Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Familienroman (Seite 1 von 4)

Angela Steidele: Aufklärung

Ein Historischer Roman aus der Sicht einer Tochter Johann Sebastian Bachs, stimmungsvoll, atmosphärisch und in besten Sinne aufklärerisch. Cover Insel-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ein literarisches Gegenspiel, eine Gegenbiographie, die aufklärt darüber, wie es nach Ansicht des erzählenden Ichs tatsächlich gewesen ist. Das weicht erheblich von dem ab, was aus Männerfedern auf Papier geflossen ist und die Überlieferung geprägt hat. Doch geht die Autorin noch – mindestens – einen Schritt weiter und lässt ihre Erzählstimme keineswegs unangefochten berichten – sie wird immer wieder infrage gestellt, unterbrochen, korrigiert, während sie schreibt. Kleine Sätze der Rechtfertigung sind hier und da in Klammern eingeflochten.

Im besten Sinne der Aufklärung bleibt es also am Ende beim Leser, wem und was er Glauben schenken will. Aufklärung ist ein großer Lesespaß! Man muss sich ein wenig einlesen, in den Stil, den die Autorin Angela Steidele sanft koloriert hat und etwas zeithistorisch klingen lässt, was den Lesefluss befördert sowie lustig und einfach schön ist, ohne diese träge, staubige Schwere alter Grammatik.

Die Geschichte ist in der Ich-Form präsentiert, die Erzählerin ist Dorothea Bach, eine Tochter von Johann Sebastian Bach, von der nahezu nichts überliefert ist. Ein gefundenes Fressen für eine Autorin von einem Historischen Roman, denn diese Leerstellen wollen gefüllt werden – mit Fiktion. Steidele widmet sich dieser Aufgabe mit Hingabe, Leichtigkeit, Humor, bisweilen bissigem Sarkasmus und lässt eine ganz wundervolle Welt vor den Augen der Leser entstehen.

Sie ist voller Musik, Herzenswärme, Literatur, gelehrten Gesprächen, Spott, Neid, Eifersucht, Streit – aber auch berührt von den Unbilden der Zeit. Der Macht des Todes, der Krankheit, der Armut, die Verheerungen der Kriege Friedrichs II. und die Zudringlichkeiten einer unaufgeklärten Welt. Dabei gelingt es Steidele, den leichten Tonfall beizubehalten, hier wird nicht stiefeltrampelig einer Wahrheit Bahn gebrochen, der Leser wird geradezu aufgefordert, selbst zu denken.

Ganz besonders atmosphärisch sind die kleinen Anmerkungen unten auf der Seite, die auf die Werke Johann Sebastian Bachs verweisen, von denen in der Erzählung die Rede ist. Man kann sie problemlos anhören und mit dem vergleichen, was die Erzählstimme und andere Zeitgenossen zu sagen haben. Aber auch Literatur ist aufgeführt, Dramen, Theaterstücke, Romane, Sachbücher aller Art, in die problemlos ein Blick geworfen werden kann, denn diese zeitgenössische Literatur steht im Internet zumeist zur Verfügung.

Apropos Internet. Anlässlich einer Lesung beim Göttinger Literaturherbst hat Angela Steidele neben vielen anderen sehr aufschlussreichen Bemerkungen auch gesagt, sie habe heimlich etwas über die Gegenwart erzählen wollen. Das wollen – gute – Historische Romane ja oft. Und so darf man sich fragen, ob Lautentius Gugl nur zufällig diesen Namen trägt oder die Zwitscherblättchen, die – weil gedruckt – anonym über andere Zeitgenossen herziehen, vielleicht auf eine moderne Kommunikationserscheinung anspielen.

Angela Steidele macht sich zudem ein großen Vergnügen daraus, große Männer von ihren Sockeln zu holen. Gotthold Ephraim Lessing etwa kommt nicht gerade gut weg, Friedrich II., der so genannte „Große“, verdiente sich ganz andere Beinamen. 

Rousseau? „Ein armes Irrlicht aus Genf, der sich mit allen verkracht“, lässt sie den Leser aus dem Munde Luise Gottscheds wissen, verbunden mit einem didaktischen Hinweis für die Gegenwart: „Weil sich jeder über ihn aufregt, erhält er so viel Resonanz. Da müssen wir seine absurden Ansichten nicht auch noch ventilieren.“  Don´t feed the troll, würde man heute sagen.

Das Ende ist ganz fabelhaft gelungen. Vier Zeilen eines Gedichtes machen noch einmal deutlich, worum es in dem Roman Aufklärung eigentlich geht: Jene ins richtige Licht rücken, die bislang im Schatten standen, dorthin das Licht leuchten lassen, wo Dunkelheit, (Ver-)Schweigen und Vergessen bis heute Vieles verborgen hat, was ans Licht gehört.

Mit großem Vergnügen verweise ich auf eine ebenso vorzügliche wie ausführliche Buchvorstellung von Marius Müller, der durch seinen sehr anregenden Text verantwortlich dafür ist, dass ich diesen wunderbaren Roman gelesen habe.

Angela Steidele: Aufklärung
Insel Verlag 2022
Gebunden 602 Seiten
ISBN: 978-3-458-64340-1

Dimitri Kapitelman: Eine Formalie in Kiew

Ein kurzer Roman über die Abgründe von Migration und Famile. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Von einem, der auszog, ein Deutscher zu werden – und dazu dank teutonischer Bürokratie nach Kyjiw reisen muss, um eine Formalie zu erledigen. Unnötig zu erwähnen, dass es nicht bei der Formalie bleibt, ebenso unnötig zu erwähnen, dass es nicht bei dem einen sprichwörtlichen Klischee bleibt. Erfreulicherweise hat Autor Dimitrji Kapitelman eine ganze Reihe von Sprachneuschöpfungen ins literarische Feld geführt, um sich diesen Klischees angemessen anzunehmen und ihnen Leben einzuhauchen.

Der Leser folgt dem Ich-Erzähler in die Abgründe einer Migrations– und Familiengeschichte. Beide Motivkreise sind eng miteinander verwoben, beide sind fern jeglicher Verklärung und rührseliger Aufhübschung. Von einem Land ins andere überzusiedeln ist (über-)fordernder Kraftakt; Kapitelman spitzt das zu, in dem er sagt, die Katze habe sich am schnellsten in Deutschland integriert. Die Eltern des Erzählers fremdeln, übertünchen die Fremdheit mit Verklärung ihrer eigenen Herkunft.

Das ist ein Motiv, das aus anderen Migrations-Romanen bekannt ist. Nino Haratischwili etwa hat in ihrem Roman Die Katze und der General dieses Thema gekonnt auf den Punkt gebracht. Es lohnt sich für den Leser, auf die Zwischentöne zu hören – wer Migration verstehen will, kommt hier auf seine Kosten. Es ist kompliziert, einfache »Lösungen« sind und bleiben populistische Phrasendrescherei.

In der Ukraine erlebt der reisende Erzähler eine Reihe von Überraschungen, die hier nicht vorweggenommen werden. Der Krieg im Osten des Landes, in Deutschland und weiten Teilen Westeuropas lange Jahre als »Krise« verharmlost und vergessen, wetterleuchtet immer mal wieder am Erzählhorizont, Putins Angriffs- und Vernichtungskrieg ist noch fern. Angesichts dessen, was Kapitelman erzählt, ist man schon verblüfft, wie widerstandsfähig sich die Ukraine erwiesen hat. 

Auf den ersten Blick jedenfalls, denn Zwischentöne und Beiläufigkeiten lassen bereits erahnen, wie blind die Annahme gewesen ist, die Ukraine würde sich nicht wehren (können). Bei allen Missständen hat sich das Land, haben sich seine Menschen zu einer Zivilgesellschaft entwickelt, auch wenn sowjetische »Stillstandsarchitektur« und vieles andere Überkommene noch präsent sind. 

Dimitri Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
dtv 2023
Taschenbuch 176 Seiten
ISBN 978-3-423-14842-9

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Lange habe ich mir einen Roman aus (nord-)vietnamesischer Sicht gewünscht, hier ist er. Oftmals überwältigend angesichts des endlosen Leids der Menschen. Cover Insel, Bild mit Canva erstellt.

Seltsam gesichtslos sind die Nordvietnamesen in jenen Filmen, die in Vietnam zur Zeit des Krieges spielen. In diesem Punkt unterscheiden sich Platoon, Full Metal Jacket, Der stille Amerikaner, Good Moring Vietnam, Apocalypse Now, Deer Hunter und andere nicht wirklich voneinander. Sie wirken weniger wie Individuen, eher wie eine amorphe Masse, verborgen hinter rassistischen Ausdrücken und Spitznamen wie »Charlie«.

Menschen in Uniform verlieren einen Teil ihrer Individualität, während Nordvietnamesen fast immer als Teil des Vietcong oder der regulären nordvietnamesischen Streitkräfte auftreten, sind die Zivilisten faktisch unsichtbar. Diese amerikanischen Filmdarstellungen sind auch ein Echo auf den Umstand, dass die Amerikaner einem Feind gegenübertraten, der asymmetrisch focht, oft aus dem Verborgenen heraus, eine Kriegführung, die traditionell wie ein Katalysator auf Kriegsverbrechen wirkt.

Eine der Folgen ist, dass die gnadenlose Bombardierung Nordvietnams in Deutschland faktisch in Vergessenheit geraten ist, ausgerechnet in jenem Land, dessen Städte durch den so genannten »strategischen Bombenkrieg« während des Zweiten Weltkrieges vernichtet wurden. Über Nordvietnam wurden noch mehr Bomben abgeworfen, ohne entscheidende militärische Wirkung zu erzielen. Dafür traf es die Zivilbevölkerung mit unerhörter Härte – im Verborgenen.

Nguyễn Phan Quế Mai lüftet mit ihrem Roman Der Gesang der Berge den Schleier. Schon im ersten Kapitel sehen sich Hu´o´ng und ihre Großmutter Diệu Lan in Hanoi einem amerikanischen Luftangriff ausgesetzt. Der Leser wird mitten hineingerissen in einen Alptraum, die hektische Suche nach einem Bunker; es folgen Flucht aufs Land, Hunger, Rückkehr in eine zermalmte Stadt und eine Existenz am Rande des Hungertodes.

Die Herausforderungen, die das vietnamesische Volk im Lauf der Geschichte meistern musste, sind so groß wie die höchsten Berge.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Das steht am Angang eines schier endlosen Laufs von Gewalt. Die Struktur des Romans, der zwischen den Zeiten und Erzählstimmen stetig wechselt, verstärkt diesen Eindruck, aber selbst eine lineare Erzählung würde daran wenig ändern: Franzosen, Japaner, Amerikaner haben als Kolonialherren, Eroberer oder Kriegspartei über Jahrzehnte dem Land Unheil und Verwüstung gebracht; die Kommunisten zudem noch einen Krieg gegen das eigene Volk entfesselt.

Wie erzählt man davon? Nguyễn Phan Quế Mai wählt einen geschickten Weg, um den Leser nicht in einer Flut an unerträglicher Gewalt zu ertränken. Die Hauptfiguren in Der Gesang der Berge sind Frauen, sie schultern die Ungeheuerlichkeiten, denen sie ausgesetzt sind. Die vielfältigen Kriege wirken auf sie auf ganz verschiedene Weise ein, etwa durch die Abwesenheit ihrer Liebsten, die an fernen Fronten kämpfen und jahrelange Ungewissheit bei den Zurückgebliebenen sorgen.

Die haben zwar nicht direkt mit dem Gegner zu kämpfen, dafür mit tödlichem Hunger, der viele Menschen in erbarmungslose Bestien verwandelt, und mit den Auswüchsen des kommunistischen Ideologie. Die kommt in Gestalt der »Landreform« daher und – man ahnt es – schauerlichen Gewalttaten. Die Neigung, Ideen zur Rechtfertigung brutalster Handlungen gegen Mitmenschen zu missbrauchen, scheint ortsunabhängig eine anthropologische Grundkonstante zu sein.

Die Umrisse der Dörfer am Horizont sahen aus wie Frauen, deren Rücken sich unter der Last des Lebens beugt.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Hu´o´ng und ihre Großmutter kämpfen ums Überleben. Immer wieder werden ihnen die Grundlagen dafür entzogen; insbesondere ihre Flucht vor der »Landreform« nach Hanoi ist schwer erträglich. Um am Leben zu bleiben, muss die Fliehende ihre Kinder zurücklassen, mit der vagen Aussicht, in der Stadt unerkannt eine neue Existenz aufzubauen. Erst dann kann sich die Mutter auf die Suche nach ihren Kindern machen.

Beeindruckend fand ich den unerbittlichen Familienzusammenhalt, den die Autorin schildert. Dieser geht so weit, dass ein Mitglied seine eigene Frau und Kinder in die USA fliehen lässt und selbst zurückbleibt; das klingt so befremdend wie ich es beim Lesen empfunden hätte – wäre da nicht diese ungeheuerliche Zerrissenheit von Land, Familien und Menschen. Familienbande erscheinen wie eine Art Gegenkraft zu der alles zerreißenden Destruktion.

Besonders gefallen hat mir die Entscheidung der Autorin, dem Vietnamesischen einigen Raum zu geben. Das bleibt nicht bei den Eigennamen, wie Saigon (»Sài Gòn«), es werden ganze Sätze in der originalen Sprache abgebildet – und natürlich gleich darauf übersetzt. Dieser Kniff verstärkt beim Leser den Eindruck der Fremdheit und der kulturellen Distanz und erhöht die Wahrhaftigkeit des Erzählten.

Wir haben genug Tod und Gewalt gesehen, um zu wissen, dass wir nur auf eine Art über den Krieg sprechen können: aufrichtig.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Für meinen persönlichen Lesegeschmack ist der Roman an manchen Stellen ein wenig zu emotional geraten, doch das ist Teil des Stils, der dem Erzählten auch angemessen ist und viele andere Leser eher ansprechen könnte. Am Ende von Der Gesang der Berge steht wie am Ende jedes Lebens der Tod. Nguyễn Phan Quế Mai verbindet das Ableben gekonnt mit Leitmotiven ihres Romans und entlässt auf eine friedvolle Weise den Leser in die Stille, die jedem guten Buch folgt.

[Rezensionsexemplar]

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Insel Verlag 2021
Gebunden 429 Seiten
ISBN: 978-3-458-17940-5

David Hewson: Garten der Engel

Venedig ist der Ort dramatischer Ereignisse im Herbst 1943, als die Deutschen die Macht im Norden Italiens an sich gerissen haben. Cover Folio Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit ich zwölf Jahre alt bin, beschäftigt mich der Krieg. Dabei steht »der Krieg« vor allem für den Zweiten Weltkrieg. Es ist ein – etwas seltsames – Vermächtnis, das mich bis an mein Lebensende beschäftigen wird, aber so etwas kann man sich nicht aussuchen. Garten der Engel von David Hewson dreht sich neben allem anderen auch um ein ungewolltes Vermächtnis, auf ganz verschiedenen Ebenen: persönlich, familiär, aber auch ein wenig historiographisch.

David Hewson ist das Kunststück geglückt, dieses Vermächtnis in eine sehr spannende, ja dramatische Geschichte einzuweben; kein zufällig gewähltes Verb, spielt doch das Weben eine wichtige Rolle in der Handlung. Der Ort ist ebenfalls klug gewählt. Venedig, vom Festland abgeschnitten, eine kleine, in sich geschlossene Welt für sich; zumindest können sich das ihre Bewohner einreden.

Es ist 1943, Italien hat nach drei Jahren – äußerst glücklosen Krieges – mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und das Bündnis mit Deutschland verlassen. Praktisch ist das Land zweigeteilt, denn die amerikanischen und englischen Truppen kommen nur sehr langsam voran, der gesamte Norden ist in deutscher Hand.

Mussolinis Faschisten haben dort unter Nazifuchtel weiterhin das Sagen, es tobt ein blutiger Partisanenkampf im Land. Für jene, die laut Nazi-Ideologie als Juden gelten, brechen schwere Zeiten an, denn jetzt geraten auch sie ins Visier der deutschen Vernichtungskrieger, die Verfolgungen werden wie im übrigen Europa verschärft, Züge voller italienischer Juden rollen Richtung Konzentrationslager.

Wenn die Welt sich verdunkelt, bleibst du dann in deinem Versteck und wartest ab, bis es wieder hell wird? Oder versuchst du selbst, eine kleine Flamme zu entzünden?

David Hewson: Garten der Engel

Das alles schwappt nach Venedig, wo sich die Deutschen eingerichtet haben und auf Mussolinis treue Schwarze Brigaden und Kollaborateure stützen. Man schlägt sich durch, auch der just von alliierten Bomben zum Waisen gemachte Paolo Uccello müht sich, das ins Straucheln geratene Familienunternehmen, eine Seidenweberei, am Leben zu erhalten.

Eine ganze Reihe von Personen gerät durch das Auftauchen zweier jüdischer Partisanenflüchtlinge in eine Lage, Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen zu müssen. Hewson ist es gelungen, die meisten dieser Personen vielschichtig zu gestalten, sie mit ihren Widersprüchen und Schwächen, hanebüchenen Ideen und Ansichten aufeinander loszulassen. Eine Ausnahme bilden die eher schablonenhaften deutschen Besatzern; daran ist nichts auszusetzen, um die geht es in diesem Roman nämlich nicht in erster Linie.

Im Mittelpunkt steht zum Beispiel der Kollaborateur Luca Alberti, ein ehemaliger Polizist, der sprachkundig für die Deutschen in Venedig Ermittlungsarbeiten durchführt. Er versucht sich in der hohen Kunst des Lavierens, redet sich ein, nur das zu tun, was irgendjemand tun müsse und durch sein Handeln das eine oder andere Leben retten zu können. Alberti ist andererseits völlig illusionslos über sein Schicksal, sollte der Krieg für die Achsenmächte verlorengehen. Eine ganz wunderbar widersprüchliche Person.

Ich erledige eine Aufgabe, die irgendjemand erledigen muss.

David Hewson: Garten der Engel

Das gilt auch für viele andere Figuren, die in Garten der Engel ins Geschehen eingreifen und durch ihre Torheiten und klugen Entscheidungen einen Prozess in Gang setzen, der sich immer mehr beschleunigt und auf eine geradezu klassische Tat zuzusteuern scheint – doch Hewson hält für den Leser einige handfeste Überraschungen und Wendungen bereit; man kann das Buch irgendwann nur schwer aus den Händen legen.

Angesichts der zahlreichen, ansprechenden Personen fallen ausgerechnet die beiden Partisanen ab. Insbesondere die handlungsaktive Mika Artom hat bei mir für Stirnrunzeln gesorgt – ganz bewusst formuliere ich etwas gewunden, denn aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Krieg weiß ich, dass in dieser Zeit viele Menschen Dinge getan haben, die im Grunde undenkbar waren.

So verhält es sich vielleicht auch mit Mika, die wie ein menschlicher Katalysator für einen wesentlichen Teil der Handlungsdynamik verantwortlich ist. Wie sie geschildert wird, wäre sie – mit Vorbehalt – längst tot, umgebracht von den Deutschen, italienischen Faschisten oder aber den eigenen Leuten, für die sie aufgrund ihrer Querschlägerei eine immense Gefahr darstellt. Kurz hatte ich sogar die Befürchtung, Mika würde mir das Buch insgesamt verleiden – zum Glück unbegründet.

Hewson hat nämlich en passant mit dem Partisanenmythos ein wenig aufgeräumt. Partisanenkrieg wird oft immer noch verherrlicht, dabei handelt es sich um eine brutale, ja oft menschenverachtende asymmetrische Kriegführung, die ganz bewusst die Zivilbevölkerung in die Feuerlinie bringt. Für jeden getöteten Deutschen wird eine Handvoll Zivilisten erschossen – als abschreckende Terrormaßnahme. Auch einige handelnde Figuren fragen sich, ob das Agieren der Partisanen militärisch gerechtfertigt und moralisch gedeckt ist.

Es wird alles zu einer Geschichte. Einem Märchen. Gut und schlecht. Schwarz und Weiß. Nichts dazwischen. Dabei ist es das Dazwischen, auf das es ankommt.

David Hewson: Garten der Engel

Garten der Engel erzählt die Geschichte im Rahmen eines klassischen Sterbebett-Bekenntnisses. Fünf Teile umfasst das, was der verlöschende nonno Paolo seinem Enkel Nico mitgibt, fünf Manuskripte, die jene Ereignisse aus dem Jahr 1943 erzählen. Es ist – wie sich herausstellt – ein echtes Vermächtnis, über das Leser wie Enkel bis zum Ende nicht recht im Bilde sind. Die langsam sich anbahnende Auflösung vieler Fragen gehört wiederum zu den großen Stärken dieses ganz wunderbaren Romans.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

David Hewson: Garten der Engel 
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Folio Verlag 2023
Hardcover 394 Seiten
ISBN: 978-3-85256-876-8

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Autor Andreas Fischer ist ein ganz besonderes Buch gelungen, kein Roman im eigentlichen Sinne, aber ein großer Wurf aus meiner Sicht. Cover eschen4verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vier Wochen brauchte es nur, um von »Heil unserem herrlichen Führer« zu »Es ist grauenhaft.« zu gelangen. Zwei Zitate aus Feldpostbriefen, jene Schreiben, die von den Soldaten der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges an ihre Lieben daheim geschrieben wurden. Günther heißt der Urheber, der Anfang Dezember 1941 voller begeisterter Erwartung endlich Richtung Ostfront in Marsch gesetzt wird, um dort von der Kriegsrealität blitzartig ernüchtert zu werden. Zwei Tage später ist er schon tot.

Diese beiden Schreiben finden sich in der Mitte des grandiosen Buches Die Königin von Troisdorf, sie bilden das Gravitationszentrum des gesamten Themas, das Andreas Fischer aufarbeitet. Er hat sein Werk als Roman bezeichnet, tatsächlich finden sich auch fiktionale, erzählende Passagen inmitten der vielfältigen Erinnerungsimpressionen und Dokumenten wie Briefen und Postkarten; Fotos spielen im Text eine besondere Rolle, abgebildet sind keine – das geniale Cover-Motiv bleibt solitär.

Fischer lässt seine Passagen munter durch die Zeit springen, er wählt einen nüchternen, sachlichen Rahmen, indem er jeden Abschnitt mit Jahreszahl beginnt, oft gefolgt von einer Ortsangabe und einem oder mehreren kleinen Sätzen. Bei den Dokumenten geht der Autor noch einen Schritt weiter, beschreibt Papier, Form, Poststempel, Briefmarke, Schrift und gibt weitere Erläuterungen zu dem, was folgt. Schreiben als Sezieren.

1961.
Troisdorf.
Ich bin einige Wochen alt.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Diese Form ist eine brillante Entscheidung. Sie distanziert das Geschilderte und verhindert, dass Inhalt und Thema in einem überemotionalen, gefühlstriefenden Morast versinken. Der Leser wird auch genug durchgerüttelt, denn was Andreas Fischer zu berichten hat, führt in ein finsteres Tal, das er als Kind durchschreiten musste. Die Verlierer des Verwüstungskrieges haben ihre Wut an der nächsten Generation ausgelassen; und der übernächsten – unmittelbar oder mittelbar.

Der Vater des Autors ist selbst Soldat gewesen, er hat im Gegensatz zu dem zitierten Günther und dem eigenen Bruder Herbert das große Schlachten überlebt, obwohl es ihn am Ende sogar noch in den Strudel der Ardennenoffensive gerissen hat. Die Person, die abends von der Arbeit ausgelaugt am Küchentisch sitzt, raucht und säuft, den alten Ideologien, Verschwörungserzählungen und Feindbildern treu geblieben ist, lässt sich kaum in Einklang bringen mit dem, was an anderer Stelle über ihn zu lesen ist: charmant, wissbegierig, sprachgewandt, freundlich, offen. Frauentyp.

Was hat diesen krassen Wandel bewirkt? Was diese unsäglich Ehe initiiert? Vater Reinhold verhält sich höchst befremdlich und wechselhaft gegenüber Andreas, Mutter und Großmutter, die er »Hindenburg und Ludendorff« oder »Kaltmamsellen« nennt, sind ihm gegenüber von einer gleichbleibenden Kälte. Ein ungeliebtes, verachtetes, unerwünschtes Kind, einer »von seiner Sorte« reiche, heißt es. Es wirkt keineswegs übertrieben, wenn Andreas glaubt, in ihren Augen wäre er ein »Drecksack« und seine (Un-)Taten wären «Verbrechen«.

