Dem Roman Im Frühling sterben von Ralf Rothmann stand ich vor der Lektüre skeptisch gegenüber. Das lag an einer Lesung des Autors beim Göttinger Literaturherbst 2023, bei er Passagen aus Theorie des Regens vorgetrug. Trotz des vielversprechenden Titels haben mir die gelesenen Teile des Buches nicht besonders zugesagt, weder inhaltlich noch sprachlich. Nach der Lesung habe ich Autor Rothmann zunächst einmal in die Kategorie nicht lesenswert einsortiert.
Trotzdem habe ich nun die Lektüre seines Romans in Angriff genommen, was weniger an einigen positiven Besprechungen auf Literatur-Blogs lag, als an der schnöden Tatsache, dass ich das Buch bereits im Regal stehen hatte. Vor allem aber wegen des Themas: Erzählt wird die Geschichte von Walter, einem einfachen Melker, der im Frühling 1945 zur Waffen-SS zwangsgezogen wird und auf dem Balkan in die Blutmühle des untergehenden Hitlerreiches gerät.
Mit Rothmann als Autor bin ich nach der Lektüre von Im Frühling sterben wieder versöhnt. Der Kriegsroman hat große Stärken, die Sprache steht – wie Autor und Leser als Nicht-Zeitzeuge und erst recht nicht erlebender Augenzeuge – dem Sujet angemessen distanziert, direkt, nüchtern und frei von pathetischem oder gar belehrendem Palaver entgegen. Bei mir blieben einige Szenen unauslöschlich haften.
Zwei Hitlerjungen in einem Nachschubflieger, der beim Landeanflug von einem sowjetischen Flugzeug attackiert und abgeschossen wird. Aus der Sicht Walters wird das Geschehen ebenso knapp wie eindrücklich beschrieben, die Bilder entstehen im Kopf des Lesers. Bei diesem Beispiel wie bei Dutzenden anderen in diesem Buch, am Ende steht ein Panorama des Schreckens, ohne belehrende Nötigung durch den Autor.
Das hat mich enorm beeindruckt und ist eine der großen Qualitäten des Romans. Gelungen finde ich auch den Umgang mit dem Thema »Waffen-SS«, angefangen von der Blut-Gruppen-Tätowierung und ihre bisweilen dramatischen Folgen trotz zwangsweiser Rekrutierung bis hin zum ersten Hinweis auf die spätere Instrumentalisierung, um die Schuld der Kriegsverbrechen auf eine möglichst kleine Gruppe Deutscher zu reduzieren.
Die Zuspitzung der Dramatik durch die sich früh und allzu offen ankündigende Fahnenflucht von Walters Freund Friedrich und seine Erschießung wirken ein wenig aufgesetzt und unnötig im allgemeinen Untergang. Immerhin gelingt es Rothmann, die Szene zu motivieren und mit angemessenen Worten zu schildern. Trotzdem sticht das aus dem insgesamt sehr guten Roman eher negativ heraus.
Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Das Bild, das der ehemalige Angehörige der SS abgibt, unterscheidet sich sehr von der Person, die mir in Romanen bzw. Graphic Novels begegnet ist.
Das Foto zeigt Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Das ist jener Eichmann, von dem Hannah Arendt berichtet, jene Gestalt, die in der Regel mit der »Banalität des Bösen« in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich wirkt Eichmann eher wie ein Staubsaugervertreter oder Handelsreisender in Sachen Versicherung.
Ganz anders bei Guez, der über Eichmann (aus der Sicht von Josef Mengele) im argentinischen Exil berichtet. Ein Star, der Autogramme gibt und großsprecherisch auftritt, seinen »Rang« im so genannten »Dritten Reich« wie eine Monstranz vor sich herträgt und von einem Comeback in einem »Vierten Reich« schwadroniert. Mit dem Bild, das die »Banalität des Bösen« assoziiert, passt das nicht mehr ganz zusammen.
Das gilt noch mehr für jenen Eichmann, der bei Pflüger in Richie Girl dem Leser entgegentritt. Der Autor hat in einem Nachwort zu seinem Roman die Gestaltung dieser Figur noch einmal aufgegriffen und explizit auf Ahrendt verwiesen: Von deren Vorstellung wollte er »seinen« Eichmann abheben. Das ist gelungen, Pflügers Eichmann ist eine dämonische, selbstsichere und eiskalte Figur.
Bei der Lektüre von Thomas Meyers biographischem Abriss über Hannah Arendtmusste ich wieder daran denken, wie unterschiedlich die Sicht auf einen Menschen sein kann. Im Falle Arendt hat ihr spezifischer Zugang zu dramatisch zu nennender Kritik und Anfeindungen geführt. Die Aufregung von damals glüht bis in die Gegenwart nach.
Umstritten wie kein anderes Buch von Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Die sprichwörtliche »Banalität des Bösen« ist von vielen Seiten kritisiert worden. Das schmale Buch von Thomas Meyer widmet sich vor allem den Werken Arendts, ihrem Leben und der Rezeption.
Bald ist es ein halbes Jahrhundert her, dass Hannah Arendt im Alter von 69 Jahren verstarb. Seit 1975 ist derart Epochemachendes, Disruptives und Weltumstürzendes geschehen, dass die Feststellung von Thomas Meyer wundert, Werk und Denken Arendts werde bis in die Gegenwart zitiert und zu Analysen herangezogen. War sie also am Ende eine zeitlose oder zumindest nicht auf das zwanzigste Jahrhundert beschränkte Denkerin, wie der Untertitel nahelegt?
Die Frage lässt sich nach der Lektüre des schmalen Büchleins über Arendt ebensowenig beantworten, wie die, was eigentlich jener zum geflügelten Wort gewordene Untertitel „Banalität des Bösen“ genau meint. Dazu ist – eigentlich keine Überraschung – das Studium der Werke Arendts nötig. Auch das, was die zahllosen Kritikerinnen und Kritiker geäußert haben, muss gelesen werden, um die Basis für eine Einschätzung zu legen. Den Anspruch hat ein Buch diesen Umfangs nicht.
Thomas Meyer bringt seinen Lesern den Lebensweg und die dabei entstandenen Werke Hannah Arendts näher. Dramatische Umstände, wie die Internierung in Frankreich und der Flucht vor dem Zugriff der Gestapo werden nur in einem knappen Absatz geschildert – mir ist das durch die schöne Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein vertraut. Meyers Fokus liegt auf den Werken. Diese sind oft eng verknüpft mit dem, was die Autorin als Zeitgenossin aktiv miterlebte: Verfolgung, Flucht, Exil, Rückkehr, der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem.
Der Name, der immer mit Hannah Arendt verbunden sein wird, ist Martin Heidegger. Recht typisch für eine untergründige, oft auch offene Frauenfeindlichkeit ist, dass in der Diskussion über Arendt immer wieder auf die intime Beziehung zwischen Lehrendem und Schülerin angespielt wird. Umgekehrt spielt das bei der Einschätzung von Heidegger keine oder nur eine untergeordnete Rolle.
Dabei ist das intellektuelle und persönliche Verhältnis durchaus ein interessantes Thema, wie Meyer zeigt, denn Arendt hat nach 1945 keine eindeutige Haltung zu Heidegger eingenommen. Das mag in der Gegenwart, in der Haltung zeigen oft eine größere Rolle als inhaltliche Stichhaltigkeit zugesprochen wird, noch mehr verwundern und Kritik herausfordern.
Man kann sagen, dass Arendts ganzes Denken ihrer bewussten Zeitgenossenschaft entstammt.
Thomas Meyer: Hannah Arendt
Während der Lektüre von Hannah Arendt wird klar, wie vielfältig (und unbekannt) das Werk der Denkerin ist. Weber schildert die Entwicklung von Person und Denken parallel zu den Veröffentlichungen. Der Liebesbegriff bei Augustinus steht am Anfang und ist insofern bezeichnend, dass eine wiederkehrende Kritik an Arendt ihre vorgebliche Fokussierung auf die Antike beinhaltet.
Arendts nächstes Werk war eine Biographie zu Rahel Varnhagen. Während der Arbeit entwickelte sich die Autorin nach eigener Einschätzung zu einem „jüdisch-politisch denkenden Menschen“. Bemerkenswert ist, dass sie Juden als aktiv „Handelnde“ in der Geschichte und nicht bloße Opfer betrachtet.
In diese Zeit fällt auch die Genese des spezifischen Tons von Hannah Arendt, der von einer spektakulär empfundenen Kompromisslosigkeit geprägt ist. Ihre Kritiker sahen das als „abfällig“ und „lieblos“, die Zitate zeigen eine beeindruckend gradlinige Ausdrucksweise. Die Autorin nahm an der Biographie, die kurz vor der Machtübergabe an Hitler fertiggestellt wurde, nach dem Krieg keine Änderungen vor.
Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit dem zentralen und bekanntesten Werk Arendts: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Wie bei den anderen, noch folgenden (Vita activa, Über die Revolution, Eichmann in Jerusalem, Macht und Gewalt) bietet Thomas Meyers Buch einen kurzen Abriss über den Inhalt sowie die Rezeption. Es ist ein naturgemäß flüchtiges Kennenlernen, wie eine Art kommentierter Fahrplan, der einen Eindruck gibt und zum Selbstlesen animiert.
Mag sein, dass Arendt Analyse heute „völlig falsch“ erscheint, so wäre das Gegenteil angesichts der mittlerweile zu einem Gebirge angewachsenen Fachliteratur zu dem Thema auch ein Wunder. Meyer sieht in Arendt eine Wegbereiterin für die Forschungen auf dem Gebiet in den folgenden Jahrzehnten.
Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen stellt sich ohnehin die Frage, ob Naserümpfen wirklich angebracht ist, denn auch die „richtigen“ Erkenntnisse scheinen wenig geholfen zu haben, der Rückkehr des Totalitarismus einen Riegel vorzuschieben. Denn Ausschwitz und die Shoah waren einmalig, aber:
Was geschehen ist, hat die Menschheit insgesamt verändert, als Riss oder Zivilisationsbruch. Die Verbrechen leben als Möglichkeit fort.
Thomas Meyer: Hannah Arendt
Das Zitat ist ein ebenso schönes wie beunruhigendes Beispiel dafür, wie anregend die Lektüre von Thomas Meyers Hannah Arendt ist.
Rezensionsexemplar
Thomas Meyer: Hannah Arendt Die Denkerin des 20. Jahrhunderts C.H.Beck 2025 Taschenbuch 128 Seiten ISBN: 978-3-40683083-9
Die letzten Wochen des so genannten »Dritten Reichs« waren ein apokalyptisches Gemetzel. Nicht nur an den Fronten wurde gestorben, sondern auch in den bombadierten Städten, den Vernichtungs-Lagern und auf den Landstraßen bei Todesmärschen. Bildgewaltig erzählt die Graphic Novel vom blutigen Aberwitz des Untergangs. Cover Knesebeck, Bild mit Canva erstellt.
Träfe eine Bombe diesen Zug, würde das drei Millionen Leben retten.
Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers
Auf der ersten Seite der Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers steht ein spektakulärer Gedanke: Eine Bombe auf Hitlers Zug würde drei Millionen Menschen das Leben retten. Es ist 15. Januar 1945, Hitler befindet sich auf dem Weg von der Westfront nach Bayern. Doch zertrümmert der Großangriff der Roten Armee seit dem 13. Januar die deutsche Ostfront.
Hitler fährt also in jenem Zug nach Berlin, wo er erst gut drei Monate später Selbstmord begeht. Ein Bombentreffer hätte seinen Tod früher herbeigeführt. Das im Zitat angestellte Gedankenexperiment wird manchmal auch bei den Attentaten auf Hitler, etwa am 20. Juli 1944 (Stauffenberg) oder dem 8./9. November 1939 (Elser) angestellt.
Stimmt es denn, dass drei Millionen Leben gerettet worden wären? Die Zukunft ist immer offen und niemand kann genau sagen, was nach dem plötzlichen Tod Hitlers geschehen wäre. Man sollte sich jedenfalls davor hüten, den Krieg allein auf diese eine Person oder auch nur die NS-Elite zu reduzieren, der Wille den Krieg (weiter-) zu führen, war weit verbreitet. Das zeigt auch die Graphic Novel, denn immer wieder werden Untaten begangen, ausgeführt und getan, bei denen kein »Befehlsnotstand« herrschte.
Insofern wäre der Krieg möglicherweise nicht so viel schneller und erst recht nicht unblutiger zu Ende gegangen. Bestenfalls hätten die Armeen im Westen und Italien den Widerstand eingestellt oder den Alliierten den Weg ins Reich geöffnet; im Osten wäre eine zusammenbrechende Front wohl einem Blutbad an Soldaten und Zivilisten gleichgekommen, wie es auch in der historischen Realität der Fall war. Gestorben sind in diesem Zeitraum jedenfalls sehr viel mehr als drei Millionen Menschen.
Allein die Wehrmacht hatte rund 1,2 Millionen blutige Verluste zu beklagen . Auf sowjetischer Seite dürfte die Zahl der Toten mindestens in ähnlicher Größenordnung gelegen haben, hinzu kommen noch Millionen Zivilisten, Flüchtlinge, (Kriegs-)Gefangene und Lagerinsassen. Das Gedankenspiel ist dennoch sinnvoll, denn es führt dem Leser vor Augen, wie ungeheuerlich diese recht kurze Zeitspanne von Mitte Januar bis Ende April 1945 war. Der Tod wütete ungehemmt. Die allermeisten Dinge, die im Kreis um Hitler und von ihm selbst besprochen wurden, erscheinen aberwitzig.
Ich erinnere mich noch an den Hungerwinter von 1917. So hat die Revolution begonnen … Kein Sorge. Dieses Mal wird es keine Revolution geben. Und warum nicht? Weil hier bald nur noch Ruinen stehen … in Ruinen denkt niemand an Revolution, man denkt nur ans Überleben.
Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers
Die Graphic Novel lebt vom Kontrast, der bisweilen überwältigt. Hitlers Schwadronieren in der realitätsfernen Welt seines Hauptquartiers wird als unmenschliches Geschwätz entlarvt, wenn lange Bildsequenzen über die Realität in der Außenwelt folgen: harsche Frontimpressionen; von fliegenden Standgerichten verhängte Todesstrafen gegen Soldaten; Bilder von Luftangriffen, die direkt aus der Hölle zu kommen scheinen; das Wüten der SS gegen Zivilisten, Lagerinsassen und Deserteure; irrsinnige »Verhandlungen« mit ausländischen Diplomaten; Flüchtlingskolonnen.
Dann gibt es aber auch Szenen, die zeigen, wie weit die Verrohung und ideologische Indoktrination in die Bevölkerung hineinreicht. Eine aufgegriffene Jüdin, die einem Todesmarsch entkommen konnte, wird von Jugendlichen totgeprügelt. Ärzte töten – ohne Befehl – psychisch Kranke, als die Front heranrückt. Die Auswahl und Gestaltung der Bilder zeigt die Totalität des Kriegsgeschehens, das von Historikern als »Krieg führen bis fünf nach Zwölf« treffend beschrieben wird. Zugleich gab es aber auch für den Einzelnen Spielräume, die auch für brutalste Gewalttaten genutzt wurden.
Welche Armeen meint er? Ja, genau das ist das Problem. Welche Armeen meint er?
Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers
Wer sich einem monströsen Thema wie der apokalyptischen Agonie des Hitlerregimes befasst, muss auswählen, muss ungeheuer viel mehr weglassen als in ein Buch gleich welchen Umfanges hineinpasst. Das ist außerordentlich gut gelungen, die Dichte der Bild-Erzählung ist beeindruckend und auch die verkürzte Gestaltung lobenswert. Wenn in einem Bild ein Zug Königstiger zum Angriff antritt und den Eindruck einer noch immer bedrohlichen Wehrmacht vermittelt, zeigt ein späteres Bild von einem Schlachtfeld, wie sämtliche deutschen Gegenangriffe in Blut ertranken. Das eine sind die Propaganda-Bilder, das andere die Bilder, die tunlichst weggelassen wurden.
Durch Kontraste dieser Art entwickelt die Graphic Novel eine große Wucht. Die Erzählung des »Untergangs« vermittelt dem Leser die völlige Hilflosigkeit des Einzelnen in diesem Mahlstrom der Vernichtung, Leben oder Tod hingen an Zufällen. Die Partisanen-Aktion »Werwolf« spielte faktisch keine Rolle über den psychologischen Effekt hinaus. Es ist trotzdem wichtig, dass in diesem Band ein, zwei Beispiele aufgeführt werden. Für das einzelne Opfer war der Tod auf der Schwelle zum Kriegsende mehr als tragisch, zugleich unterstreicht das, wie wenig der Vernichtungskrieg nur Hitlers Krieg war.
Wenn es neben einzelnen Fehlern (an einer Stelle ist von Goebbels statt Göring die Rede) etwas zu bemäkeln gäbe, dann das Schweigen über die unmenschliche Behandlung der deutschen Zivilbevölkerung durch die Soldaten der Roten Armee. Die sexuelle Gewalt an Frauen lässt sich nicht einmal mit dem Begriff der Massenvergewaltigung angemessen beschreiben, die wahllosen Tötungen, umfangreichen mutwilligen Zerstörungen, Plünderungen und Deportationen hätten ihren Platz finden sollen. Etwa anstelle des Todes von Hermann Fegelein. Hier fehlen leider ein, zwei Bilder zu dessen barbarischen Handlungen im Ostfeldzug. Der Untergang kam nicht aus heiterem Himmel, ihm ging ein Vernichtungskrieg voraus, der keine der genannten Gewalttaten rechtfertigt, aber einordnet.
Im Nachwort von Robert Lüdecke von der Amadeu Antonio Stiftung wird die Bedeutung der Erinnerungskultur beschworen. Es ist völlig richtig, dass Angriffe der Rechten in Form von Verharmlosungen, Relativierungen abgewehrt werden müssen. Die Verpflichtung zum richtigen Erinnern und den nötigen Schlussfolgerungen gilt jedoch auch für andere. Die Gaspipelines Nordstream 1+2 etwa wurden gegen den Willen osteuropäischer Verbündeter (und Opfern von Hitlers Vernichtungskrieg) errichtet, begleitet von einem unsäglichen, unhistorischen Gleichsetzen von (Putins) Russland mit der überfallenen Sowjetunion 1941. Das sind Schlaglichter einer Erinnerungskultur, die sich in phrasengeschwängerten Sonntagsreden erschöpft und sich selbst negiert. Man muss genau hinsehen, sich dem aussetzen, wie in dieser vorzüglichen Graphic Novel.
Jean-Pierre Pécau (Autor), Senad Mavric, Filip Andronik, Jean Verney (Illustrator): Die letzten 100 Tage Hitlers Aus dem Französischen von Sarah Pasquay Knesebeck Verlag 2025 Gebunden 125 Seiten ISBN: 978-3-95728-934-6
Das Zitat ist Programm: Die Todessehnsucht war (neben Drogensucht) jahrelanger Begleiter des ruhelosen Schriftstellers Klaus Mann. Sein natürliches Habitat war die Großstadt, er lebte ohne festen Wohnsitz in Hotels, Pensionen und bei Freunden. Cover Rowohlt Berlin, Bild mit Canva erstellt.
Zwei überväterliche Großschriftsteller an einem Tag, das war wohl zu viel für den ewigen Sohn.
Thomas Medicus: Klaus Mann
Todessehnsucht und Drogenmissbrauch gehörten zu den Wegbegleitern von Klaus Mann. Die Biographie von Thomas Medicus beginnt folgerichtig mit dem Ende, dem Suizid am 21. Mai 1949. Es war nicht der erste Anlauf, dem Leben mit einem Freitod ein Ende zu setzen, gar nicht zu reden von den zahllosen Gedanken an den Tod, der ewigen Sehnsucht nach dem Tod.
In seinen 42 Lebensjahren zwischen 1906 und 1949 erlebte Klaus Mann die dramatischen Brüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1914, 1918 und insbesondere 1923 prägten ihn, der damit zur so genannten Kriegsjugendgeneration zählt. Die ihnen attestierten Attribute, Härte, Kühle, Verschlossenheit, Durchsetzungsfähigkeit waren Klaus Mann aber völlig fremd.
Gerade in den zwanziger Jahren lebte der Sohn des berühmten Thomas Mann und Neffe von Heinrich Mann auf schnellem, großem Fuß, sein natürlicher Lebensraum war die Großstadt, Theater, Amüsement, Clubs, Partys, Ausschweifungen, Sex, Alkohol, später immer mehr Drogen. Auftritte vor Publikum, auf der Bühne als Schauspieler oder Autor, der Hang zur Selbstinszenierung. Ein Dandy in perfekt sitzenden Anzügen, der sich bald als Dauerbewohner von Pensionen und Hotels durchs Leben schlug, immer in Geldnöten, oft alimentiert von seiner Mutter.
Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war eine Epoche auf Messers Schneide. Es gibt Menschen, die ein Zeitalter deshalb verkörpern, weil sie dessen Höhen und Tiefen, Irrrungen und Wirrungen, vor allem Gefährdungen bis in die letzte Faser durchleben wie durchleiden. Klaus Mann ist so eine Symbolfigur.
Thomas Medicus: Klaus Mann
Klaus Mann war hochsensibel, sehr verletzlich, fiel als Homosexueller aus dem gesellschaftlich als Norm akzeptierten Rahmen, insbesondere, weil er – anders als sein Vater – aus seinen homoerotischen Neigungen keinen Hehl machte. Zudem stand er als ewiger Sohn unter immensem Druck, ein Wettlauf als Schriftsteller mit dem übermächtigen Vater, den er nicht gewinnen konnte.
Dabei schrieb Klaus Mann mit großer Leichtigkeit und immenser Geschwindigkeit seine Werke. Biograph Medicus verweist darauf, dass die Detailarbeit, das prüfende Feilen und Durchforsten der Bücher, nicht zu den Stärken des Autors gehörten. Ihnen haftet oft etwas Flüchtiges an. Stoffe wie Alexander oder Sinfonie Pathetique sind weder bis ins Detail durchrecherchiert noch loten sie musikalische Tiefen aus. Sie haben eine stark autobiographische Note.
Neben den Romanen und autobiographischen Texten schrieb Klaus Mann Bühnenstücke, Kurzprosa, Lyrik, aber auch Beiträge für Zeitungen, Journale, Anthologien, gemeinsam mit seiner Schwester Erika auch Reise- und Kriegsberichte. Er versuchte sich auch als Herausgeber. Obendrein gibt es unveröffentlichte Texte, etwa eine Biographie zu Horst Wessel – ein erstaunliches Projekt von Klaus Mann.
Seine anwachsende Liebe zu Frankreich bildete den Kern seiner Entwicklung zum kosmopolitischen Intellektuellen. Dass Klaus Mann 1933 nicht eine Sekunde zögerte, dem nationalsozialistischen Deutschland den Rücken zu kehren, hatte auch damit zu tun.
Thomas Medicus: Klaus Mann
Der schwerwiegendste Bruch folgte 1933 mit dem Machtantritt Adolf Hitlers. Aus dem freiwilligen Vagabunden wurde ein Exilant. Es war ein dramatischer Unterschied, auch wenn sich äußerlich das Umherziehen kaum änderte und Klaus Mann in Frankreich einen Ort hatte, an dem er sich – soweit möglich – wohlfühlte. Doch die Entwurzelung traf ihn schwer, er konnte nicht nach Deutschland zurück, das Gefühl des Ausgestoßenseins traf ihn wie alle anderen Exilanten.
Zu den Gefährdungen und Wirrungen der 1930er Jahre gehört das Drama, dass mit der stalinistischen Sowjetunion eine zweite, auf einer Vernichtungsideologie basierende Diktatur in Europa ihr blutiges Haupt erhob. Die Todfeindschaft zum Nationalsozialismus war das einzige Pfund, mit dem Stalins Reich wuchern konnte – bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, der unter den ohnehin zerstrittenen Emigranten die bestehenden Gräben zu offner Feindschaft und Hass vertiefte.
Klaus Mann war kein Kommunist, eher ein idealistischer Schwärmer. Als Homosexueller gehörte er zu einer von den Linken wie den Rechten angefeindeten Gruppe; Bertholt Brecht hat sich in dieser Hinsicht mit bemerkenswert schäbigen Äußerungen hervorgetan.
Eine Reise in die Sowjetunion brachte Ernüchterung, die Klaus Mann im Tagebuch klar äußerte; öffentlich blieb er indifferent, obwohl Andre Gide, sein großer Leuchtstern unter den Denkern, mit bemerkenswerter Klarheit die Abgründe von Stalins Reich beschrieb. Familie ging vor Politik. Wegen Heinrich Manns (zutiefst naiver, von Stalins Schergen ausgenutzter) kritikloser Haltung gegenüber der stalinistischen Sowjetunion unterließ Klaus Mann ein klares Statement.
Was erste Jahrzehnte später zu den Grundelementen der Kritik am real existierenden Sozialismus gehörte, formulierte Gide bereits 1936/37 mit großer Klarheit.
Thomas Medicus: Klaus Mann
Einige Jahre später ergab sich für Klaus Mann daraus eine erhebliche Gefährdung. Als die USA nach langer Neutralität durch die Kriegserklärung Deutschlands und Italiens endlich gegen Hitlerdeutschland militärisch vorgingen, wollte er seinen Beitrag leisten. Aus körperlichen und vor allem politischen Gründen wurde er zweimal ausgemustert, vom FBI mehrfach durchleuchtet, verhört und nachtragenden Antikommunisten denunziert.
Klaus Mann befand sich in einer dramatischen Krise, hinter ihm lag ein demütigendes Scheitern mit seiner Zeitschrift Decision, hinzu kamen persönliche Rückschläge, Erkrankunge, die übermächtige Drogensucht und die immer stärker werdenden Todessehnsucht. Seine Schwester Erika ging zunehmend eigene Wege, die gefühlte Isolation wurde stärker, der Hemmschuh zum Suizid fiel weg. Die Teilnahme am Kampf gegen Deutschland sollte für einige Zeit zum Rettungsanker werden.
Klaus Mann erhielt in Uniform Aufschub. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und Teil der US-Streitkräfte. Seine Kriegszeit verbrachte er in Nordafrika und Italien, direkt nach der Kapitulation der Wehrmacht fuhr er nach München, in die zertrümmerte Heimat, zu dem ebenfalls halb zerstörten Wohnhaus der Eltern. Es gebe keine Rückkehr, konstatierte Klaus Mann – man kann sich ausmalen, was diese Erkenntnis beim Strauchelnden auslöste.
In diesem autofiktionalen Werk verarbeitet der Autor die Erlebnisse seines Großvaters während des Ersten Weltkrieges. Der Aufgang von Stefan Hertmans hat mir ganz ausgezeichnet gefallen, von Krieg und Terpentin erwarte ich ein interessantes Leseerelebnis. Das Buch ist Teil meines Lesevorhabens 12 für 2025.
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Bücher begleiten mich schon mein ganzes Leben, auf dem Leseweg habe ich sehr viele großartige Romane und Sachbücher lesen dürfen, von denen ich gern erzählen möchte. Das ist ein Grund, warum ich blogge.