Spiel
Das Castillo de San Felipe wirkte wie der versteinerte Kadaver
eines urzeitlichen Untiers, das nach einem tödlichen
Kampf an seinen Wunden verendet war. Tatsächlich war an
diesem Ort erst wenige Stunden zuvor ein blutiges Ringen
zu Ende gegangen. Kein Zweikampf zwischen monströsen
Kreaturen lange vergangener Zeiten, sondern die Schlacht
um Castelduro, ein über Stunden auf Messers Schneide
tänzelndes Schießen, Hauen und Stechen.
Das nächtliche Gefecht hatte überall auf der Insel Spuren
hinterlassen, schwarze Brandflecken auf zerschossenen
Mauern, zertrümmerte Häuser, Werkstätten und Ställe.
Aus schwelenden Ruinen stieg Rauch auf, mischte sich mit
dem fetten Dunst der Kochfeuer, über denen verendetes
Vieh brutzelte.
Eine Glocke aus Rauch lag über Castelduro. Die wärmenden
Strahlen der rasch aufsteigenden Sonne drangen
nicht mit ganzer Kraft durch den bläulichen Schleier. Der
Innenhof des Castillo de San Felipe war noch nicht von
Hitze erfüllt. Auch die Gefallenen verströmten nur zaghaft
ihren Todesodem. Henry, Pete und die Piratenbrüder betraten
die Festung durch ein Ausfalltor.
Sie überquerten den Hof und gingen in eines der entlang
der Festungswälle errichteten Gebäude. Zwei abgekämpfte
Wachen grüßten nachlässig. Eilig durchschritten die Vier
einen düsteren Gang und erreichten einen Raum, in dem
zwei weitere Seeleute der Schwarze Wolke auf ihren Stühlen
mit Müdigkeit und Erschöpfung kämpften.
Der Kopf des einen war mit einem blutigen Verband
umwickelt. Er sah kurz auf und deutete mit dem Kinn nach
rechts. Henry nickte dankend und trat mit seinen Begleitern
zu einer offenstehenden Tür, durch die der Geruch von
Schweiß, Schmutz und Angst strömte.
Der Raum lag im schummrigen Halbdunkel, in dem
sich zunächst nur Schemen von Männern ausmachen ließen.
Gefangene, die keine mit Gittern bewehrten Fenster und
Türen an einer Flucht hindern mussten. Die Angst band
sie stärker als es Ketten und die schärfste Bewachung vermocht
hätten.
Die gefangenen Aufseher erwartete außerhalb der Mauern
des Castillo ein grausamer Tod. Die Aufständischen würden
sie hinrichten. Rache üben für alles, was sie ihnen angetan
hatten. Während des Aufstands hatten die Sklaven-Aufseher
mit dem Mut der Verzweifelten gekämpft und erst
ganz am Ende des Gefechts die Waffen gestreckt. Manche
waren lieber in den Tod gegangen, als sich zu ergeben.
Joshua meinte eine vage Bewegung zu erkennen, bleiche
Gesichter schälten sich aus dem Halbdunkel, gezeichnet
vom Widerstreit aus Angst und Hoffnung. Es waren die Gesichter
einer geschlagenen Armee. Die Niederlage schien
ihnen einen Teil der Lebenskraft geraubt zu haben, sie
waren zu Bittstellern geschrumpft, angewiesen auf das
Wohlwollen der Sieger.
Alle senkten die Köpfe.
Alle, bis auf einen.
»Ich weiß, was Ihr von mir wollt, Lord Henry.«
Jason Buckler sah seinen Besuchern mit einem selbstgewissen
Grinsen entgegen. Um seinen Kopf war ein
schmutziger Verband gewunden, eine dicke Blutspur
schlängelte sich auf der rechten Wange hinab. Den rechten
Arm trug er in einer Schlinge.
In seinen Augen stand keine Angst, er sah den Besuchern
mit einer Mischung aus Herausforderung und Genugtuung
entgegen. Es war, als hätte er auf sie gewartet und sich nicht
mit der Frage geplagt, ob Henry und Pete zu ihm kommen
würden, sondern wann.
Angesichts seiner Lage hätte man Buckler für einen
Narren halten können, doch war er weder Traumtänzer
noch Dummkopf. Er musterte Henry kühl kalkulierend
wie ein Kaufmann. Joshua war dieser Blick von Willams
Geschäftspartnern vertraut.
Henry und seine Begleiter wollten etwas von ihm, sie
standen vor dem gefangenen Aufseher wie Bittsteller, nicht
umgekehrt. Er würde sein Wissen nur preisgeben, wenn sie
ihm eine Gegenleistung anzubieten hatten.
Joshua fragte sich, ob das nicht alles eine Finte dieses
durchtriebenen Menschen war. Konnte diese aasige Kreatur
wirklich eine Antwort auf die Frage geben, wo sich der
Stützpunkt von John Black befand?
Jason Buckler war der Oberaufseher auf Castelduro gewesen.
Er hatte gegenüber Pete geprahlt, Erfahrung in der
Beaufsichtigung von Sklaven zu haben, was offenkundig
nicht gelogen war. Im Sinne von Lord Cornelius Thaddaeus
Warrington, dem Herrn Castelduros, hatte er seine Aufgaben
zufriedenstellend erledigt.
Das war jetzt allerdings zweitrangig.
Entscheidend war, dass er im Umgang mit Warrington
etwas aufgeschnappt haben mochte, das ihnen weiterhelfen
könnte. Gerade Bucklers unverschämtes Verhalten
befeuerte Joshuas Hoffnung. Er musste ihnen etwas bieten,
sonst würde er sterben. Geschäfte dieser Art liefen in beide
Richtungen oder gar nicht.
Buckler war nicht freiwillig in den Tod gegangen. Er
hatte sich gefangen nehmen lassen und Pete per Zuruf angeboten,
mit ihnen sein Wissen zu teilen. Er ahnte dessen
Wert und ihr Erscheinen schuf Gewissheit.
Also sah er auch jetzt keineswegs beunruhigt aus, anders
als die übrigen Insassen der Zelle, die den Eintretenden nur
noch verstohlene Blicke zuwarfen.
Joshua spürte, wie Bucklers selbstgewisse Ruhe Jeremiahs
Nerven strapazierte. Sein Piratenbruder hielt diesen Mann
für brutal, hinterhältig und gewissenlos. Er hätte eine Strafe
verdient. Dazu würde es nicht kommen, das wusste Buckler.
Es würde schwer werden, ihn zu verunsichern oder gar in die
Enge zu treiben.
»Wir wollen mit dir reden«, sagte Pete schließlich.
Buckler schwieg, deutete lediglich ein Nicken an.
»Also …«
»Nicht hier drinnen.«
»Warum nicht?«, fragte Pete.
»Es ist ziemlich voll hier. Ich werde froh sein, wenn ich
hier raus bin, und alle anderen, wenn sie mehr Platz haben.«
Um Bucklers Mund spielte ein sardonisches Lächeln.
Die Mienen seiner Mitgefangenen drückten alles aus, nur
keine Freude über die Aussicht auf mehr Platz. Wut, Neid
und das Bedürfnis, ihren ehemaligen Oberaufseher gehörig
zu verprügeln. Zugleich fürchteten sie ihn noch immer, sie
spürten, dass er nicht so ohnmächtig war wie sie.
»Ich dachte schon, dir wäre es unangenehm, mit uns vor
so vielen Zeugen zu sprechen«, sagte Pete sarkastisch.
»Warum sollte es mir unangenehm sein?« Buckler
mimte den Überraschten und machte eine alle im Raum
einschließende Geste. »Wir sind Schicksalsgenossen,
nicht wahr?«
Die meisten Männer blickten zu Boden, nur zwei schauten
Buckler wütend an, doch blieben auch sie stumm.
Joshua wünschte sich durchaus, sie würden diesen Ort
wieder verlassen. Hier stank es nach Angst, ungewaschenen
Körpern und schlecht versorgten Wunden.
»Natürlich. Schicksalsgenossen«, höhnte Pete.
»So ist es, Kapitän.«
Buckler hatte keine Scheu, anderen ihre wunden Punkte
unter die Nase zu reiben. Petes Gesicht ließ nicht erkennen,
was er dachte oder fühlte. Er wechselte mit Henry einen
kurzen Blick.
»Nun gut. Dann schließt Euch uns an, Mr. Buckler«,
sagte Henry verbindlich, trat einen Schritt zur Seite und
gab den Weg frei.
Buckler erhob sich und stolzierte an ihnen vorüber, ohne
seine »Schicksalsgenossen« noch eines Blickes zu würdigen.
Im nächsten Raum blieb er stehen, reckte sich und gähnte
ausgiebig, während ihn Henry und Pete erwartungsvoll anblickten.
»Also …«
»An der frischen Luft redet es sich besser.«
»Ich ahnte es«, brummte Pete. »Keine weiteren Spielchen,
Buckler. Ich werde das kein zweites Mal sagen.«
»Ich spiele nicht gern«, behauptete der Oberaufseher
und schlurfte aus dem Haus hinaus in die Helligkeit des
frühen Tages. Träge vorüberziehende Schwaden trübten
die Sicht, es stank nach Rauch; bald würde sich der süßliche
Geruch von Verwesung hinzugesellen.
Sie gingen zu der unbeschädigten Treppe, um auf den
Wall des Castillo zu gelangen. Überall lagen Trümmer, die
Wände waren übersät mit Einschusslöchern, an einer Seite
klaffte die Lücke, die eine mächtige Explosion gerissen hatte.
Auf den Stufen waren große, dunkle Flecken zu sehen. Blut.
Hier hat Jeremiah noch vor wenigen Stunden gekämpft,
dachte Joshua. Sein Piratenbruder hätte eine der Leichen
sein können, die gerade auf einen Karren gelegt wurden.
Die Seeleute trugen Tücher vor dem Mund, zum Schutz
gegen Rauch und Staub.