Jeder Protest, jedes Aufbegehren verhallt.
Hindenburg und Ludendorff kennen keine Gnade.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Wie kann man in einer solchen Umgebung aufwachsen? Wie überleben? Eine weitere, große Stärke des Buches liegt darin, dass es – auch dank der Form – nicht in eine rauschhafte Abrechnung oder gar einen rasenden Amoklauf des erinnerten Schmerzes abgleitet, sondern den Lichtblicken Raum gibt. Andreas hat seine Tante Hilde, und – vom haltlosen Jähzorn abgesehen – durchaus auch seinen Onkel Bruno, der ihn zwar einmal fürchterlich verprügelt, aber im Grunde auch respektiert.

Es gibt in der Kälte durchaus wärmende Momente, auch sein Vater hat einige positive Erinnerungen hinterlassen. Das väterliche Meisterstück bestand darin, seinem fünfzehn Jahre alten Sohn den Auszug in eine Art Schutzraum zu gestatten – mit seiner Hilfe baut sich dieser den Dachstuhl in jenem Haus aus, in dem das familieneigene, gut laufende Fotoatelier untergebracht ist. Dort verbringt er seine Tage, irgendwann auch die Nächte und entzieht sich dem kontrollierenden Zugriff von Oma und Mutter.

Vater Reinhold hat Andreas’ »Testament« gefunden, eine achtseitige Abrechnung, verfasst anlässlich aufkeimender Suizid-Gedanken, und aus diesem alarmierenden Fund eine bemerkenswerte Schlussfolgerung gezogen. Sie steht in Kontrast zu jenem alltäglichen Wüten, zum Beispiel als der Sohn in der Schule mit den Abgründen des Vernichtungskrieges konfrontiert wird: Reinhold leugnet die Fakten rundherum ab, diffamiert sie als alliierte Propaganda und stellt eine rechtsextreme Verschwörungserzählung dagegen.

Andreas hat das große Glück, dass er an eine vernünftige Lehrerin gerät, die ihn zunächst den Unsinn vortragen lässt, ehe sie ihm ruhig widerspricht; eine Bibliothekarin, die ihn mit der nötigen Literatur über den Holocaust versorgt, sodass er sich selbst ein Bild machen kann; einen Geistlichen, der ihm eine Erklärung dafür liefert, warum sein Vater eine Lüge der Wahrheit vorzieht. Am Ende steht eine eigene Meinung, die im Gegensatz zu dem väterlichen Nonsens steht. So geschieht Bildung, gedeihen Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, das Pendant zum emotionalen Rettungsanker.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestand ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind gestört und im Grunde kaputt. Andreas Fischer stellt viele Fragen, ohne unbedingt eine Antwort zu geben oder auch nur zu versuchen. Was für ein Glück, denn so bleibt es dem Leser überlassen, selbst nach welchen zu suchen – oder auch nur zu lesen. Dankbarerweise verzichtet der Autor auch auf die Niederungen jeder Gut/Böse-Verschlichtung, die Widersprüche sind klar und bleiben unaufgelöst.

Dieses Buch ist auch ein ganz wunderbares Beispiel dafür, wie ein Inhalt seine passende Form gefunden hat. Man kann fast dankbar sein, dass der Autor keinen Verlag gefunden hat, der ihn möglicherweise genötigt hätte, seine Lese-Kost zu einem gefälligen, leicht verschlingbaren Literaturbrei zu pürieren; der Inhalt verlangt geradezu nach einer sperrigen Form. So ist Die Königin von Troisdorf ein großer, geradezu royaler Wurf.

Wer eine Zweitmeinung zu dem Roman einholen möchte, den verweise ich gern auf die sehr gelungene, ausführliche und etwas anders fokussierte Buchbesprechung auf dem generell empfehlenswerten Blog: Horatio-Bücher.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf
eschen 4 verlag 2022
Hardcover 473 Seiten
ISBN: 978-3-00070-369-0

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