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Schlagwort: Familienroman (Seite 1 von 5)

Stefan Hermans: Krieg und Terpentin

Der autofiktionale Roman erzählt vom Großvater des Autors, seinen Erlebnissen an der Front während des Ersten Weltkrieges, aber auch von der mit dem Kriegsausbruch 1914 verlorenenen Welt von Gestern, ganz ohne romantische Verklärung. Cover Diogenes Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Fast zweihundert Seiten verstreichen, ehe der »Große Krieg« ausbricht. Der Großvater Stefan Hertmans’ muss ins Feld ziehen, wie man euphemistisch sagt; was er dort erlebt, schreibt er Jahrzehnte später nieder und gibt die Blätter an seinen Enkel weiter. Mit der Gabe ist ein Auftrag verbunden, so zumindest versteht es Autor Hermans, sich mit den Erinnerungen an das blutige Massenmorden auseinanderzusetzen. Krieg und Terpentin ist das Resultat dieser Auseinandersetzung, in der die Kriegserinnerungen den eisenharten Kern darstellen. Das Buch geht jedoch weit über die Kriegszeit hinaus, es ist auch eine Familien- und Generationengeschichte, eine Spurensuche mit verblüffenden Funden und vielen Sackgassen.

Im historischen Bewusstsein Deutschlands ist der Erste Weltkrieg im Schatten des monströsen Zweiten Weltkrieges verschwunden; Vernichtungskrieg, Holocaust und Selbstzerstörung verschlucken alles Vorangegangene. In Frankreich ist das anders, hier spielt – vielleicht auch durch die verheerende Niederlage der französischen Armee 1940 – der »Große Krieg« in der Erinnerung eine bedeutende Rolle. Und in Belgien? Auch nach der Lektüre von Krieg und Terpentin kann ich darauf keine Antwort geben. Aber in den Erinnerungen von Urbain Martien (und seines Enkels Stefan Hertmans) nimmt der Erste Weltkrieg eine zentrale Rolle ein, der Zweite Weltkrieg ist kaum mehr als eine Randerscheinung.

Meine Kindheit ist überwuchert von seinen Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg, immer und immer wieder dieser Krieg.

Stefan Hermans: Krieg und Terpentin

Das ist verblüffend für einen deutschen Leser, doch in gewisser Hinsicht folgerichtig. Mit dem Kriegsbeginn begann der rasante Absturz jener Welt von Gestern, wie die Zeit bis 1914 nach Stefan Zweig noch heute genannt wird. Diese Disruption war ein blutiges Beben und wischte eine bis dahin nur in Teilen angegriffene Gesellschaftsordnung mit brutaler Rasanz hinweg. Mit ihr verschwanden nicht nur verkrustete, rückständige und menschenverachtende Strukturen, sondern auch moralische und persönliche Hemmnisse. Der mechanisierte Krieg mit seinen ungeheuren Verlusten und Massen-Tötungsmitteln (Gas) machte bis dahin Undenkbares möglich, auf dem Schlachtfeld und im Zivilleben. Ohne diese Radikalisierung wären die ideologischen Massenmorde im Gewand des Bolschewismus, Nationalsozialismus und Maoismus schwerlich möglich gewesen. In diesem Sinne war der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe.

Stefan Hertmans widmet der Zeit vor diesem Desaster mehr Raum als dem Krieg an sich. Er nähert sich dem Menschen Urbain Martien über seine persönlichen Erinnerungen an und greift von dort weit in die Vergangenheit zurück. Die Lebenslinien der Urgroßeltern bilden den zeitlich am weitesten zurückliegenden Stoff für Krieg und Terpentin. Mit ihnen tritt nicht nur der Großvater ins Leben, das Leben selbst wird anhand der Schicksale geschildert. Diese Welt ist jenseits der romantisierten Erinnerungen Stefan Zweigs oder auch in Joseph Roths Radetzkymarsch brutal und gnadenlos. Die an Krebs erkrankte Nachbarin verreckt langsam und qualvoll an ihrem Tumor, der weder behandelt noch schmerzlindernd mit Medikamenten begleitet wird. Die Arbeitsverhältnisse (einschließlich horrender Unfälle) sind geradezu absurd in ihrer Menschenfeindlichkeit, die gesellschaftliche Kluft zwischen Arm und Reich dramatisch.

Es ist das Hin-und-Hergerissen-Sein zwischen dem Soldatensein aus Not und dem Künstlerdasein aus Neigung: Krieg und Terpentin.

Stefan Hermans: Krieg und Terpentin

Doch geht etwas verloren, wie sich am Großvater zeigt, der später immer etwas altmodisch wirkt, in einem positiven, wenngleich schwierigen Sinne. Mehrfach kommt es zu psychischen Krisen, Einweisungen in Kliniken und Behandlungen mit Elektroschocks. Traumatherapie gab es noch nicht, dabei wäre sie nötig gewesen, angesichts der Kriegserlebnisse und dem kaum weniger niederschmetternden privaten Tiefschlag während der mörderischen Spanischen Grippe 1919. Infolge der Kriegsversehrungen scheidet Urbain Martien früh aus dem Arbeitsleben aus und widmet sich dem Malen. Die Kunst spielt eine wesentliche Rolle in dessen Leben, brotlos, aber kreativ und produktiv. Hertmans Spurensuche kommt auch dank der Bilder zu überraschenden Erkenntnissen über seinen Großvater, die Gemälde sind wie Schlüssel zu den geheimen Kammern voller Schmerz und Trauer.

Ich war während der Lektüre verblüfft über die oft abfällig behandelten Kopien von berühmten Bildern. Schon bei Rebecca Struthers Uhrwerke werden Nachahmungen und Fälschungen von Uhren, Kunstwerken anderer Art, in einem helleren Licht gezeichnet. Auch im Leben von Wolfgang Herrndorf bildete die Nachahmung alter Meister einen wesentlichen Aspekt. Urbain Martien hat sie in seinem Sinne für die Bewältigung seiner ganz persönlichen Verheerungen verwendet. Kurioserweise ist kein einziges Kriegsbild unter seinen Werken, obwohl er in seinen Erinnerungen davon spricht, im Schützengraben gezeichnet zu haben. Hier mussten es Worte richten. Sie erinnern an das, was man bei Remarque und anderen Kriegsliteraten lesen kann, sind aber doch grundverschieden, denn hier schreibt ein Flame über seine Zeit in der belgischen Armee. Die erscheint in keinem guten Licht, wie sich nicht nur an der Behandlung der flämischen Soldaten durch die frankophonen Offiziere zeigt.

Logik des Schlachtfeldes. Der Zufall und der Tod spielen gemeinsam Schach.

Stefan Hermans: Krieg und Terpentin

Urbain Martien überlebt den Krieg, er wird mehrfach schwer verwundet und ausgezeichnet, anders als seine wallonischen Kameraden aber nicht zum Offizier befördert. Eine lebenslang nachwirkende Herabsetzung, nicht die einzige für die flämischen Soldaten. Seine Genesungsaufenthalte, unter anderem in England, sind verwaschene Flecke in der Biographie, aus dem unscharfen Bild schält sich die grotesk erscheinende Sehnsucht nach dem Graben und den Kameraden heraus. Der Krieg zerrüttet Mensch und Land. Hertmans bereist die Schlachtfelder, jene Orte, an denen sein Großvater gekämpft hat. Die Spuren sind verschwunden, es hat den Anschein, als ob die Gegenwart in einem ganz anderen Land angesiedelt wäre. Eine Scheinwelt, denn als der autofiktionale Roman 2013 erschien, konnte man noch wähnen, der Krieg wäre überwunden. Ein Jahr später machte Putins Russland den Irrtum offenkundig, was viele bis 2022 ignorierten. Der Krieg war nur verborgen, aber nie weg.

Stefan Hermans: Krieg und Terpentin
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Diogenes 2018
Taschenbuch 416 Seiten
ISBN: 978-3-257-24431-1

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Was für eine Drohung. Sie kommt für den Ich-Erzähler ebenso überraschend wie für den Leser. Sie erscheint im ersten Moment seltsam, gemessen am Anlass und dem Erzählstil, doch ist Erinnern und Erinnertwerden nicht immer erwünscht. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Ich verstoße dich, hörst du.

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Wenn diese Worte gesagt werden, ist die Handlung des Romans Der Junge im Taxi schon so weit vorangeschritten, dass sie eine ganz besondere Wucht entfalten. Jemanden zu verstoßen ist keine leichtfertige Drohung. Ob im familiären oder gesellschaftlichen Kontext beinhaltet sie eine gefährliche Implikation: Wer sein soziales Netz verliert, könnte daran zugrunde gehen. Es liegt etwas Archaisches in diesen Worten.

Imma, die Großmutter des Ich-Erzählers Simon, schleudert diese Worte ihrem Enkel direkt ins Gesicht. Eiskalt ist die Stimme der über neunzig Jahre alten Frau, die erst vor einem Monat zur Witwe wurde und seit dem Tode ihres Mannes Malusci wieder auflebt. In dieser Situation aber brüllt sie ihn an, empört sich, überschüttet ihn mit Zorn und schließt diese Zusammenkunft mit einer Drohung ab, um Simon zu einem Versprechen zu zwingen.

Die geradezu brutale Wucht hebt sich von allem ab, was bis dahin erzählt wird. Im ersten Moment wirkt es geradezu deplatziert, es will weder zu der Person Imma passen noch zu dem Erzählstil des Romans. Sylvain Prudhomme lässt seinen Erzähler sehr genau hinsehen, Details schildern und assoziativ auslegen. In dieses feine Erzählgespinst haut dieser Satz wie ein Kriegshammer.

Perplex ist nicht nur Simon, der sich – zunächst – fügt. Doch passt der Ausbruch zu dem, was sich zeitlich Jahrzehnte vor diesem Moment abgespielt hat, ein wahrhaftiges Verstoßen, das Imma nicht wieder aufrühren, sondern im Vergessen beerdigen will. Da zwicken vermutlich ein schambehaftetes Schuldgefühl und persönliche Verletzungen, es gibt eine Leerstelle für die unwissenden Nachgeborenen, die leer bleiben soll.

In der Leerstelle ruht nämlich M., Sohn Maluscis mit einer Deutschen, mit der er ein Verhältnis hatte, während er als französischer Besatzungssoldat in der Nähe des Bodensees stationiert war. Simon weiß davon nichts, er erfährt es von (»nennen wir ihn«) Franz, dem Mann Julies, ein Onkel also, ausgerechnet auf der Beerdigungsfeier Maluscis. Franz spielt mit dem Gedanken, es öffentlich zu machen, am Sarg den unehelichen Sohn des Verstorbenen aus dem Schatten des Verschweigens zu holen. Er erzählt es stattdessen Simon.

M. der deutsche Sohn von Malusci du weißt doch dass dein Großvater in Deutschland einen Sohn gezeugt hat damals als er am Bodensee Besatzungssoldat war einen Sohn mit einer Deutschen die ein paar Wochen lang gekannt hat das wusstest du doch oder

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi

Dieses Kapitel ist dicht erzählt, dabei reflektierend, schonend in einer fast schon skrupulösen Zurückhaltung gefasst, nur an manchen Stellen wird zugespitzt formuliert. Die innere Auflösung Simons durch Franz’ Eröffnung spiegelt sich in der Auflösung der Zeichensetzung. Das Zitat zeigt das sehr schön, die Worte stehen in einem von allen ordnenden Zeichen freien Raum. Simons Welt gerät im Kleinen aus den Fugen.

Natürlich ist seine Neugier geweckt. Warum wurde M. so beharrlich verschwiegen? Prudhomme lässt seinen Erzähler über das Schweigen nachdenken, die Überlegungen gehören für mich zu den Glanzstücken des Romans. Eine Art »Faulheit« und Bequemlichkeit verhindert, die unangenehmen Dinge anzureißen, um den äußerlichen Familienfrieden bei gemeinsamen Essen oder anderen Begegnungen zu wahren.

Dahinter verbergen sich grundsätzliche Fragen. Ist Erinnern per se gut, auch wenn es Unfrieden stiftet? Ist Verschweigen, um Frieden zu wahren, nichts anderes als (feige) Verleugnung. Die Formulierungen erinnern an die Verweigerung hierzulande, sich den Gräueltaten während des Zweiten Weltkrieges zu stellen. Als deutscher Leser kann man gar nicht anders, als an die (zu) viel gerühmte »Erinnerungskultur« zu denken.

Der Junge im Taxi widmet sich einem prekären Thema. Mehr als 400.000 Kinder wurden von alliierten Soldaten mit deutschen Frauen gezeugt, heißt es an einer Stelle im Roman. Ich weiß nicht, ob diese Zahl auch die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee einschließt, unabhängig davon ist die Stigmatisierung als »Bastard« eines fremden Soldaten in jedem einzelnen Schicksal vorgezeichnet.

Trotz seines Versprechens gegenüber Imma begibt sich Simon auf die Suche nach Spuren. Da der Roman weder Detektiv- noch Ermittlungserzählung sein will, mäandert diese Suche durch einen Alltag, der von Simons Trennung von A. und den damit verbundenen Widrigkeiten geprägt ist. An manchen Stellen scheint das Thema regelrecht hinter dem Gewöhnlichen zu verschwinden. Doch das ist ebenso nahe an der Wirklichkeit, wie der Umstand, dass eben nicht alles aufgedeckt werden kann (und muss).

Danke an den Unionsverlag für das Rezensionsexemplar.

Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Unionsverlag 2025
Gebunden 192 Seiten
ISBN: 9783293006324

T.C. Boyle: Blue Skies

Am besten hat mir der Umgang mit den Figuren im Roman gefallen, die ausnahmslos nicht für identifikatorisches Lesen taugen. Cover Hanser Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Zu den großen Stärken des Romans Blue Skies von T.C. Boyle gehört sein kommentarloser Stil, mit dem der Autor die Figuren in einer Welt agieren lässt, die von der Erderhitzung heimgesucht wird. Nur wenige Personen handeln an wenigen Orten, beim Lesen habe ich mir die Frage gestellt, ob die Handlung nicht recht einfach als Theaterstück umzusetzen wäre.

Wer identifikatorisch liest, gerät bei Blue Skies an eine fast undurchlässige Grenze, denn alle Personen sind makelbehaftet. Boyle lotet einen Teil der menschlichen Abgründe aus, nicht zuletzt den verheerenden Missbrauch von Alkohol. Das hat mir außerordentlich gut gefallen, es schafft eine begrüßenswerte Distanz zu den Figuren. In Blue Skies gibt es keine klassische Retter-Figur wie in Hollywood-Katastrophenfilmen.

Als europäischer Leser muss man mit direkten Übertragungen vorsichtig sein, zumal ich den Verdacht hege, amerikanische Literatur sei gezielt auf die Lesebedürfnisse amerikanische Leser getrimmt. Gesellschaftliche Konventionen, gegenseitiger Umgang und der Life-Style der US-Gesellschaft stehen im Fokus, die Klima-Katastrophe ist eher eine aktive Kulisse. Diese wirkt auf das Leben der Romanpersonen ein, von einer konsequenten Dystopie im Stile von Cormac McCarthys Die Straße ist Blue Skies weit entfernt.

Kurios, dass alle einfach weitermachen, sich in kleinstmöglichen Teilen anpassen, ohne eine grundsätzliche Änderung der Lebensweise vorzunehmen. Man fährt mit seinem Auto durch kniehohes Meerwasser, überflutete Straßen gehören zur Normalität, ein Boot wird zum alltäglichen Mobilitätsvehikel. Und doch werden Schlangen verkauft, wird Barcadi promotet, gestritten, betrogen, gelogen als gäbe es noch abertausend Morgen. Der Topos, dass sich alle zusammenreißen und – noch märchenhafter – ein gesamtgesellschaftlicher Umschwung erfolgt, wird hier konsequent negiert. Die Menschen stecken in ihren Mustern fest.

Manche Dinge in diesem Roman wirken unausgegoren: Inmitten harscher Trockenheit und Wasserknappheit ist der Pool noch gefüllt, als gäbe es keine Verdunstung. Die Spülmaschine läuft ununterbrochen, merkwürdig bei knappem Wasser und langen Stromausfällen. Ungereimtheiten, die übertroffen werden vom Romanende, mit dem ich hadere. Ein Natur-Elysium (als Hoffnungsschimmer?), wie es kitschiger kaum sein könnte. Ausgerechnet ein Milliardär unternimmt etwas gegen die Erderhitzung, was in der garstigen Gegenwart unserer Tage wenigstens für Naserümpfen sorgt.

Trotz einiger Kritikpunkte überwiegt bei mir der positive Eindruck. Ich habe das Buch teilweise gehört und auf Deutsch sowie im Original gelesen. Der Hörbuch-Vortrag war mir zu schnodderig, die Ironie und Komik, die Boyle in sein Erzählen eingeflochten hat, wurden so übergebügelt. Ob ich die im Original ausreichend wahrgenommen hätte, sei einmal dahingestellt.

T.C. Boyle: Blue Skies
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Hanser Verlag 2023
Gebunden 400 Seiten
ISBN 978-3-446-27689-5

Lesevorhaben 12 für 2025

Diese zwölf Bücher möchte ich im laufenden Jahr lesen. Das ganze ist eine so genannte Challenge, auf die ich bei Instagram gestoßen bin.

Sechs Romane und sechs Sachbücher habe ich für mein Lesevorhaben 12 für 2025 ausgewählt. Der Fokus liegt ganz eindeutig auf historisch-politischen Themen, auch bei Schubert (»und seine Zeit«). Ich erhoffe mir einen weiteren Horizont nach der Lektüre, um das »Schaffen« geht es mir nicht. Meine mir im Vorjahr selbst auferlegte Buchkauf-Diät bleibt bestehen.

Thomas Medicus: Klaus Mann
Biographie, Schriftsteller, kenne alle Romane

Stephan Thome: Gott der Barbaren
Roman, Historisch, China

Friedrich Christian Delius: Die Sieben Sprachen des Schweigens
Essays, Autobiographisch, toller Autor

Thomas de Padova: Allein gegen die Schwerkraft
Biographisch, Erster Weltkrieg, Einstein

Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge
Roman, Historische Dystopie, Hitler hat den Krieg gewonnen

Stefan Hertmans: Krieg und Terpentin
Roman, Erster Weltkrieg, Perspektive belgisch-flämisch

Nino Haratischwili: Das achte Leben
Roman, Georgien, epischer Mehrgenerationenroman

Arthur Koestler: Sonnenfinsternis
Roman, Stalinismus, mein zweites Buch vom Autor

Peter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit
Biographie, Komponist, mehrere Werke gehören zu meinen Favoriten

W.B. Bartlett: King Cnut
Biographie, Wikinger, neben Claudius & William der dritte Eroberer Englands

Robert Harris: Precipice
Roman, 1914, kenne fast alles von Harris

Mischa Meier: Die Völkerwanderung
Historiographie, es gab keine »Völker«, also auch keine »Völkerwanderung«

Jonathan Coe: Bournville

Leider konnte mich der leichtfüßig und flott zu lesende Roman nicht recht überzeugen. Cover Folio-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Einen „Roman in sieben Ereignissen“ nennt Autor Jonathan Coe sein Bournville. Sieben Kapitel zuzüglich eines Prologs bilden die Ankerpunkte im Strom der Zeit, an denen die Erzählung Halt macht und etwas aus der Geschichte einer verzweigten britischen Familie berichtet, in deren Mittelpunkt Mary Lamb steht.

Los geht es jedoch in der unmittelbaren Vergangenheit, jenem Moment, in dem sich das Virus namens Corona Bahn bricht und die Welt vermittels einer Pandemie lahmlegt. Lorna, die Enkelin Marys, befindet sich auf Europatournee, die allerdings mehr einer bangen Jagd gleicht, weil die Band mit ihren Auftritten sozusagen den musikalischen Schlusspunkt vor dem Lockdown setzt.

Nach ihrer Rückkehr auf die britische Insel ermuntert Lorna ihre schweigsame und leicht tüddelige Oma zum Reden. Zum Beispiel über jenen Carl Schmidt, ein deutscher Vorfahr, den Mary 1945 in England kennengelernt hat. An diesem Punkt setzt die Erzählung ein, der Krieg gegen Deutschland geht zu Ende, Frieden und Freudenfeuer werden jedoch durch offen ausgelebte antideutsche Ressentiments getrübt, denn Carl mag zwar formal Engländer sein, wird jedoch als Deutscher angefeindet.

Bournville lässt seine Figuren in unterschiedlicher Besetzung vor dem Radio oder Fernseher sitzen und auf diese eher distanzierte Weise an zentralen Ereignissen teilhaben, der Siegesansprache des Königs etwa oder der Krönung Elisabeths II.. Überhaupt nehmen die Royals einen bemerkenswerten Raum ein, denn allein vier der sieben Ankerpunkte werden Ereignissen um sie gewidmet. Ja, darunter auch der Tod von Lady Di.

Damit beginnen die Schwierigkeiten, die ich mit diesem Roman hatte, denn das Königshaus hat mich doch sehr viel weniger angesprochen als die übrigen drei Kapitel (auch wenn ich tatsächlich die Hochzeit von Charles und Diana im TV verfolgt habe) – Kriegsende, Finale der Fußball-WM 1966 in Wembley und 75. Jahrestag des Kriegsendes. Doch auch bei diesen bleibt die Erzählung seltsam fadenscheinig, denn sie werden in den Gedanken und Gesprächen sowie Handlungen der Familienmitglieder erzählt.

Die drehen sich naturgemäß vorwiegend um eigene, persönliche Angelegenheiten, oft ist das Großereignis mehr ein ferner Lärm, ein Echo, das nicht allzu weit vordringt und an Bedeutung einbüßt. Die Frage stellt sich jedoch, warum sie dann überhaupt ausgewählt wurden? Es wirkt manchmal belanglos, beliebig und ohne zusammenhangslos nebeneinandergestellt, aber präsent genug, um dem, was aus der Familie erzählt wird, ebenfalls die Bedeutung zu rauben.

Das ist schade, denn Bournville ist munter erzählt, leicht und unterhaltsam zu lesen, es gibt eine Vielzahl einzelner Begebenheiten, die eine Menge über das verraten, was man Großbritannien nennt. Wenn etwas ein Engländer als Prince of Wales betitelt wird, stößt das bei Walisern nicht unbedingt auf Gegenliebe, woran die wenigen Brocken akzentschweren Walisisch nichts wesentlich ändern können.

Das sind die lichten Momente in dem Roman, von denen es einige gibt, die jedoch zusammenhangs- und folgenlos aufleuchten und wieder verlöschen. Viel zu selten wird es ironisch oder sarkastisch, gar nicht zu reden von schwarzem Humor, für den sich doch ein weites Spielfeld böte, nicht allein wegen der Farbe jenes Nahrungsmittels, das Anlass für einen jener hübschen, sinnlosen und mit Erbitterung ausgefochtenen europäischen Streits bietet, bei denen man sich kopfschüttelnd abwendet und ein Stoßgebet gen Himmel schickt: Schokolade.

Am Ende des Romans bleibt man seltsam irritiert zurück. Vieles wird angerissen, bleibt jedoch flüchtig, sowohl die historisch-politischen als auch die familiär-persönlichen Themen anbelangt. Da Bournville in ein ganzes Erzähluniversum eingefügt ist, mag es Lesern, die bereits die anderen Werke Coes gelesen haben, bei diesem Roman anders ergehen. Möglicherweise ist für sie das, was ich als flüchtig empfunden habe, eher ein dankbarer Weg, Wiederholungen zu vermeiden.

[Rezensionsexemplar]

Jonathan Coe: Bournville
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung, Juliane Gräbener-Müller
Folio-Verlag 2023
Hardcover 409 Seiten
SBN 978-3-85256-885-0

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