»Das sollten Bucklers Schicksalsgenossen erledigen«,
schlug Pete vor. »Fliehen werden sie nicht, wenn sie bei
Verstand sind.«
Er gab einem der Seeleute die Anweisung, die Gefangenen
zu holen.
»Wenn wir fertig sind, beteiligst du dich an den Arbeiten,
Herr Oberaufseher«, kündigte Pete an.
Es war das erste Mal, dass sich eine gewisse Beunruhigung
auf Bucklers Gesicht abzeichnete, doch hatte er sich schnell
wieder im Griff. Er hatte schon in der Vergangenheit bewiesen,
dass er sich von Rückschlägen und Niederlagen
nicht lange beeindrucken ließ und sich an neue Umstände
schnell anpasste.
Oben auf dem Wehrgang kam Pete direkt zur Sache.
»John Black. Wo finden wir ihn und seinen Stützpunkt?«
Buckler gab sich keine Mühe, seine Zufriedenheit über
die Frage zu verbergen.
»Was bekomme ich dafür, wenn ich helfe, den Stützpunkt
von John Black und seinem Piratenpack zu finden?«
»Wir lassen dich am Leben«, antwortete Pete.
»Die Sklavenmeute übernimmt das Töten, hm?«
»Fürchtest du dich etwa vor ihnen?«
»Das würde ich, wenn ich nicht ein oder zwei Dinge
wüsste, die gewisse Leute brennend interessierten.« Wieder
erschien das schwer erträgliche Grinsen auf seinem Gesicht.
»Außerdem glaube ich nicht, dass Ihr irgendjemanden
von uns ans Messer liefert. Jedenfalls nicht an Akono. Habe
ich nicht recht, Mylord?«
»Was wollt Ihr, Mr. Buckler?«, fragte Henry.
»Ihr garantiert mir Leben und Freiheit, Mylord, und ich
beantworte Eure Fragen, soweit ich es vermag. Darüber
hinaus stehe ich für weitere Dienste zur Verfügung, wann
immer ich Euch behilflich sein kann«, antwortete Buckler.
»Und deine Schicksalsgenossen?«, fragte Jeremiah. »Was
ist mit denen?«
Buckler zuckte mit den Schultern.
»Dachte ich es mir doch. Ohne Ehre, kein Gewissen«,
fauchte Jeremiah und spuckte Buckler vor die Stiefel. Der
verzog keine Miene.
Joshua glaubte, dass der entthronte Aufseher Jeremiah
ganz bewusst auf die Palme brachte; ein kleines Machtspielchen
des Mannes, der angeblich ungern spielte.
»Also gut: Ich gebe dir mein Wort, Buckler. Dir wird
kein Haar gekrümmt«, sagte Pete.
»Dein Wort reicht nicht, Pete Larsen.«
»Was soll das heißen? Wir sind nicht wie du und deinesgleichen!
Auch nicht wie Warrington. Ich stehe zu meinem
Wort«, entgegnete Pete empört.
»Ihr habt auch mein Wort, Mr. Buckler«, sagte Henry.
»Zweifelt Ihr an meiner Aufrichtigkeit?«
Buckler schüttelte den Kopf.
»An Eurer Aufrichtigkeit habe ich nicht den geringsten
Zweifel, Mylord. Aber ich bin sicher, Eure schwarzen
Freunde werden alles daransetzen, mich in ihre Finger zu
bekommen. Ich habe – hm, wie soll ich es sagen? – mir
nicht sehr viele Freunde gemacht hier auf Castelduro. Es
könnte sein, dass einige Sklaven nachtragend sind.«
»Sie sind keine Sklaven mehr«, fuhr ihn Jeremiah an.
»Einmal Sklave, immer Sklave.«
»Das …«
»Schon gut, Jeremiah. Schon gut«, sagte Henry.
»Es wird Ärger geben, Mylord, wenn ihr den neuen
Herren dieses Eilands, den Afrikanern …« Buckler sprach
das Wort betont gedehnt und grinste boshaft. »… ihre
Rache verweigert.«
»Wir haben uns bereits mit Akono geeinigt und werden
auch weiterhin dafür sorgen, dass dir und deinesgleichen
nichts geschieht, Buckler«, sagte Pete.
»Ja, das werdet ihr, weil ich euch sonst nämlich nichts
mehr erzählen kann. Ich rede erst, wenn ich in Sicherheit
bin, um niemanden in Versuchung zu bringen«, erwiderte
Buckler.
»Also sollen wir Euch erst von Castelduro wegschaffen,
bevor Ihr Euer Wissen mit uns teilt?«, fragte Henry.
»Ja.«
Joshua fragte sich, ob Henry dem ehemaligen Aufseher
wirklich so weit traute, dass er sich auf dessen Wort verließ.
Das war schwer vorstellbar. Was würde Henry tun?
Ihn schwören lassen? Doch es kam ganz anders, wie so oft.
»Wenn wir Euch von hier fortbringen, werdet Ihr uns
dann sagen, wo sich John Black aufhält, Mr. Buckler?«,
forschte Henry weiter.
»Nein.«
[…]
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