach der Japan und Deutschland den Krieg verloren hätten. Philip K. Dick greift auch hier zu einem funkelnden Erzählkniff, indem er das dort Erzählte vom Historischen abweichen lässt (etwa die zusätzlichen Amtszeiten Roosevelts). Wenig verwunderlich ist der Roman bei den Deutschen verboten, sie fürchten ein Buch, seine Aussage.

Wir können nur dadurch auf den Ausgang Einfluss nehmen dass wir uns immer wieder neu entscheiden.

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge

Das verweist auf einen wichtigen Punkt: Geschichte ist immer offen, wirkt nur in der Rückschau vorgezeichnet. Wie das Zitat zeigt, gibt es vielleicht doch Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, ein Mutmacher in mutlosen Zeiten. Auf eine spezielle Weise, Schritt für Schritt, ein zäher, langfristiger Prozess. Es sind diese Motive, die mich bei der Lektüre von Das Orakel vom Berge begeistert haben. In dieser Konsequenz ist der Roman für mich bislang einmalig.

Der Roman ist Teil meines Lesevorhabens 12 für 2025.

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge
Aus dem amerikanischen Englisch von Norbert Stöbe
Fischer Verlag 2014
Taschenbuch 272 Seiten
ISBN: 978-3-596-90562-1

« Ältere Beiträge

© 2025 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner